Antike und Abendland

Antike und Abendland

Tagesaktualität, wie sie sich mit einem Blog verbindet, und Antike – das scheint nicht zusammenzugehen. Dennoch soll hier der Versuch gewagt

Über diese Brücken kannst du gehen – Kommentieren von Texten gestern und heute

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Das eben erschienene Heft 1/2009 der „Zeitschrift für Ideengeschichte" handelt vom Kommentieren. Die durchweg gehaltvollen und lesenswerten Artikel...

Das eben erschienene Heft 1/2009 der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ handelt vom Kommentieren. Die durchweg gehaltvollen und lesenswerten Artikel befassen sich unter anderem mit der mühsamen Anerkennung dieser Tätigkeit in der Germanistik, mit der jüdischen Tradition, in der das Kommentieren seit jeher eine überragende Rolle spielt, sowie mit den juristischen Kommentaren und der seltsamen Weisung in Loseblattsammlungen, die ältere Exegese durch die neuere, nunmehr allein gültige zu ersetzen. Die Rechtsgelehrten überspielen damit einen Widerspruch: Kommentare sind generell offene und agonale Texte, von ihrer Genese her der Mündlichkeit einer Debatte, einer Rechtsauskunft, eines Lehrvortrages oder einer Predigt geschuldet, durch die lemmatische Struktur stets unvollständig, erweiter- und angreifbar. Doch ihr Gegenstand, sofern er in den Bereich des Rechtswesens fällt, also etwa das Gesetz oder das Dekret, soll zusammen mit ihnen und durch sie zu einer eindeutigen, für die Praxis tauglichen Aussage werden. Kaiser Iustinian hat bei der Kodifikation des geltenden Rechts 533 n.Chr. das Pferd von der anderen Seite her aufgezäumt, indem er eine Sammlung vorliegender Kommentare zum autoritativen Bestandteil der Kodifikation erklärte und zugleich verbot, den nunmehr in einem geschlossenen Buch – dem Codex – versammelten Definitionen und Erklärungen weitere hinzuzufügen.
    Nur am Rande erwähnt wird im Heft die vielgestaltige Praxis des Kommentierens literarischer Texte und der Bibel von der Antike bis in die Zeit des Humanismus. Das ist schade, denn der Kommentar ist (oder war zumindest für lange Zeit) das wichtigste wissenschaftliche Genre der Philologie, die später von ihrem Gegenstand her die Klassische genannt wurde.
    Moderne Kommentare übertreffen das erläuterte Werk an Umfang meist deutlich. Ihre Autoren sind sozusagen ideale Leser, indem sie erstens stellvertretend fragen, was alles sinnvoll zu fragen ist, zweitens den Text intim kennen, sich drittens über seine Kontexte orientieren und viertens zusammentragen und kritisch würdigen, was bisher über den Text gesagt wurde. Wie komplex ein solches Unternehmen schon vor fünfhundert Jahren sein konnte, zeigt etwa der einst weitverbreitete Kommentar des Raphael Regius zu den Metamorphosen Ovids (Ovidii Metamorphosis cum luculentissimis Raphaelis Regii enarrationibus, Venedig 1493). Dieser strebte an, das lateinische Gedicht so erklären, ut reddita sibi esse Metamorphosis ipsa videatur; das Werk sollte „sich selbst zurückgegeben werden“, also vor dem geistigen Auge des Lesers in seiner ursprünglichen Form und Aussage wiedererstehen. Regius stellte die sprachlich-stilistischen Kunstmittel heraus, deren sich der Dichter bedient, und gibt Erläuterungen zum Aufbau des Epos. Keine Spur vom Streit des Neunzehnten Jahrhunderts zwischen einem ästhetischen und einem historischen Umgang mit den Texten, von dem Bodo Plachta in dem genannten ZIG-Heft berichtet. Die sachlichen Anmerkungen von Regius reichen von mythologischen Erklärungen über philosophische, historische, geographische bis hin zu naturwissenschaftlichen und astrologischen. Ovids Metamorphosen bieten, so seine Voraussetzung, eine Enzyklopädie des gesamten antiken Wissens, das der Kommentar mit enzyklopädischem und zugleich didaktischem Anspruch erschließen will.
    Den ganzen Kosmos von Besserwissen, Schulmeisterei, Gelehrsamkeit und feiner Beobachtung, wie er dieser Art von Texten eigen sein kann, bietet mindestens in grober Vorzeichnung bereits die spätantike Kommentierung von Vergils Aeneis aus der Feder eines Servius. Zum ersten Wort des Werkes – arma, Waffen – gibt es folgendes zu lesen: Warum Vergil mit diesem Wort beginne, sei unterschiedlich erklärt worden, jedoch durchweg falsch, da er diesen Einstieg offenkundig von anderswoher übernommen habe. Mit arma sei ‘Krieg‘ gemeint, es liege eine Metonymie vor, ähnlich wie wenn man toga für ‘Frieden‘ verwende, wie Cicero dies in „Es mögen die Waffen der Toga Platz machen“ gesagt habe. Einige wollten arma aber auch im Wortsinne verstehen. arma virumque – „Die Waffen und den Mann (besinge ich)“ sei auch eine Figur, weil im Werk erst die Irrfahrten des Helden, dann erst der Krieg geschildert werden. Und so weiter.
    Wie die Kommentare Brücken zum Text schlagen, so verbindet die Kommentartradition Spätantike, Mittelalter und Neuzeit miteinander. Die Geschichte dieser tausend Jahre ist zugleich eine der Kontinuität und der Innovation. Insofern sie erhalten blieben, wurden die früheren Kommentare kopiert und weiterhin benutzt, gibt es etwa von Servius einen ‘erweiterten Servius‘; es erschienen auch neue Werke, die auf ältere zurückgriffen und sie zu einer Art immerwährendem Text fortschrieben, und schließlich kamen nach Bedarf auch gänzlich neu verfaßte Kommentare zustande.
    Kommentare werden im gelehrten Betrieb der Altertumswissenschaften nach wie vor viel öfter benutzt als gewürdigt. Studierende pflegen seltsamerweise sehr oft einen hartnäckigen Widerwillen, solche Hilfsmittel zu benutzen. Das Pflichtethos, die Brücken instand zu halten und sie zu verbessern, läßt sich am ehesten an den wunderbaren „Schulausgaben mit Anmerkungen“ des Weidmann- und des Teubner-Verlags ablesen, die im Neunzehnten und frühen Zwanzigsten Jahrhundert nicht selten eine zweistellige Zahl von Auflagen erreichten, immer wieder umgearbeitet, oft nach dem Tode des ursprünglichen Bearbeiters von einem Kollegen, Schüler oder dem Sohn übernommen. So erschien die erste Kommentierung von Sallusts Catilinarischer Verschwörung in der Weidmann-Reihe 1852; ihr Verfasser, Professor am Joachimsthalschen Gymnasium zu berlin, besorgte sechs Auflagen (unten eine Seite aus der fünften Aufl. 1870), weitere vier ein Nachfolger; der letzte Bearbeiter brachte 1922 die elfte Auflage heraus (daraus die zweite Beispielseite). Die Vorworte der verschiedenen Auflagen im Zusammenhang zu lesen entfaltet einen sehr eigentümlichen Reiz: immer auf der Höhe der Zeit zu sein, voller Pietät gegen den antiken Text, im Wettstreit aber mit den früheren Erklärern und mit zum Teil ganz unterschiedlichen Vorstellungen davon, was ein Benutzer zum Verstehen benötigt.

Bild zu: Über diese Brücken kannst du gehen – Kommentieren von Texten gestern und heute Bild zu: Über diese Brücken kannst du gehen – Kommentieren von Texten gestern und heute

 

Weiterführende Literatur, soweit nicht im oben genannten ZIG-Heft erwähnt: B. Guthmüller u.a., Artikel „Kommentar“, in: Der Neue Pauly Bd. 14, Stuttgart/Weimar 2000, 1055-1066; R. Gibson, C.S. Kraus (Hgg.), The classical commentary, Leiden 2002; G.W.Most (Hg.), Commentaries – Kommentare, Göttingen 1999; M. Pade (Hg.), On Renaissance commentaries, Hildesheim 2005.


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