Aufbruch in die Antarktis

Aufbruch in die Antarktis

Acht Wochen mit dem Eisbrecher Polarstern auf Expedition

Kern einer Eisscholle

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Nur ein Meter dünnes Eis. Das ist alles, was uns von den Tiefen des Ozeans trennt. Wie ein Blatt Papier wirkt die Meereis-Scholle, auf der wir im kalten Weddellmeer treiben. Die Scholle erstreckt sich fast bis zum Horizont. Eine weiße Fläche, unterbrochen nur von Eisrücken, die entstehen, wenn Schollen aneinander stoßen, und sich bis zu zwei Meter auftürmen. Zehn nautische Meilen vom Forschungseisbrecher Polarstern entfernt wurden wir hier mit dem Helikopter abgesetzt um zusammen mit Kollegen vom Alfred-Wegener-Institut die physikalischen Schnee- und Eiseigenschaften zu untersuchen. Das Ziel: besser zu verstehen, wie das antarktische Meereis wächst und schmilzt.

Das Meereis ist von zentraler Bedeutung für unser ganzes Erdsystem. Es wirkt nach oben in die Atmosphäre: Von dem Wachsen und Schrumpfen der schwimmenden Eisdecke hängt zum Beispiel ab,

© Reese/WinkelmannDie Scholle hat einen Durchmesser von mehr als einem Kilometer und ist etwa einen Meter dick.

wie viel Wärme aus dem Meer in die Luft übergeht, was die Luftströmungen verändern kann. Und es wirkt nach unten in den Ozean hinein: Denn durch den Austausch von Wärme und Salz werden auch die Wasserströmungen beeinflusst. Wir als Klimaforscherinnen wollen mehr darüber wissen, wie sich die Meereisdecke in der Wechselwirkung mit Luft und Wasser verändert – und warum. Sobald der Heli wieder abgehoben hat: Stille. Erst jetzt fällt uns auf, dass wir an Bord von Polarstern eigentlich immer von einer Geräuschkulisse umgeben sind. Das Brummen der Maschinen, das Krachen, wenn Eisschollen gebrochen werden, die Arbeit von Forschern und Besatzung auf engem Raum, all das macht Lärm. Hier hingegen ist es vollkommen ruhig. „Was hältst du von der Stelle hier?  Für den ersten Bohrkern?“  „Ja, sieht gut aus.“ Die Stelle ist flach, ohne große Schneeverwehungen und liegt mitten im Zentrum der Scholle. Ideale Bedingungen.

Jetzt gehen wir der Scholle im wahrsten Sinne des Wortes auf den Grund. Mit dem röhrenförmigen Eiskernbohrer, der speziell hierfür konstruiert ist, bohren wir von der Eisoberfläche gerade nach unten. Für den ersten Meter können wir einen kleinen Motor an den Bohrer anschließen – weiter unten brauchen wir Muskelkraft. Als der Bohrer die Unterseite der Scholle erreicht, schließen sich automatisch durch den fehlenden Widerstand im Wasser beidseitig kleine Verschlussklappen. Gleichzeitig schießt das darunterliegende Wasser ins Bohrloch hinein. Einmal eingeschlossen, können wir den Kern im Bohrer aus dem Eis ziehen – er ist knapp einen Meter lang und hat einen Durchmesser von zehn Zentimetern. Wir messen direkt der Länge nach sein Temperaturprofil. Das muss schnell gehen, denn die Temperaturen des Eisbohrkerns aus der Scholle passen sich rasch denen der Luft um uns herum an, nachdem wir ihn hochgeholt haben. So wie seine Umgebung ist der Kern generell oben kälter als unten: Während die Luft heute um die -10 Grad kalt ist, hat das Ozeanwasser an der Oberfläche nur etwa eine Temperatur von -1.8 Grad. Salz senkt den Gefrierpunkt von Wasser, deswegen ist das Ozeanwasser hier in der Antarktis auch bei Temperaturen unter Null Grad noch nicht gefroren. Gerade erst vergangene Woche haben die Ozeanographen an Bord von Polarstern eine Rekordtemperatur von -2.29 Grad in tieferen Wasserschichten gemessen. Ein historischer Wert – so niedrige Temperaturen wurden vor der Eisschelfkante nur extrem selten gemessen.

© Winkelmann/ReeseMit dem röhrenförmigen Eiskernbohrer wird von der Eisoberfläche bis zum Grund durch die Scholle gebohrt und ein Kern von etwa 10cm Durchmesser gezogen.

Manche Eisschollen überdauern mehrere Jahre, diese hier, auf der wir im Ozean treiben, ist erst im letzten Winter entstanden. Neues Meereis bildet sich häufig in sogenannten Polynyas – also dort, wo starke Winde das Eis wegschieben und eine offene Fläche auf dem Ozean schaffen. Die kalte Luft kühlt die obersten Wasserschichten ab und es entsteht neues Eis in seinen schönsten Formen. Insgesamt wird im Winter die von Meereis bedeckte Fläche in der Antarktis mehr als sechsmal so groß wie im Sommer.

Unsere Bohrkerne sägen wir in fünf Zentimeter dicke Scheiben, die wir sorgsam einzeln in Probendosen einpacken. Im Labor auf Polarstern werden wir unter anderem ihr Volumen, ihre Masse und ihren Salzgehalt messen. Die Eiskristalle im Meereis enthalten selbst kein Salz, das ist in kleinen Kanälen und Kammern als eine flüssige Sole eingeschlossen. Diese wird mit der Zeit in den darunter liegenden Ozean abgegeben – was da passiert, ist für sich genommen kleinskalig, aber insgesamt ein extrem wichtiger Prozess, der Einfluss auf die globalen Meeresströmungen hat. Denn die Dichte des unter dem Meereis liegenden Ozeanwassers steigt durch die Abgabe von Salz aus den Schollen, es sinkt zu Boden und bildet letztendlich die tiefste Schicht der Weltmeere – das antarktische Bodenwasser.

© Reese/WinkelmannEiskerne liefern wichtige Daten über die Verteilung von Salzgehalt, Dichte und Temperatur in einer Eisscholle.

Mit den Bohrkernen und Messungen der Schneedecke können wir die physikalischen Eigenschaften verschiedener Schollen hier im Weddellmeer erfassen. Momentaufnahmen, wie Puzzlestücke, die gemeinsam ein umfassendes Bild ergeben. Schon die Kerne, die wir bisher gesammelt haben, zeigen die unterschiedlichen Wachstumsstadien der Schollen. Nächste Woche starten wir hierzu ein aufregendes Forschungsprojekt: Wir werden eine Scholle mit einem neu entwickelten, autonomen Messsystem versehen – und können sie dann über Monate aus der Ferne auf ihrem Weg durch den südlichen Ozean verfolgen. Können beobachten, wie sie über die Jahreszeiten wächst und schmilzt. Auf die Messwerte sind wir schon jetzt gespannt.

Trotz der Kälte und des Salzes – im Eis gibt es Leben. Manche Kerne haben eine gelbe, grüne oder braune Unterseite, als wären sie dreckig. Das sind tatsächlich Algen. In den kleinen Salzkanälen im Eis verstecken sich unter anderem auch Miniaturkrebse; wissenschaftlich ist das längst bekannt, und doch lässt es uns immer wieder staunen, wie unter diesen extremen Bedingungen doch Leben gedeiht. Oben auf unserer Scholle ruht sich in einiger Entfernung gerade sogar eine Robbe aus. Sie scheint sich richtig wohlzufühlen. Für uns wird es aber trotz der speziellen Schutzkleidung, die wir tragen, langsam zu kalt hier. Zeit, die Arbeit zu beenden. Per Funk nehmen wir Kontakt mit Polarstern auf. Und nur ein paar Minuten später hören wir aus der Ferne schon das Surren der Hubschrauberrotoren.

Aus der Luft betrachtet wirkt unsere Scholle ganz klein – schnell können wir sie nicht mehr von den umliegenden unterscheiden. Über die antarktische Eislandschaft zu fliegen, ist unfassbar beeindruckend. Im Eiltempo ziehen Schollen mit Pinguinen vorbei, gigantische Eisberge öffnen sich nach oben, wie Amphitheater. Viel zu schnell geht der Flug vorbei. Schon taucht Polarstern am Horizont auf. Mit ihr ein Gefühl von Heimkehr, aus der kalten Weite.


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