Aufbruch in die Antarktis

Eine Wand aus Eis

Plötzlich taucht sie vor uns auf – eine Wand aus Eis. Beinahe senkrecht ragt sie 15 Meter aus dem dunklen Wasser. Sie reicht damit sogar bis zum Oberdeck vom Forschungsschiff Polarstern des Alfred-Wegener-Instituts, auf dem wir gemeinsam mit den anderen Wissenschaftlern  in der Antarktis unterwegs sind. Das Eis hat sich hier vom Felsbett des antarktischen Kontinents hinaus aufs Meer geschoben. Majestätisch! Der Großteil der Eisklippe vor uns liegt unter der Wasseroberfläche. Insgesamt ist die Schelfeiskante hier etwa 150 Meter dick. Es scheint, als würde sie sich nach rechts und links unendlich weit erstrecken. Doch so massiv sie auch wirkt, die Eisschelfe rund um den Kontinent gehören zu den empfindlichsten Teilen der Antarktis.

© Fotos Winkelmann/Reese„Nach den stürmischen Bedingungen südlich vom Kap der Guten Hoffnung liegt der Eisbrecher nun ganz ruhig im Wasser.“

Seit gut einer Woche sind wir nun mit Polarstern unterwegs. Kurs: immer gen Süden. Das Wetter hat sich über die letzten Tage extrem verändert. War es in Kapstadt, wo wir an Bord gegangen sind, noch knapp 30 Grad heiß, so sind Luft- und Wassertemperatur jetzt immer nahe dem Gefrierpunkt, die gefühlte Temperatur sogar bis minus 20 Grad. Nach den stürmischen Bedingungen südlich vom Kap der Guten Hoffnung liegt der Eisbrecher nun ganz ruhig im Wasser. Mit jedem Tag der Reise in den Polarsommer merken wir, dass die Sonne früher auf- und später untergeht. Und mit jedem Tag erleben wir ein neues Naturspektakel: ein blutroter Sonnenaufgang. Buckelwale, die in der Ferne vorbeiziehen. Der erste Eisberg bei 55° Süd (eher noch ein “Eiszwerg”), kurz darauf der zweite, der dritte,…

„Durch den menschengemachten Klimawandel wird das Gleichgewicht zunehmend gestört.“

Wir sind am Schelfeis angekommen. In der Atka-Bucht, dem Stück Küste vor der deutschen Forschungsstation Neumayer III. Jetzt, wo wir vor der Eiskante liegen, werden die Dimensionen der Antarktis zum ersten Mal richtig greifbar. Der Anblick erweckt Zahlen zum Leben, die wir sonst eher von unseren Computersimulationen kennen: Im Landesinneren türmt sich das Eis bis zu 4000 Meter auf. Der Eispanzer ist so massig, dass er den Meeresspiegel weltweit um mehr als 50 Meter anheben könnte, würde er komplett abschmelzen. Das würde viele Jahrhunderte dauern, aber dennoch: Es ist ein schlafender Gigant.

Ruhig liegt die Schelfkante vor uns. Keine Bewegung. Doch das täuscht. Das „ewige Eis“ ist eigentlich ständig in Bewegung. Fließt vom Landesinneren – zäh wie extrem dickflüssiger Honig – von der Schwerkraft getrieben in Richtung Ozean. Es ist ein ständiger Kreislauf: Durch Schneefall entsteht neues Eis auf dem Kontinent, an den Rändern brechen Eisberge ab, und das vergleichsweise warme Ozeanwasser schmilzt das schwimmende Schelfeis am Rande der Antarktis von unten. Eine sensible Balance. Durch den menschengemachten Klimawandel wird dieses Gleichgewicht jedoch zunehmend gestört.  Erwärmen sich die umgebende Luft und der Ozean, reagiert das Eis: Schelfe werden dünner. Gletscher beschleunigen sich, ziehen sich zurück.

© Fotos Winkelmann/Reese„Der Mensch ist eine geologische Kraft.“

Wo, wie viel, wie schnell? Das untersuchen wir mit unserem Eisschildmodell am PIK, dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Klar ist: Wenn wir – die Menschheit als Ganzes – so weitermachen wie bisher, wird der antarktische Eisschild zunehmend an Masse verlieren und dadurch der Meeresspiegel weltweit weiter ansteigen. Im Extremfall, würden wir alle noch verfügbaren Ressourcen an Gas, Kohle, Öl verbrennen, wäre das langfristig das Ende des ewigen Eises. Der Mensch ist eine geologische Kraft. So klein wir auch sind, im Vergleich zu der Eisklippe vor uns.

Schon wenn kleine Flächen der schwimmenden Eisschelfe dünner werden, kann das weitreichende Folgen haben. Eine Destabilisierung hier am Rand kann bis zu 900 Kilometer – mehr als die Strecke München-Kiel – quer durch das Schelf und bis aufs Festland ein Signal senden, das den Eisfluss verändert, wie wir in unseren Computersimulationen schon zeigen konnten. Das geschieht mit einer unglaublichen Geschwindigkeit, so schnell wie der Schall, ähnlich wie sich sonst etwa Erdbeben ausbreiten. Alle Veränderungen in den Eisschelfen zusammen können einen großen Einfluss auf den Spannungszustand an der Aufschwimmlinie der kontinentalen Eismassen haben. Das Dünnerwerden der Schelfe führt zu Eisverlust aus dem Inland. Dieser indirekte Prozess ist tatsächlich der Hauptgrund für den derzeit beobachteten Beitrag der Antarktis zum Meeresspiegelanstieg.

© Fotos Winkelmann/Reese„Die Kollegen auf der Neumayer-Station erwarten uns.“

Kalter Wind fegt über die Eisebene. Sturmvögel ziehen ihre Schleifen über uns. Auf den Schollen in der Bucht ruhen sich Adeliepinguine aus. Die Kollegen von der Neumayer-Station erwarten uns schon. Die Polarstern bringt ihnen wichtige Geräte, Nahrungsmittel, Treibstoff. Beim Entladen packen alle mit an. Auf der Station wird rund ums Jahr geforscht. Zu Fragen der Geophysik, der Meteorologie, der Luftchemie. Mitten in diese faszinierende Eiswüste führt uns jetzt auch unsere Forschung. In den nächsten Wochen werden wir tiefer ins Meereis fahren. Dort wollen wir die Prozesse an der Unterseite der Schollen untersuchen. Unsere Geräte dafür haben wir im Labor schon aufgebaut, nun müssen sie kalibriert werden. Aber das kann für den Moment warten. Das Schiffshorn ertönt – Zeit, wieder an Bord zu gehen.

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