Am Samstag zufällige Wiederbesichtigung von „Der Club der toten Dichter„. Versuch, das Unbehagen an diesem zwanzig Jahre alten, allseits als Meisterwerk gepriesenen Film in Worte zu fassen. Die Story: An einer Internatsschule für den Elitenachwuchs in Neuengland herrscht in der Eisenhower-Ära unter den Leitbegriffen Tradition, Ehre, Disziplin und Exzellenz ein strenges Reglement. Regelverstöße bei den durchweg siebzehn, achtzehn Jahre alten Zöglingen werden gnadenlos sanktioniert, auch mit Prügel. Allein Mr. Keating, ein jüngerer, idealistischer Englischlehrer (Robin Williams), einst selbst Absolvent der Anstalt, ermutigt die Jungen mit unkonventionellen Unterrichtsmethoden, selbständig zu denken, einen anderen Standpunkt einzunehmen und eine Sprache zu finden für das, was in ihnen vorgeht. Sein Motto der Befreiung: das horazische carpe diem! Sein Medium: die amerikanische Lyrik, vor allem Walt Whitman, von dem es in „Kindlers Literaturlexikon“ freilich etwas furchterregend heißt: „In freien, rhythmischen Versen, seitenlangen Katalogen sensualistischer Bilder, in unverblümter Deutlichkeit, mit betäubtem und betäubendem Optimismus, aber ohne jeden Humor schafft Whitman sich einen Mikrokosmos um die eigene Person, auf die hin er alle Strömungen seiner Zeit konvergieren und von der er alle Hoffnungen ausgehen läßt“. Die Jungen reden Keating mit einer von Whitman auf Abraham Lincoln geprägten Wendung als „O Captain! Mein Captain!“ an und beleben den titelgebenden Geheimbund neu, dessen Aktivitäten in einer alten Indianerhöhle sich freilich harmlos auf Vorlesen und Pfeiferauchen beschränken, einmal in Anwesenheit zweier Mädchen. Die sonstigen Kollateralschäden der vitalistischen Erweckungspädagogik fallen unterschiedlich aus: Ein Schüler faßt den Mut, um ein Mädchen zu werben, und wird dafür nur von ihrem Freund verprügelt, ein anderer aber will gegen den Befehl seines unbarmherzigen Vaters Schauspieler werden, soll davon auf einer Militärschule kuriert werden und bringt sich um. Keating wird dafür zur Verantwortung gezogen und muß die Schule verlassen.
Um den geisttötenden Drill an diesem Lehrzuchthaus namens Welton zu illustrieren, muß wieder einmal der Lateinunterricht herhalten, noch dazu in einer ziemlich dummen Weise. Denn während in den „Buddenbrooks“ der fünfzehnjährige Hanno immerhin schon Ovid zu präparieren und zu rezitieren hat, werden hier zwei, drei Jahre ältere Schüler gezeigt, wie sie im Chor das Wort agricola deklinieren, eine Übung, die ins erste Halbjahr des lateinischen Elementarunterrichts gehörte. Das ist völlig absurd. In jeder Wirklichkeit stünde für Schüler dieses Lernalters Autorenlektüre auf dem Plan, und ein Drehbuchautor hätte durchaus die Option gehabt, nicht die pantheistisch-entgrenzte Lyrik Whitmans in die Mitte eines aufklärenden und befreienden Literaturunterrichts zu stellen, sondern die kunstvollen und zugleich lebensprallen, außerdem von jeder seichten Romantik freien Verse von Catull, Horaz, Properz, Tibull und Martial. Aber das wäre wider das Klischee gewesen und hätte irritiert. Schließlich war auch Dr. Specht Lehrer für die Muttersprache – in der sich bekanntlich jeder auszudrücken vermag – und auch sein Kollege Lateinlehrer eine Schießbudenfigur.
Immerhin, Mr. Mc Allister, der Lateinlehrer im „Club der toten Dichter“, ist als Person und Pädagoge einigermaßen differenziert gezeichnet. Er erkennt früh, was Keating anstrebt, und warnt ihn fürsorglich: Was passiere, wenn die geniehaft begeisterten Jungen erkennen müßten, daß sie keine Shakespeares, Rembrandts oder Mozarts werden können? Am Ende des Films ist er der einzige, der dem scheidenden Keating einen Gruß zuwirft, vom Hof der Schule aus. Denn er hat das Klassenzimmer einmal verlassen und erklärt den Schülern die sie umgebende Welt der Gegenstände in ihrer inneren Folgerichtigkeit auf Latein: lapis, der Stein; aedificium, das Gebäude. Der übergeordneten Stimmung geschuldet liegt Schnee. Wäre Frühling, hätte der Lateinlehrer wohl auch die gebändigte Natur erklärt: flora, die Blume; herba, das junge, zarte Gras, das sich seinen Weg selbst zwischen den Steinen sucht. Das wäre auch im Sinne von Walt Whitman gewesen.
Zufällig entdecke ich diesen...
Zufällig entdecke ich diesen Blog und staune. Aber ich staune glücklich.
Herzliche Grüße,
Peter
Ein sehr schönes Blog, mit...
Ein sehr schönes Blog, mit bedenkenswerten Parallelen zwischen Antike und Gegenwart.
Das Unbehagen gegenüber dem „Club der toten Dichter“ ist begründet, nicht nur aufgrund der stereotypen Disqualifizierung toter Sprachen und angeblich lebloser Bildung. Nein, der Film schlägt ja unterschwellig vor, den schlechten autoritären Führer durch den guten autoritären Führer (Oh Capatin, my Captain!) zu ersetzen – aber es bleibt Führerkult. Das ist nicht skandalös, jedoch eine ideologische Botschaft, die mit dem Freiheitsgedanken, der wohl den Kern des Films bilden soll, im Widerspruch steht. Warum müssen jungen Menschen denn auf diese Weise „erlöst“ werden, warum müssen dafür so starke Gesten her? Einfach nur normaler, sensibler Unterricht täte es doch auch. Und warum nicht in Latein?