Einige Zuhörerinnen und Zuhörern im Hörsaal 1 der Bielefelder Universität muß am Donnerstagabend der Grimm gepackt haben. Ruhig, mit eher leiser Stimme und einiger – etwas weniger leiser – Ironie räumte Götz Aly im Allerheiligsten ihres geheiligten Forschungstempels auf. Nichts blieb übrig vom romantisch verklärten angeblichen Aufbruch in eine bessere Welt. Aly rief in Erinnerung, was die sogenannte Studentenrevolte seit 1967 tatsächlich ausmachte: die überbordende Kampf- und Gewaltrhetorik, die heute unerträgliche Prosa der Flugblätter und der massenhaft verkauften rororo-aktuell-Pamphlete, die antisemitische Grundierung der Linksradikalen, die Vertreibung liberaler Professoren vom Katheder. 1968 als Beginn einer wirklichen „Aufarbeitung“ der NS-Vergangenheit, als Aufbegehren gegen das autoritäre Schweigen der Väter? Das Gegenteil war der Fall. Rudi Dutschke hielt den Kampf gegen den Vietnamkrieg für wichtiger als eine Auseinandersetzung mit den konkreten Verbrechen von Deutschen im Zweiten Weltkrieg. Der Nationalsozialismus wurde verharmlost, indem man ihn zum Faschismus erklärte und als Spielart des Monopolkapitalismus identifizierte, der sich gerade in Südostasien, Südamerika und sonstwo austobe: USA – SA – SS. Das Unbehagen einer Zuhörerin an einer Kapitelüberschrift „Machtergreifung“ in Aly Buch bot dem Autor eine Steilvorlage: Dutschke selbst hatte von einer Machtergreifung in Berlin gesprochen. Erstaunt es da, daß seinerzeit nicht wenige der zurückgekehrten Emigranten – oft nach anfänglicher Zustimmung – bald den Eindruck gewannen, das, was geschah, und die Art, wie geredet wurde, schon einmal erlebt zu haben?
Aly gelang es auch, gegen die zuletzt so modischen, in Wirklichkeit aber nur ermüdenden theoretischen und kritischen Spreizungen die schlagende Richtigkeit eines erfahrungsgeschichtlichen Generationenmodell aufzuweisen. Die Eltern der 68er wuchsen überwiegend als junge Erwachsene in das sich jugendlich gebende NS-Regime hinein und hatten sehr viele Gelegenheiten, schuldig zu werden, und sie gaben von Habitus und Sprechweise viel an ihre Kinder weiter. Sehr viel besser traf es die Gruppe, die Aly – für viele gewiß auch dies eine Provokation – als „Generation Kohl“ bezeichnete und aus der die heimlichen Helden seines Vortrages hervorgingen: Sie hatten das Grauen des Krieges noch gesehen, ohne selbst verstrickt zu sein, und ihre Eltern hatten sich in besseren Zeiten selbst formen können, in der Weimarer Republik oder noch in den Friedensjahren des Kaiserreiches – so vermochten sie an die nächste Generation die Werte eines demokratischen Rechtsstaates weiterzugeben.
Eine spannende Frage wurde in der Diskussion erörtert: warum gerade nach vierzig Jahren ein solcher Aufriß über eine „Bewegung“, die nur etwa 200.000 Menschen mehr oder weniger erfaßte und der Nachwelt so aparte Dinge wie schlechte Umgangsformen und die Gruppenuniversität hinterlassen hat? Geht man weit zurück, so kann einem assoziativ Herodot einfallen. Dieser machte sich knapp dreißig Jahre nach dem großen Perserkrieg – man lebte damals nicht so lange wie heute – daran, am kritischen Punkt der Erinnerung und des sozialen Gedächtnisses dieses Initialereignis griechischer Identitätsbildung zu retten. Was passiert? Die unmittelbaren Zeitzeugen kommen in ein Alter, in dem sie gewärtigen müssen, bald zu verstummen. Zugleich ist ihre Erinnerung und die der politischen Gemeinschaften, in denen sie leben, gerade dabei, das mit der eigenen kraftvollen Jugend zusammenfallende Kollektivereignis zu verklären und alle Schatten und Peinlichkeiten zu vergessen. Was davor war, verschwindet im Vorraum des ‘Noch nicht‘. Es beginnt eine Kanonisierung, es prägen sich Bilder und Worte ein, die für das Ganze zu stehen haben. Und für die Gegenwart werden eine Deutungshoheit gefordert und Machtansprüche gestellt, die aus den eigenen Verdiensten „damals“ erwachsen sein sollen. Hier nun tritt der Geschichtsschreiber auf. Er sammelt alles, was erinnert wird und zu erfahren ist und fügt es zu einem großen Panorama zusammen. Dieses hat zeitlich Tiefenschärfe, indem die Vorgeschichten erzählt werden, es differenziert, indem Leistungen gerühmt werden, aber Versagen nicht unerwähnt bleibt, es warnt, indem es Parallelen zwischen dem Handeln der Perser von gestern und dem Handeln der Athener von heute aufzeigt: Beide sahen die Welt als Objekt von Wille und Vorstellung und glaubten daher, alles zu können oder zumindest besser zu machen als die anderen.
Es hat lange gedauert, bis die herodoteische Art und Weise, Erinnerung ernstzunehmen, ohne sie aus emphatischer Zustimmung heraus zu verklären, gegen die kalte schmittianische Handlungslogik des Thukydides wieder an Boden gewann. Die öffentliche Aufweisung der Historie, wie sie Herodot mit seinen Lesungen in Athen und Korinth begann, hat jedenfalls im Hörsaal 1 der Universität Bielefeld ihren guten Sinn erneut bewiesen. Vielleicht hat der Abend ja auch manchen bewegen können, sich seine Meinung über Alys Buch nicht nur aus den Rezensionen der nachgeborenen, gleichwohl mitsiegenden Avantgarde zu bilden, sondern das Buch selbst zu lesen. Es hat nur etwa 250 Seiten. Und es kommen viele Menschen und ihre Geschichte in ihm vor. Und zu vergleichen meint nicht dasselbe wie gleichzusetzen