Vielleicht habe ich unlängst nicht deutlich genug gemacht, was die Geschichte der Beschneidung im antiken Judentum für die aktuelle Debatte nun ‘positiv‘ bedeuten könnte. Eines sollte aber deutlich geworden sein: Eine simple Gegenüberstellung von Innen und Außen, Widerstand und Druck, die Juden und die Umwelt verfehlt die Komplexität der Dinge. Denn auch innerjüdisch gab es eben stark differierende Positionen und gab es zugleich Dynamiken, die von „außen“ stark beeinflußt waren – nach dem Makkabäeraufstand und der Bar-Kochbah-Katastrophe in die Richtung eines Festhaltens an der Säuglingsbeschneidung als einem Kern der Gesetzesobservanz und des Bundesgedankens. Es erscheint mir allerdings nicht geboten, von außen in einem solchen innerreligiösen und innerkulturellen Disput Partei zu ergreifen und etwa zu sagen, es sei besser, wenn sich eine bestimmte Richtung durchsetze, die zum Beispiel die Beschneidung aus der Perspektive einer kritischen Historisierung für nicht-essenziell hält – ein Argument, das sich bekanntlich auch gegen das Zölibat in der Katholischen Kirche oder gegen viele dominierende Ansichten im gegenwärtigen Islam in Anspruch nehmen ließe. Nietzsche hat in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben das Argument treffend zugespitzt (wenn auch wohl nicht in erster Linie mit Blick auf Religionen):
„Mitunter aber verlangt eben dasselbe Leben, das die Vergessenheit braucht, die zeitweilige Vernichtung dieser Vergessenheit; dann soll es eben gerade klar werden, wie ungerecht die Existenz irgend eines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient. Dann wird seine Vergangenheit kritisch betrachtet, dann greift man mit dem Messer an seine Wurzeln, dann schreitet man grausam über alle Pietäten hinweg. (…) (Aber) da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind, sind wir auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen; es ist nicht möglich sich ganz von dieser Kette zu lösen. Wenn wir jene Verirrungen verurtheilen und uns ihrer für enthoben erachten, so ist die Thatsache nicht beseitigt, dass wir aus ihnen herstammen. Wir bringen es im besten Falle zu einem Widerstreite der ererbten, angestammten Natur und unserer Erkenntniss, auch wohl zu einem Kampfe einer neuen strengen Zucht gegen das von Alters her Angezogne und Angeborne, wir pflanzen eine neue Gewöhnung, einen neuen Instinct, eine zweite Natur an, so dass die erste Natur abdorrt. Es ist ein Versuch, sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt – immer ein gefährlicher Versuch, weil es so schwer ist eine Grenze im Verneinen des Vergangenen zu finden.“
Gegen einen solchen kritischen Umgang mit Geschichte ist an sich gar nichts zu sagen. Aber Aufklärung sollte meines Erachtens in erster Linie Selbstaufklärung sein. Gegenüber Anderen („Nun holt endlich unsere Aufklärung nach!“) wirkt sie leicht pharisäerhaft.
Allerdings bietet der innerjüdische Beschneidungsdiskurs nun in der Tat interessante Varianten. Eine fand ich in den Jüdischen Altertümern des Flavius Josephus, die in der Übersetzung von Heinrich Clementz im Marixverlag wieder preiswert greifbar sind. Josephus berichtet (20,2,1ff.) von Izates, im 1. Jahrhundert n.Chr. Herrscher in der Adiabene (um die Stadt Arbela in Assyrien). Dieser neigte zusammen mit seiner Mutter Helena dem Judentum zu. Josephus berichtet:
„Sobald Izates erfuhr, wie sehr seine Mutter den jüdischen Gebräuchen zugetan sei, wollte auch er selbst sich vollständig dazu bekennen, und da er sich für keinen rechten und vollkommenen Juden hielt, wenn er sich nicht beschneiden ließe, war er auch hierzu bereit. Seine Mutter aber, der dies zu Ohren kam, suchte ihn von seinem Vorhaben abzubringen, indem sie ihm zu bedenken gab, in wie große Gefahr er dadurch geraten würde. Es müsse ja bei seinen Untertanen lebhaften Unwillen erregen, wenn sie vernähmen, daß er sich zu fremden und ihnen ganz widerwärtigen Gebräuchen bekenne, und sie würden gewiß nicht zugeben, daß ein echter Jude über sie herrsche. Durch solche Vorstellungen suchte sie ihm seine Absicht zu verleiden. Izates aber teilte ihre Äußerungen dem Ananias (einem jüdischen Kaufmann und lt. Jos. Werber für das Judentum – ‘Proselytenmacher‘ – U.W.) mit, der wider Erwarten die Ansicht der Helena billigte und ihm zugleich ankündigte, er werde seinen Hof verlassen, wenn er nicht gehorche. Er, Ananias, müsse ja selbst Gefahr für sein Leben befürchten, wenn die Sache in die Öffentlichkeit käme, weil man ihm dann gleich den Vorwurf machen würde, den König dazu verleitet und ihn in solchen, ihm so wenig anstehenden Dingen unterwiesen zu haben. Izates, fuhr er fort, könne Gott auch ohne Beschneidung verehren, wenn er nur die gottesdienstlichen Gebräuche der Juden befolgen wolle, die viel wichtiger als die Beschneidung seien. Dann fügte er noch hinzu, Gott selbst werde ihm wohl gern nachsehen, daß er von der Beschneidung Abstand nehme, weil er sich in einer Zwangslage befinde und Rücksicht auf seine Untertanen nehmen müsse. Durch diese Worte ließ der König sich einstweilen bereden. Einige Zeit nachher aber machte ein aus Galiläa gekommener Jude mit Namen Eleazar, der für besonders gesetzeskundig galt, sein Verlangen nach der Beschneidung wieder rege. Als dieser nämlich beim Könige Einlaß erlangt hatte und ihn bei der Lesung des moysaischen Gesetzes antraf, sprach er zu ihm: »Du weißt nicht, o König, wie sehr du dich gegen das Gesetz und demnach auch gegen Gott verfehlst. Es ist nämlich nicht genug, das Gesetz zu lesen, sondern du mußt auch alle seine Vorschriften befolgen. Wie lange willst du denn noch ohne Beschneidung bleiben? Hast du die Bestimmungen über dieselbe noch nicht gelesen, so tu das gleich, damit du einsiehst, wie weit du noch von wahrer Frömmigkeit entfernt bist.« Als der König ihn so reden hörte, war er sogleich entschlossen, nicht länger zu säumen. Er begab sich daher in ein anderes Gemach und ließ durch einen Arzt die Vorschrift des Gesetzes an sich vollziehen, worauf er seine Mutter und seinen Lehrer Ananias rufen ließ und ihnen mitteilte, was er getan habe. Diese ängstigten sich hierüber beide nicht wenig und fürchteten, der König möchte, sobald die Sache ruchbar würde, Gefahr laufen, seinen Thron zu verlieren, weil die Untertanen gewiß keinen Herrscher über sich dulden würden, der ausländische Sitten angenommen habe. Obendrein beschlich sie auch noch die Besorgnis, sie möchten als der Urheberschaft verdächtig in gleiche Gefahr geraten. Gott aber ließ ihre Befürchtungen sich nicht verwirklichen. Denn aus all den Gefahren, in denen Izates schwebte, rettete er ihn und seine Kinder, indem er ihnen, als sie schon fast verzweifelten, den Weg zum Heile wies und ihnen zeigte, daß die, welche zu Gott aufschauen und auf ihn allein ihr Vertrauen setzen, den Lohn ihrer Frömmigkeit sicher erwarten dürfen. Doch hiervon später.“
Differenzen in der Auslegung des Gesetzes in einer so zentralen Frage, Beschneidung durch einen Arzt – die innerjüdische Diskussion könnte noch spannend werden.
postscriptum in eigener Sache: Dies ist der 244. und zugleich letzte Eintrag an dieser Stelle. Die Redaktion hat mich soeben informiert, daß „Antike und Abendland“ zum Monatsende eingestellt wird.