Parallel zu den Ausstellungen in Karlsruhe (F.A.Z. v. 9. Jan.) und Mannheim geht die Diskussion um Raoul Schrotts Homer-Lokalisierung unter den Forschern weiter (s. mein Bericht F.A.Z. Nr. 271 v. 19.11.2008, N 5), während das Publikum der neuen, kühnen Synchronfassung der „Ilias“ aus Schrotts Feder und mit Manfred Zapatkas Stimme lauschen kann.
Ganz unabhängig davon hat sich nun auch ein englischer Gelehrter mit einer literarischen Schreibe des Themas angenommen. Robin Lane Fox ist mit Büchern über die Bibel, über Pagane und Christen in der Spätantike und über die antike Welt zwischen Homer und Hadrian einer der meistgelesenen Althistoriker in der englischsprachigen Welt. Seine Biographie Alexanders des Großen hat auch hierzulande weite Verbreitung gefunden (s. meine Rezension F.A.Z Nr. 297 v. 20.12.2004, 35), und wenn manche Kritiker diesen Erstling als Roman zu verunglimpfen suchten, so verkannten sie nur, was Lane Fox klar vor Augen stand: daß nämlich Alexander selbst durch sein Handeln und danach die antike Traditionsbildung mit der Fiktionalisierung begannen.
Das neue Buch, bisher nur auf Englisch erschienen (2008 bei Allan Lane, dem Hardcover-Label von Penguin, 514 S., Richtpreis 25,- englische Pfund, bei amazon.co.uk 17,50 Pfund), trägt den Titel „Travelling Heroes. Greeks and Their Myths in the Epic Age of Homer“. Der Untertitel ist ernstzunehmen: kein Buch über Homer (obwohl er natürlich prominent vorkommt), keines über den Troianischen Krieg, keines auch über Kilikien (obgleich auch dieses eine Rolle spielt). Lane Fox verfolgt eine Spur von Reisen und Mythen, die im 8. Jh. v.Chr. von Griechen gelegt wurde – und zugleich eine Art des Denkens die Welt Verstehens. Reisen und Mythen laufen parallel zu den Epen Homers und werfen ein neues, kontrastierendes Licht. Diese zweite Welt hat Euboia als realen geographischen Sitz. „Their trial of myths contrasts repeatidly with the horizon of Homer’s epics.“ Es geht um eine Reise mit einem Nachklang, wie ihn Tiglath Pilesers Streitwagen niemals erreichten. Die Euböer kannten Länder, Kulturen und Sprachen, auf die sich Homer nur am Rande bezog, so Zypern, Kilikien oder Nordsyrien. Und Geschichten: von der Weltschöpfung, von der Kastration des Kronos durch Zeus, den Kämpfen gg. die Giganten. Lane Fox verdankt Martin West, der die maßgeblichen Kommentare zu Hesiods Epen geschrieben hat, unendlich viel, folgt ihm aber nur teilweise. Er datiert Homer wieder früher, ins 8. Jh. (meines Erachtens zu Recht), und er hält die Traditionen mündlicher Dichtung für wichtiger als die Komposition mit Hilfe der Schrift. Wo motivische Parallelen und Namensähnlichkeiten zu vorderorientalischen Texten greifbar sind, deuten sie auf eine sehr viel frühere Injektion in die mündliche Traditionsbildung, geschehen auf Zypern, Kreta und von dort gewandert nach Delphi, von dort zu Hesiod. Und wenn Zeus, Hades und Poseidon um die Teile der Welt losen, ist das keine Übernahme aus dem Orient, sondern aus der griechischen Lebenswelt d. Dichters. Ähnlich bei den Volksversammlungen: „The Homeric imagination of the supranatural arises from earthly Greek society, as experienced in a largely pre-literate age.“ Lane Fox ficht wider den modischen Gestus der Verfremdung, in einem zweifachen Sinn. Er stellt diese Welt dem Leser als fern und zugänglich zugleich dar. Schmerzen und Gestank waren allgegenwärtig, aber dagegen gab es Drogen und wohlriechende Öle; kein Zucker, aber Honig, kein Klavier und doch allgegenwärtige Klänge von Musik. In der Liebe zu Pferden weiß sich der bekennende Hippologe und praktizierende Reiter Lane Fox den Helden der Dark Ages schließlich sehr nahe. Und zweitens: Die Phöniker waren unendlich wichtig, weil sie die Routen bahnten, die Ost-West-Achse von Khorsabad nach Cadiz. Aber Lane Fox‘ Griechen sind eben Griechen, weit herumgekommen zwar und Teilhaber an einer alten nachbronzezeitlichen Koinê, aber in der letzten Stufe doch Schöpfer von etwas ganz Eigenem. „Die großen griechischen Dichter des 8. Jahrhundert schuldeten zeitgenössischen nahöstlichen Texten gar nichts.“ Ähnliche Erfahrungen durch Migration, Handel und politische Organisation führten zu ähnlichen Weisen, die Welt anzusehen und zu gestalten, ob in Jerusalem, Euboia oder Unteritalien. „Neither culture derived it from the other. It was not orientalizing. It was a parallel way of making sense of the eight century.“
Ich bin noch nicht zuende mit der Lektüre. Das Buch stößt, so viel läßt sich aber jetzt schon sagen, in Lücken der bisherigen Diskussion. Zeitlich gesehen konzentriert es sich auf das 9. und 8. Jahrhundert, während aktuell eher extreme Daten im Umlauf sind: beim Korfmann-Latacz-Modell die späte Bronzezeit des angeblichen Troianischen Krieges (12. Jahrhundert), bei Schrott und West das 7. Jahrhundert des spätassyrischen Reiches. Lane Fox spannt den Bogen viel weiter, weil die ‘wandernden Helden‘ und ihre Geschichten eben auch den Westen erreichten, und er erkennt zugleich in bester klassizistischer Tradition im Mutterland wieder das kreative Zentrum. Schließlich nimmt er Herodots Satz ernst, wonach Homer und Hesiod den Hellenen ihre Götter gegeben haben, und er ergänzt ihn mit dem Hinweis, daß diese Götter und ihre Geschichten keineswegs deckungsgleich waren. Jenseits aller Unsicherheiten in der Sache: Nach den recht missionarisch daherkommenden Büchern der hiesigen Troiadebatten nimmt auch die nüchtern-präzise und gerade dadurch ungemein suggestive Prosa für Lane Fox ein.