Heute vor einhundert Jahren wurde Golo Mann geboren. Er gehörte seit 1958 – in diesem Jahr erschien die „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ – und dann für knapp dreißig Jahre zu den bekanntesten und einflußreichsten Intellektuellen der alten Bundesrepublik. Diese Stellung verdankte er seinem Erfolg als Geschichtsschreiber, Essayist, Kolumnist und unermüdlicher Redner. Wie es sich gehörte, rundete er sein Lebenswerk mit dem autobiographischen Werk „Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland“ (1986), postum ergänzt durch die unvollendet gebliebene Fortsetzung „Lehrjahre in Frankreich“ (1999). Ein letztes Mal wurde einem breiteren Publikum sein markanter, bei innerer Erregung immer energisch ins Schwanken versetzter Kopf durch die begleitende Dokumentation zu Heinrich Breloers „Die Manns“ in Erinnerung gerufen; die Interviewausschnitte ließen die Narben, die eine Lebenshälfte als wenig geschätzter Sohn des ‘Zauberers‘ und als Bruder von Klaus und Erika Mann hinterlassen hatte, mehr ahnen, als daß sie deutlich zu sehen gewesen wären. Im bekannten ‘Fragebogen‘ des F.A.Z.-Magazins hatte er zuvor auf die Frage, wer oder was er sein möchte, nur zu Protokoll gegeben: „Jemand, der glücklicher ist als ich“.
Mann fügte sich einerseits in die historistische Tradition der deutschen Geschichtswissenschaft, für die große Ereignisse und Persönlichkeiten sowie die Kraft des Geistigen und der Kultur das Koordinatensystem des Historischen bildeten. Er konnte glänzend schildern und gedankenreich räsonnieren, war ein Grenzgänger zwischen Literatur und Wissenschaft, dabei eher der ersten zuneigend, weil ihm der Wissenschaftscharakter von Geschichte suspekt war, dazu ein schlicht gebildeter Mensch, der auch die Zeit vor der Französischen Revolution im Blick hatte. Dieses Profil trennte ihn von den jüngeren Vertretern einer zugleich ‘kritischen‘ und betont auf wissenschaftliche Exaktheit pochenden Sozialgeschichte, die sich vom Verstehen abwandte und für ihr Erklären eine andere, eine abstraktere und technischere Sprache entwickelte oder aus der Soziologie adaptierte. Mit dem Leitwolf dieser Neuerer, Hans-Ulrich Wehler, stritt Mann Ende der siebziger Jahre über „Theorie und Erzählung in der Geschichte“, letztlich ohne Ergebnis oder Aussicht auf Verständigung. Wenn ein neuerer biographischer Essay den Untertitel „Historisierender Schriftsteller“ trägt, so war das vom Autor Horst Fuhrmann sicher als Lob gemeint – und kann doch auch als eine Ausbürgerung gelesen werden.
Von den nationalkonservativen Leitfiguren der älteren Historikergeneration wie Gerhard Ritter trennte Golo Mann andererseits, daß er sich nicht aufgefordert fühlte, die ganze deutsche Geschichte gleichsam in den Verteidigungszustand gegen ihre zwölf verheerenden Jahre zu setzen. Sein Horizont war nicht auf Staat und Krieg beschränkt; er dachte europäisch und überschaute lange Zeiträume, interessierte sich für Tatmenschen, die etwas bewegen wollten, aber auch für Skeptiker, die eine Welt, von der sie wußten, daß sie unvollkommen war, dennoch zu stabilisieren suchten, weil eine revolutionäre Zukunft nichts Gutes versprach. Eine dieser Gestalten, Friedrich von Gentz, war Gegenstand seines ersten Buches (1947). Eine späte Auswahlsammlung historischer Portraits und Skizzen trug als Titel zwei Begriffe, die in Golo Manns Sicht wohl eine historische Existenz im 20. Jahrhundert zu bestimmen vermochten: „Wissen und Trauer“ (1991). Andererseits galt gerade für die kleineren Schriften und biographischen Miniaturen, was ihr Verfasser in anderem Zusammenhang für sich feststellte: „Jede Begegnung mit vergangenem Leben ist schön.“
Die Antike, genauer: die römische Literatur bildete einen nicht unwesentlichen, wenngleich wenig beachteten Teil im geistigen Haushalt Golo Manns. In Salem gehörte Latein, von Kurt Hahn persönlich unterrichtet, zu seinen Lieblingsfächern, und auf den fürsorglichen Rat von Karl Jaspers hin absolvierte er das Erste Staatsexamen für das Lehramt in diesem Fach, um einen beruflich brauchbaren Abschluß vorweisen zu können. Die gelesenen Autoren – Cicero, Sallust, Horaz und Tacitus – begleiteten ihn das Leben hindurch. 1976 erschien in der „Neuen Rundschau“ ein „Versuch über Tacitus“. Dem in seinen Augen letzten großen Historiker Roms fühlte er sich besonders verbunden; Stilwillen, eindringliche Personenportraits und eine pessimistische Grundhaltung kennzeichneten beider Geschichtsschreibung. Dazu die sentenzenhaften Kommentare zum historischen Geschehen, die Mann besonders im „Wallenstein“ pflegte, und die szenische Verdichtung. „Agrippina, die Jüngere, Tochter des großen Germanicus“, so heißt es im Tacitus-Essay, „ist die Heldin eines schauerlichen, jedoch mit überzeugender innerer, vermutlich auch objektiver Wahrheit gestalteten Mutter-Sohn-Romanes. Daß er Szenen enthält, die an Shakespeare erinnern oder an eine Verdi-Oper nach Shakespeare, liefert kein Gegenargument; warum sollte die Wirklichkeit nicht alle Literatur übertrumpfen können? Das tut sie gern und oft.“ Wenig später erschien als kleiner Privatdruck, der Prinzessin Margaret von Hessen zugeeignet, die Übertragung von zwölf Oden des Horaz. Kommentiert hat Mann sein Bemühen in dem Essay „Über einige Erfahrungen beim Übersetzen aus klassischem Latein“ im Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (1978). Auf der Züricher Gedenkfeier für den Verstorbenen werden einige der Übersetzungen vorgetragen.
Was die Geschichte des Altertums anging, gab Golo Mann Impulse. So veranlaßte er Ernst Klett, die deutsche Ausgabe eines der wichtigsten althistorischen Bücher des Zwanzigsten Jahrhunderts zu verlegen: die Übersetzung von Ronald Symes „Die Römische Revolution“. Sie erschien 1957, und als Syme 1989 starb, widmete Mann ihm einen sensiblen Nachruf. Als Herausgeber der zehnbändigen „Propyläen Weltgeschichte“ billigte er dem Altertum volle drei Bände und den Teil eines vierten zu, viel mehr als etwa dem gesamten Mittelalter, und in Alfred Heuss gewann er einen Mitherausgeber, der diesen Teil der „PWG“ zu einem Höhepunkt im gesamten Unternehmen werden ließ. Die beiden Jahrgangsgenossen kannten einander schon länger. Als es 1953 Bemühungen gab, Golo Mann auf eine Professur in Kiel zu berufen, vertrat Heuss dort die Alte Geschichte. Unter seinen nachgelassenen, mir vorliegenden Papieren befindet sich ein Fragment der Laudationes, welche die Philosophische Fakultät seinerzeit zur Begründung der von ihr gewünschten Reihung (1. G. Mann, 2. K.D. Erdmann, 3. W. Conze) vorlegte. Dem Duktus nach könnte Heuss den Text selbst verfaßt haben. Die Würdigung Golo Manns (mit falschem Geburtsjahr 1910) ist bemerkenswert, weil hinter dessen wenig ‘zünftigem‘ Werk – nur ein Buch, und das ohne Anmerkungen – der Rang der geistigen Person klar erkannt ist. Die Berufung zerschlug sich; über die Gründe findet sich auch in Bitterlis Mann-Biographie nichts.
Einmal lieh sich Golo Mann auch antike Worte, um seinen Zorn (und seine Furcht) in eine Form zu bringen. Zwei Tage nach der Entführung Hanns Martin Schleyers erschien auf der Titelseite der „Welt“ ein Artikel unter dem Titel „Quo usque tandem?“. Wie Cicero in der Ersten Catilinarischen Rede beschwor GM die Bedrohung des Gemeinwesens durch eine Verbrecherbande. „Man befindet sich in einem Ausnahmezustand. Man befindet sich in einer grausamen und durchaus neuen Art von Bürgerkrieg. Ob die Angreifer zwölfhundert oder zwölftausend Mordbuben und Mordmädchen stark sind, ist dabei gleichgültig.“ Cicero hatte einst in Richtung auf die politische Klasse mit dem Vorwurf des Versäumnisse gedonnert: „Schon längst hätte man dich, Catilina, zur Hinrichtung abführen müssen!“ Auch GM sparte nicht mit Kritik an der Regierung, die bislang ohne die nötige Härte gegen die Terroristen vorgegangen sei, und forderte Pflichtverteidiger und Isolation für die bereits Inhaftierten. „Wir befinden uns in einem Krieg. Wir stehen zum Töten entschlossenen Feinden gegenüber.“ Was bei Cicero mit einiger Sicherheit kühl kalkuliert gewesen war, um Catilina zu isolieren und zum offenen Aufruhr zu drängen, entsprang bei GM wohl einer echten Sorge, ja Angst. Denn schon einmal hatte er es erlebt, wie ein halbwegs zivilisiertes Gemeinwesen durch die Umtriebe vergleichsweise weniger Revolutionäre in den Höllenschlund gestoßen worden war.
Hinweis: Das ebenso umfangreiche wie unübersichtlich publizierte Werk erschließt: Klaus W. Jonas, Holger R. Stunz: Golo Mann, Leben und Werk. Chronik und Bibliographie (1929-2004), 2. verbesserte und erweiterte Auflage, Wiesbaden 2004. Das Buch von Urs Bitterli: Golo Mann. Instanz und Außenseiter (Berlin 2004) ist materialreich und gut recherchiert (zur gescheiterten Berufung nach Kiel S. 141), wurde aber als buchhalterisch, flach und dem Sujet nicht angemessen kritisiert (z.B. von Andreas Kilb, F.A.Z. 24. März 2004, L 18). Tilmann Lahme bereitet eine neue Biographie vor. (Korrekturzusatz: Lahmes Buch ist eben erschienen und behandelt auch den Kieler Vorgang – Dank an die aufmerksamen Leser!)
Eine kleine Korrektur Ihres...
Eine kleine Korrektur Ihres informativen Beitrags auf die Schnelle, lieber Herr Walther: Tilman Lahmes Golo-Mann-Biographie ist soeben erschienen und ganzseitig vom Mediävisten Gustav Seibt im SZ-Feuilleton rezensiert. Für die, die jetzt zum Buchhändler stürzen wollen: Tilman Lahme, Golo Mann. Biographie. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009. 553 Seiten, 24,95 Euro.
Ein sehr schöner und...
Ein sehr schöner und anregender Text. Eine Ergänzung: Die Golo-Mann-Biographie von Tilmann Lahme liegt ganz aktuell vor (S. Fischer Verlag). Und darin findet sich auch ein quellendichtes, sehr interessantes Kapitel zu den Vorgängen um die (Nicht-)Berufung Golo Manns 1953 nach Kiel. Alfred Heuss wollte ihn wohl wirklich holen, so Lahme, aber es gab da auch üble Abwehrkämpfe, auch von politischer Seite, gegen den Emigranten Golo Mann. Eine dunkle Geschichte, wie es überhaupt im Leben Golo Manns, nach Lahmes Biographie zu schließen, viele Abgründe gab. Ein tolles Buch, absolut empfehlenswert!
Danke Ihnen fuer Ihren...
Danke Ihnen fuer Ihren wichtigen Artikel zu Golo Mann, der vom langsamen kollektiven Vergessen beschuetzt werden soll. Er wie andere Mitglieder der Familie Mann haben einen unschaetzbaren Beitrag zur deutschen Literatur und Kultur geleistet, der trotz der TM-Euphorie der letzten Jahre in seiner Vielschichtigkeit noch nicht ausreichend gewuerdigt und verstanden ist.