Von einem Kollegen kam kürzlich per E-mail die Nachricht, daß Frank W. Walbank gestorben ist, fast 100 Jahre alt. Wer den britischen Althistoriker persönlich kannte, pries die Ausstrahlung, die von ihm ausging. Walbank lehrte lange Jahre in Liverpool; den Ruhestand verbrachte er mit rastloser Arbeit in Cambridge. Er war einer der besten Kenner Griechenlands und Makedoniens im Hellenismus, wirkte maßgeblich an der „History of Macedonia“ und der „Cambridge Ancient History“ mit. Sein Hauptbeitrag zur Wissenschaft ist jedoch der zwischen 1957 und 1979 in drei Bänden vorgelegte „Historical Commentary on Polybius“, den Geschichtsschreiber des Zeitalters der imperialen Globalisierung unter römischen Vorzeichen.
2009 ist auch das Jahr der hundertsten Wiederkehr des Geburtstages von Alfred Heuss und Hermann Bengtson, zwei anderen Gelehrten, die sich mit dem Hellenismus befaßt haben (obgleich Heuss sich zu Recht immer dagegen gewehrt hat, als Hellenismusforscher zu gelten). Beide waren Antipoden im stärksten Wortsinn, der eine hat die Habilitationsschrift des anderen in einer Rezension geradezu vernichtet, dieser hat später einen Schüler beauftragt, die Habilitationsschrift von jenem durch eine eigene Studie zu widerlegen. Beide unternahmen ihren Start in den akademischen Lehrberuf während des Nationalsozialismus, was sie dazu veranlaßte, dem Erwarteten Genüge zu tun – nach Art und Ausmaß indes ungleich. Beide stiegen nach dem Krieg – wiederum in sehr verschiedener Weise – zu führenden Gestalten ihres Faches auf. Äußere Gemeinsamkeiten bei völlig differierenden intellektuellen Profilen, dazu noch das gleiche Geburtsjahr – diese beiden Biographien als parallele zu schreiben liegt hier mehr als nahe.
Doch was veranlaßt überhaupt dazu, sich aus Anlaß des Hundersten an einen Gelehrten, ja überhaupt eine Persönlichkeit oder ein Ereignis zu erinnern? Die Memorialpraxis der Antike und des Mittelalters war eine ganz andere, es gab kultische Feste für einen Gründerheros oder einen vergöttlichten Kaiser im Jahresrhythmus oder es wurden Messen gelesen. Im Gegensatz zum Anniversarium ist das Jubiläum als historisches Erinnerungsfest über eine größere Zeitdistanz also eine neuere Erscheinung. Auch vom jüdischen Jobel-Jahr oder dem katholischen Gnadenjahr oder Heiligen Jahr führt keine direkte Linie zum „runden“ Jubiläum. Erst mußten sich – nach dem Vorpreschen des Matthias Flacius Illyricus mit seiner verbreiteten kirchengeschichtlichen Chronik „Magdeburger Centurien“ – abstrakte Zeitrechnung und Dezimalsystem im allgemeinen Bewußtsein durchsetzen. Erst „seit dem ende des 17. jahrh. ist es vollständig durchgedrungen: ein jahrhundert est seculum, menschenalter, zeit von hundert jahren“, so das Grimm’sche Wörterbuch. Moderne Säkularfeiern fanden erstmals 1700 statt, und die runde Zahl siegte über die chronographische Logik (es gab kein Jahr Null, das dritte Millennium begann am 1. Jan. 2001, nicht 2000). Das Hundertjahr-Jubiläum war eine Erfindung der Protestanten; das Jahr 1617 nannte eine zeitgenössische Jubelschrift „gleichsam natalitius unser reformirten Evangelischen Religion“; Reformationstag und Reformationsjubiläum standen hinfort nebeneinander. Auch die spätere Erweiterung auf Schlachten, Erklärungen und Befreiungstage behielt den Bezug auf die christliche Liturgie bei, was nicht überrascht, diente diese doch der Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte.
Auch wenn heute niemand mehr der Magie der runden Zahl erliegen dürfte, hat das so strukturierte Gedenken doch seinen Sinn. Natürlich drohen immer Erstarrung und Routine, und kaum ein Teilnehmer einer Ranke-Gedächtnisfeier wird auch nur einen Teil der 63 Bände Werke gelesen haben. Aber Unternehmen, Gemeinwesen, Universitäten oder Wissenschaften bedürfen der Selbstvergewisserung im Modus der monumentalischen Historie. Konsense müssen immer wieder formuliert werden, um bewahrt und weiterentwickelt werden zu können, und nicht selten wird die (begrenzte) öffentliche Aufmerksamkeit ja auch genutzt, um gegen den Konsens anzugehen, ihn kritisch zu durchleuchten und so neue Perspektiven aufzuzeigen. Außerdem geht es um Bildung, denn Daten setzen Marken und Erinnerung braucht äußere Struktur. Natürlich kann man sagen, ein verstorbener Wissenschaftler sei mit Recht so lebendig, wie seine Werke gelesen werden oder, um noch einmal zum Anfang zurückzukommen: wie häufig und nutzbringend der Polybios-Kommentar benutzt wird. Aber es gibt auch Gedanken und Bücher, die es wiederzuentdecken oder zu verabschieden lohnt, und da kann das Jubiläum helfen. Also 2009: Vorarbeiten für eine Synkrisis von Hermann Bengtson und Alfred Heuss gibt es schon; wie und warum Golo Mann einer der wirkmächtigen öffentlichen Intellektuellen der alten Bundesrepublik war, wird man den Jüngeren erzählen müssen. Ich selbst aber werde mich auch dankbar an Wilhelm Treue erinnern, den Historiker von Wirtschaft und Alltag, der mir einst durch einen guten Rat aus einer Krise im Studium geholfen hat.