Minus 50 Grad. Heute ist es besonders windig und dadurch die gefühlte „Windchill“ Temperatur extrem niedrig. Wir fliegen mit dem Hubschrauber trotzdem raus, gemeinsam mit Kollegen vom Alfred-Wegener-Institut. Auf eine Scholle nicht weit vom schützenden Forschungseisbrecher Polarstern, mit dem wir seit einigen Wochen hier im Südpolarmeer unterwegs sind. Im Gepäck haben wir Messinstrumente, die wir in einem Pilotprojekt hier auf einer Scholle ausbringen wollen.
Entwickelt haben die sogenannten Salz- und Lichtharfen Kollgen vom Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg. Ihr Aussehen ähnelt tatsächlich einer Harfe, mit Drahtpaaren statt Saiten. Zwischen diesen wird die Leitfähigkeit im Eis gemessen, und daraus können wir den Salzgehalt bestimmen. Die Harfen bringen wir auf der Scholle aus. Dazu bohren wir durch die Schnee- und Meereisschichten durch – die Bohrlöcher füllen sich direkt mit Meerwasser, worin wir die Harfen einfrieren lassen. Sie bleiben im Eis und senden per Satellitenverbindung über Monate hinweg die aktuelle Temperatur, die Lichtintensität und den Salzgehalt. So erhalten wir Informationen aus dem Eis – auch im antarktischen Winter, wenn die Scholle im dicken Packeis für uns längst nicht mehr erreichbar wäre.
Der Wind weht Schnee in alles, über alles. Schnell wären unsere Werkzeuge im Schnee vergraben, würden wir sie nicht direkt in den Taschen unserer Schutzkleidung verstauen. Die Bohrlöcher für das Aussetzen der Harfen offen zu halten ist mühsam. Bei der Kälte und dem Wind stellen selbst kleine Dinge uns vor neue Herausforderungen. Alles dauert länger als unter normalen Bedingungen. Mission „Schraube Festziehen mit superdicken Handschuhen“: Beinahe können wir uns einfühlen, wie es einem Astronauten bei Arbeiten an der Weltraumstation ISS ergehen muss.
Dick eingepackt ist auch die Kommunikation schwierig. Mit dem Schiff stehen wir zwar in Funkkontakt, aber untereinander können wir uns bei dem Wind oft nur per Handzeichen verständigen. Als eingespieltes Team können wir uns zum Glück voll aufeinander verlassen.
Im Akkord legen wir zunächst die Kabel aus, damit sie nicht zusammenfrieren. Schnell sind die Harfen zusammengebaut und auf der richtigen Länge positioniert, sodass wir sie in die mühsam gebohrten Löcher in der Scholle einsetzen können. Wo man eben noch die tiefe Schwärze des Ozeans sehen konnte, sind nun unsere Instrumente und die erste dünne Schicht Eis an der Oberfläche. Für die Satellitenverbindung stellen wir zwei Antennen auf, die etwas erhöht hoffentlich auch im tiefsten Winter frei von Schnee und Eis bleiben werden.

Nach fünf Stunden Arbeit: Geschafft. Nun ist der entscheidende Moment gekommen. Wir legen den Schalter an den Harfen um – ein Piepston verrät uns, dass die ersten Messdaten versendet werden. Musik in unseren Ohren.
Was die Daten bedeuten, können wir erst in einigen Monaten wissen, wenn wir längere Zeitreihen aufgezeichnet haben, die wir dann mit Modellen analysieren. Eines ist jedoch schon jetzt klar: Es wird spannend. Wenn die Scholle nicht zerbricht oder frühzeitig abschmilzt, werden wir zum ersten Mal das Wachsen und Schmelzen von Meereis in der Antarktis von unserem Büro aus am Rechner nachverfolgen können.
Für uns besonders interessant ist dabei die Abgabe der Salzsole aus den kleinen Kanälen und Kammern im Eis an das darunterliegende Ozeanwasser. Dieser recht kleinskalige Prozess ist tatsächlich von Bedeutung für das gesamte Erdklima, denn durch ihn ist die Bildung antarktischen Bodenwassers möglich. Es ist wie ein Herz der globalen Ozeanzirkulation. Denn von hier aus wird das Bodenwasser in Richtung Norden gepumpt und das globale Förderband mit angetrieben, zu dem auch der nördliche Ausläufer des Golfstroms gehört, der unser Wetter in Europa maßgeblich mitbestimmt. Die thermohaline Zirkulation – also die von Unterschieden in Temperatur und Salzgehalt angetriebene große Umwälzung im Ozean – verteilt Nährstoffe und Wärme und transportiert zudem CO2 in die Tiefe, wodurch der Ozean zu einer wichtigen CO2-Senke wird.

Mit unseren Messinstrumenten können wir diese großskaligen Prozesse natürlich nicht aufzeichnen. Aber wir bekommen einen Einblick in die Physik, die dahintersteckt – weit über einen einzelnen Messzeitpunkt hinaus, und in einer Region, die für uns Menschen nur schwer erreichbar ist. Wegen der ganzjährigen Meereisbedeckung im Weddell-Meer können wir die Instrumente zur Untersuchung dieser wichtigen Prozesse nur von einem Eisbrecher wie der Polarstern ausbringen.
Kurz vor der Dämmerung sind wir wieder zurück an Bord – nach getaner Arbeit werden wir mit einem spektakulären Sonnenuntergang belohnt. Noch vor wenigen Tagen hatten wir 24 Stunden Sonnenlicht – heute Nacht wird es für sechs Stunden dunkel sein. Der antarktische Sommer neigt sich dem Ende zu, und wir fahren von jetzt an Richtung Norden weiter. Raus aus dem Eis. Unsere Harfen bleiben zurück und spielen weiter ihre Musik.