Weiter weg geht kaum. 14.000 Kilometer Luftlinie sind es von Potsdam bis in die Antarktis. Eis auf Fels, die größte Wüste der Welt, der windigste Ort auf unserem Planeten. Eine Fläche größer als Europa, aber abgesehen von ein paar Forschungsstationen menschenleer, umgeben von einem Ozean mit sehr vielen Eisschollen und sehr wenigen Schiffen. In diese Einöde will kaum jemand – außer uns. Wir sind mit dem deutschen Forschungsschiff „Polarstern“, das vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung betrieben wird, zusammen mit rund 50 internationalen Forschern aufgebrochen auf den langen Weg nach Süden. Eine Expedition an die Grenzen unserer Zivilisation, und an die Grenzen unseres Wissens.
Denn das Eis ist nicht stumm. Es hat viele Geschichten zu erzählen, wenn man es zum Reden zu bringen weiß. Wir sind einem der möglicherweise größten Dramen der Menschheitsgeschichte auf der Spur: das ewige Eis ist in Bewegung, es verliert an Masse, und das lässt in der Zukunft den Meeresspiegel steigen. Im Extremfall um viele Meter weltweit. Das dauert lange, viele hundert Jahre – aber es sind nur wenige Jahrzehnte, in denen die Menschheit derzeit dabei ist, diesen ungeheuren Prozess anzuschieben. Die globale Erwärmung – ausgelöst von Treibhausgasen aus dem Verfeuern von Kohle, Öl, Gas in unserer industrialisierten Wirtschaft – verändert auch die entlegensten Ecken des Planeten. Was aber in der Antarktis passiert, hat wegen der Auswirkungen auf den Meeresspiegel wiederum eine große Bedeutung für Hamburg, New York, Schanghai.
Wie sensibel die Eismassen sind, wie die Veränderungen wahrscheinlich ablaufen, das herauszufinden ist unsere Arbeit. Dem Eis seine Geheimnisse zu entlocken, ist mühsam. Viele hundert Forscher weltweit sind damit befasst, manche zählen bestimmte Moleküle in Bohrkernen, andere werten Satellitenaufnahmen aus. Das ist viel Arbeit. Aber es ist auch ein fantastisches wissenschaftliches Abenteuer.
Für uns besteht die Antarktis normalerweise aus Zahlen, Daten, Algorithmen. Als Mathematikerinnen am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung entwickeln wir numerische Modelle und erstellen Computersimulationen der polaren Eismassen. Testen etwa, was passieren könnte, wenn wärmeres Tiefenwasser ein Stück der schwimmenden Eisschelfe wegschmilzt, von denen der Antarktische Eisschild umgeben ist – in rasender Geschwindigkeit breitet sich dieses Störsignal bis weit ins Innere des Kontinents aus. Spannende Arbeit, die ganz modern im Büro vor dem Bildschirm stattfindet, mit milliardenfachen Berechnungen des Supercomputers im Untergeschoss unseres Instituts. Jetzt aber wollen wir selbst beitragen zum Sammeln eines kleinen Teils der Riesenmenge von Daten, mit denen wir und Fachkollegen weltweit arbeiten. Deshalb sind wir aufgebrochen, in die Antarktis.
Was wir hier untersuchen wollen ist das Leben und Sterben der Eisschollen: Über mehrere Monate hinweg wollen wir ihr Wachsen und Schmelzen aufzeichnen. Das sind vergleichsweise kleinskalige Prozesse, doch sie haben eine große Bedeutung für das lokale und globale Klima. Mit sogenannten Salz- und Lichtharfen, die von Kollegen am Max-Planck-Institut für Meteorologie entwickelt wurden, können wir essentielle Daten wie Temperatur, Salzgehalt und Eisdicke ermitteln. Dazu lassen wir die Geräte in Bohrlöchern einfrieren – sie messen dann automatisch alle paar Stunden, was von der Oberfläche bis zur Unterseite einer Scholle passiert. Wenn zum Beispiel neues Eis an der Unterseite entsteht, zeichnen die Drahtpaare der Harfen das auf. Per Satellit erhalten wir diese Daten auf unsere Rechner, selbst wenn wir mit Polarstern das Südpolarmeer schon längst wieder verlassen haben.
Es ist das erste Mal, dass die Harfen im Antarktischen Meereis erprobt werden – ein bisschen dürfen wir uns also noch wie die Entdecker fühlen, die vor mehr als hundert Jahren zum ersten Mal in die Antarktis aufgebrochen sind. Wobei wir nicht in zerbrechlichen Holzschiffen fahren müssen, sondern mit dem doppelwandigen Eisbrecher Polarstern; nicht mit Hundeschlitten aufs Eis gehen, sondern mit dem Helikopter. Unsere eigentliche Arbeit ist es dann, die Messdaten zu analysieren und physikalisch einzuordnen, welche Bedeutung sie haben für Eis und Ozean in der Antarktis und darüberhinaus.
Als wir vor einigen Wochen zur Kleideranprobe in Bremerhaven beim Alfred-Wegener-Institut waren, das diese Expedition so großartig ermöglicht, war das bereits ein erster Vorgeschmack: Vom Blaumann bis zum unförmig knallorangen Überlebensanzug – wir sind buchstäblich schon einmal hineingeschlüpft in die Rolle als Polarforscher. Jetzt wird es ernst. In Kapstadt sind wir an Bord gegangen und Polarstern ist nun auf dem Weg nach Süden. Dann werden wir berichten, jedenfalls wenn wir nicht gerade seekrank sind. Berichten von uns. Vom Eis. Und vom Menschheitsrisiko Klimawandel.