Die unermüdliche Mary Beard macht in ihrem TLS-Blog auf einen kleinen, aber aufschlußreichen Mediencoup aufmerksam. 1926 fand man in Ephesos einen Grabbau mit einem weiblichen Skelett. Der Schädel wurde untersucht und vermessen, ging aber später in den Wirren des Zweiten Weltkriegs verloren. 1990 nahm die österreichische Archäologin Hilke Thür die verbliebenen Gebeine erneut unter die Lupe. Weil sie von einer jungen Frau stammten und in einem achteckigen Grab bestattet waren, dessen Grundriß an den Leuchtturm von Alexandria erinnere, könne es sich nur um die Überreste von Arsinoë handeln, der jüngeren (Halb-)Schwester Kleopatras. Diese war in den Wirren am ägyptischen Hof zeitweise zu einer Gegenkönigin aufgebaut worden; nachdem ihre Schwester sich mit Caesars Hilfe durchgesetzt hatte, lebte Arsinoë exiliert in Ephesos. Dort ließ Marcus Antonius sie i.J. 41 v.Chr., also von genau 2050 Jahren, ermorden, zweifellos auf Initiative Kleopatras.
Die Knochen wurden nun jüngst von forensischen Anthropologen der Universität Wien untersucht. Diese Disziplin zu nennen löst im Publikum sogleich einen Wiedererkennungsreflex und nahezu unbegrenztes Kompetenzvertrauen aus (ansonsten im Moment ein eher knappes Gut). Hat nicht Dr. Quincy schon in den Siebzigern aus einem Oberschenkelknochen das komplette Bild eines jungen Mannes rekonstruiert und so ein lange zurückliegendes Verbrechen aufgeklärt? Hat nicht in den Achtzigern der Spezialist in „Gorky Park“ die Gesichter zweier Mordopfer Schicht für Schicht wiederhergestellt, nachdem zuvor hungrige Maden den verwesten Schädel gereinigt hatten? Heute arbeitet man natürlich mit Computern, und wer will zweifeln, daß die Experten der CSI in ihren schicken, merkwürdigerweise immer etwas dunklen Arbeitsräumen aus einer Haarwurzel die komplette Lebensgeschichte des einstigen Besitzers rekonstruieren können, einschließlich Studienfach und Scheidungsgrund?
In Wien hat die Fiktion jetzt Konkurrenz erhalten. Das Skelett mit der Radiokarbonmethode in die Zeit zwischen 200 und 20 v.Chr. zu datieren ist ja noch unspannend. Offenbar handelte es sich um eine junge Frau von 15 bis 18 Jahren und „north African ethnicity“, die nicht unterernährt war (die Tochter einer Marktfrau wäre auch kaum in einem Prunksarkophag bestattet worden). Von diesen Resultaten und den alten Vermessungen des Schädels ausgehend hat eine forensische Anthropologin nun per Computer etwas rekonstruiert, was sich wohl als Gesicht von Kleopatras Schwester durchsetzen wird. Denn hier ist Ähnliches passiert wie bei Korfmanns Modell der großen Unterstadt von Troia: Eine lange und löchrige Indizienkette führt zu einem Schluß, den man kumulativ hypothetisch nennen muß. Das gilt schon für den ersten Schritt: vorauszusetzen, die im Oktogon bestattete Frau sei Arsinoë gewesen. Aber das Gesicht, das einen anschaut wie aus einer der virtuellen Wirklichkeiten unserer Tage – macht es die Sache nicht evident? Die Suggestion, eine spärlich dokumentierte Vergangenheit vollständig zu rekonstruieren, bediente sich einst der Rhetorik der Roman- beziehungsweise Gelehrtenprosa oder sie bediente sich im Kino eines Gesichts und einer darstellerischen Leistung – noch immer sieht Nero aus und redet wie Peter Ustinov. Die Evidenz für unsere Zeit entsteht im Laptop von Designern, die hauptberuflich ausgestorbene Riesenechsen reanimieren oder die Nullstelle im Liebesleben von einsamen jungen Männern mit Lara Croft-Phantasien in 3D auffüllen.
Wiederbelebt wird hier auch eine schon verblichen geglaubte Debatte, die sich vor zwanzig Jahren um den Vorstoß von Martin Bernal entwickelt hatte. Dieser hatte vor dem Hintergrund der Postkolonialismus-Debatte und des im Zuge der political correctness damit einhergehenden affirmativen Ethnizitäts-Diskurses vor allem in den USA – grob gesagt – der Altertumswissenschaft vorgeworfen, die orientalischen und afrikanischen Wurzeln der antiken Zivilisation systematisch zu ignorieren (Black Athena. The Afroasiatic Roots of Classical Civilization, 2 Bde., 1987/1991, Bd. 1 auch dt.; ein dritter Band erschien 2006). Weil Bernals Gegenentwurf das vorherrschende, angeblich ‘weiß-rassistische‘ Bild einfach umkehrte und zugleich die Belege dünn waren, ist die Sache bald im Sande verlaufen (vgl. M. R. Lefkowitz, G. MacLean Rogers [Hrsg.], Black Athena Revisited, 1996; auf den politischen Hintergrund in den USA fokussiert ist M. R. Lefkowitz, Not Out of Africa. How Afrocentrism became an Excuse to Teach Myth as History, 1996). In diesem Zusammenhang ist damals auch die These aufgekommen, Kleopatra könne eine Farbige gewesen sein und ethnische Merkmale einer Europäerin, einer Ägypterin und einer Schwarzafrikanerin in sich vereint haben. Allerdings sprechen alle erhaltenen Darstellungen (hier der Berliner Porträtkopf) gegen eine solche Annahme. Und selbst wenn Arsinoë tatsächlich so ausgesehen haben sollte, wie sie uns jetzt ansieht, so war ihre Mutter doch mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht die Kleopatras. Das verbietet jeden Schluß von Arsinoë auf das ethnische Profil ihrer mörderischen Schwester.
Technologie und naturwissenschaftliche Methoden sind auch in den Altertumswissenschaften mittlerweile unentbehrlich. Aber die unbestechliche Exaktheit der einzelnen Verfahren kann keine Wahrheit im großen generieren, wenn die vorgelagerten Annahmen hypothetisch sind. Unbestreitbar recht hat hingegen ein Kommentator im TLS-Blog: „Alex G, Cleopatra, Jules and now probably Caligula are such attractive melodramatic icons (like Moses and Jesus in former times) that reality and scholarly probity have nothing to do with them any longer. Like the Aliens and Batman they have their own mass cultural identities.“