Jetzt geht die Varus-Party richtig los. Aus Anlaß der aufwendigen („140 Komparsen, 40 Stuntmen und 100 Pferde“) neunzigminütigen Dokumentation, die am kommenden Samstag (14. März) auf Arte zu sehen sein wird (21.00 Uhr, Wh. So. 15.3., 14.00 Uhr, dann im ZDF: 22.3. und 29.3., jeweils 19.30 Uhr), finden sich in der aktuellen „Hörzu“ (Heft 11) volle drei Seiten zum antiken Thema des Jahres 2009. Dort läßt sich Alexander Demandt, sicher der als Autor produktivste Althistoriker unserer Tage, mit einer steilen These vernehmen: Hätte Varus damals gesiegt, die Geschichte Deutschlands, Europas, sogar der ganzen Welt wäre anders verlaufen. „Wären die Germanen romanisiert worden, hätte das Römische Reich noch Jahrhunderte bestehen können. Womöglich würden wir heute noch in der Spätantike leben.“ Bei einer Niederlage des Arminius wäre auch die deutsche Sprache untergegangen, hätte es keinen Goethe, keinen Schiller gegeben. Andererseits hätten sich Humanismus und Renaissance erübrigt und wären technische Fertigkeiten wie der Bau von Steinbrücken nicht in Vergessenheit geraten. Bei einem fortbestehenden Reich, ohne den Zerfall Europas in konkurrierende Nationen, wären die überseeischen Entdeckungen im 15. und 16. Jahrhundert kaum vorstellbar gewesen, da Rom kaum Interesse an maritimer Exploration gezeigt habe und bereits zu Beginn der Kaiserzeit „Anzeichen von Selbstgenügsamkeit“ aufgewiesen habe. Demandt gibt sich sicher: „Hätte das Römische Reich fortbestanden, wäre Amerika immer noch von Indianern bevölkert.“
Man möchte hoffen, daß der – durchaus mit Humor gesegnete – Berliner Emeritus einem gewiß arglosen Interviewer mit diebischer Freude einen Bären aufbinden wollte. Denn ernstnehmen kann man seine Extrapolationen nicht. Gewiß, Demandts Name verbindet sich seit „Ungeschehene Geschichte. Ein Traktat über die Frage: Was wäre geschehen, wenn …?“ (1984, seitdem drei weitere Auflagen) mit einer fundamentalen Einsicht: Historisches Geschehen ist auch immer die Auswahl aus verschiedenen Möglichkeiten. Diese in den Blick zu nehmen vermag das Handeln der Protagonisten, die ja immer in eine offene Zukunft hinein agierten, oft besser zu verstehen. Neuere Studien haben diesen Ansatz der kontrafaktischen Analyse historischer Konstellationen theoretisch vertieft. Demandt selbst weist in seinem Büchlein jedoch mit Recht darauf hin, daß alle Projektionen, die ein einziges Ereignis ändern, dann aber mit einer viele Jahrhunderte überspannenden Kontinuität der bekannten historischen Formationen rechnen, jede weitere ereignishafte Alternative zum tatsächlichen Geschehen konsequent eliminieren müssen und deshalb bis zur Absurdität unwahrscheinlich sind. Er zeigt dies am Beispiel von Arnold Toynbee: Der große Universalhistoriker und Humanist hatte sich in diesem Sinne – spielerisch – einmal einen Geschichtsschreiber vorgestellt, der in Alexandria am Hof des dreiundachtzigsten Nachfolgers Alexanders des Großen schaudernd darüber nachsinnt, was wohl passiert wäre, wenn eben dieser Alexander damals, vor 2300 Jahren, in Babylon gestorben wäre … Kirk Mitchell, ein Autor trivialer Geschichten in einer alternativen Gegenwart, nutzt die Existenz eines Römischen Reiches in unserer Zeit denn auch lediglich für einige skurrile Details seiner Romantrilogie (Procurator – Imperator – Liberator).
Doch auch auf kürzere Sicht steht Demandts Ansicht auf wackeligen Füßen. Es kann nicht einmal als sicher gelten, daß die Romanisierung ‘Germaniens‘ nach einem Sieg des Varus gelungen wäre. Gewiß, dieser Sieg hätte die Bereitschaft breiter Stammeseliten verstärkt, sich in die römische Ordnung zu fügen – Erfolg macht bekanntlich sexy. Gleichwohl waren die Bedingungen für eine rasche Anpassung durch belohnte Selbstromanisierung schlechter als in Gallien. Dort hatte es über Marseille sowie durch den Handel und die römische Provinz in Südfrankreich viel mehr Kontakte zu den ansässigen Kelten gegeben, dazu mit den sog. Oppida auch bereits urbane Strukturen. Die Germanen kannten dagegen neben der bäuerlich-dörflichen Lebensweise noch umherziehende Kriegergruppen, die man langfristig in die römische Armee hätte eingliedern müssen. Die Urbanisierung hätte bei Null begonnen. Außerdem war die Region zwischen Rhein und Elbe wirtschaftlich lange nicht so profitabel wie Spanien, Gallien oder Britannien. Um Blei, Bernstein und blonde Frauenhaarperücken zu beschaffen, bedurfte es keiner Provinz. Daß Tiberius nach 16 n.Chr. die Bemühungen um eine direkte Herrschaft über Germanien nach einem erneuten Feldzug einstellte, dürfte weit mehr mit einer nüchternen Kosten-Nutzen-Rechnung zu tun gehabt haben als mit einer Kapitulation vor dem Widerstand der Horden aus den Wäldern. Umgekehrt: Hätte Rom obsiegt, dann hätte die sicherungsintensive, aber wenig ertragreiche Region die militärische und fiskalische Überdehnung des Reiches, das von Anfang an gleichsam am Limit agierte, aber zum Glück für gut zwei Jahrhunderte keine ernsthaften Herausforderer zu fürchten und keinen Zweifrontenkrieg zu führen hatte, nur noch beschleunigt und dessen Anfälligkeit verstärkt.
Denn auch eine Grenze an der Elbe hätte die Neuformierungen, die ab dem 3. Jahrhundert n.Chr. das Reich so unter Druck setzten, nicht verhindert. Die für die sog. Völkerwanderung maßgeblichen Gruppen, die unter den Bezeichnungen Goten, Hunnen und Vandalen in die Geschichte traten, konstituierten sich allesamt außerhalb des Reiches und weit jenseits der Elbe. Und „die Germanen“ zu romanisieren, wie Demandt leicht formuliert, hätte bedeutet, weit über die Elbe hinausgreifen zu müssen und damit die Machtressourcen von Kaiser und Reich noch weit mehr zu gefährden, als dies durch die späteren Eroberungen Britanniens und Dakiens geschah – zumal es dort in Gestalt von Zinn bzw. Gold immerhin einen handgreiflichen Ertrag gab.
Auch mit der Sprache verhält es sich nicht so eindeutig, wie Demandt zu meinen scheint. Sicher, in einigen der damals romanisierten Länder basiert die heutige Nationalsprache auf dem Lateinischen, so auf der Iberischen Halbinsel und in Frankreich, aber auch in Rumänien. In Nordafrika jedoch, wo die romanische Kultur bis ins 7. Jahrhundert hinein – also über die Vandalenzeit hinweg – blühte, konnte sich am Ende keine romanische Sprache aus dem Regionallatein weiterentwickeln, und die lateinischen Wurzeln englischer Wörter gehen nur zum kleineren Teil auf die vierhundert Jahre römischer Kultur in Britannien zurück, zum größeren sekundär auf die normannische Eroberung im Mittelalter. Eine Romanisierung Germaniens hätte die ‘deutsche‘ Sprache also nur dann mit Sicherheit ausgelöscht, wenn wir uns auch die spätantiken Migrationen wegdenken. Das aber anzunehmen übersteigt die Grenzen historischer Erfahrung und Vernunft bei weitem.
Es bleibt dabei, derart weitgehende Alternativszenarien der literarischen Fiktion zu überlassen – oder der satirischen Zeit- und Vaterlandskritik, in diesem Falle natürlich Heinrich Heine (Deutschland, ein Wintermärchen, Caput XI):
Das ist der Teutoburger Wald,
Den Tacitus beschrieben,
Das ist der klassische Morast,
Wo Varus steckengeblieben.
Hier schlug ihn der Cheruskerfürst,
Der Hermann, der edle Recke;
Die deutsche Nationalität,
Die siegte in diesem Drecke.
Wenn Hermann nicht die Schlacht gewann,
Mit seinen blonden Horden,
So gäb es deutsche Freiheit nicht mehr,
Wir wären römisch geworden!
In unserem Vaterland herrschten jetzt
Nur römische Sprache und Sitten,
Vestalen gäb es in München sogar,
Die Schwaben hießen Quiriten!
(…)
Wir hätten einen Nero jetzt,
Statt Landesväter drei Dutzend.
Wir schnitten uns die Adern auf,
Den Schergen der Knechtschaft trutzend.
(…)
Gottlob! Der Hermann gewann die Schlacht,
Die Römer wurden vertrieben,
Varus mit seinen Legionen erlag,
Und wir sind Deutsche geblieben!
Wir blieben deutsch, wir sprechen deutsch,
Wie wir es gesprochen haben;
Der Esel heißt Esel, nicht asinus,
Die Schwaben blieben Schwaben.
(…)
O Hermann, dir verdanken wir das!
Drum wird dir, wie sich gebühret,
Zu Detmold ein Monument gesetzt;
Hab selber subskribieret.
Lesehinweise: Kai Brodersen (Hg.), Virtuelle Antike. Wendepunkte der Alten Geschichte. Primus-Verlag, Darmstadt 2000 / Alexander Demandt, Statt Rom. Ein historisches Gedankenspiel, in: Michael Salewski (Hg.), Was wäre wenn. Alternativ- und Parallelgeschichte: Brücken zwischen Phantasie und Wirklichkeit, Stuttgart 1999, 69-80.