Antike und Abendland

Antike und Abendland

Tagesaktualität, wie sie sich mit einem Blog verbindet, und Antike – das scheint nicht zusammenzugehen. Dennoch soll hier der Versuch gewagt

Wenn in Italien die Erde bebt – eine Spurensuche von Seneca bis Alexander von Humboldt

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Sätze, die mit „Schon im Altertum gab es ..." beginnen, dienen dem Anliegen, die antike Kultur für eine anstößige, irritierende oder modellhafte Kraft...

Sätze, die mit „Schon im Altertum gab es …“ beginnen, dienen dem Anliegen, die antike Kultur für eine anstößige, irritierende oder modellhafte Kraft zu halten, in der Regel nur schlecht oder gar nicht. Wer sie ausspricht, überbügelt Differenzen und behängt seine Resignation über die angebliche Unveränderbarkeit der Dinge mit etwas Bildungslametta – von dem es aber schon immer früher mehr gab, wie wir von Opa Hoppenstedt wissen.

Das gestrige Erdbeben habe ich aber zum Anlaß genommen, meinen peinlich lückenhaften Kenntnissen über Erdbeben im antiken Italien rasch etwas aufzuhelfen. Wie leicht nachzuvollziehen ist, konzentrierten sich die antiken Schriftsteller auf solche Katastrophen, die große Städte wie Rhodos, Antiochia oder Smyrna heimsuchten. Doch die „Italische Landeskunde“ des wunderbaren Heinrich Nissen listet für die Zeit zwischen 461 v.Chr. und 394 n.Chr. immerhin fast vierzig quellenmäßig bezeugte Erdbeben in Italien auf, wobei die Nachrichten darüber oft nur deshalb in die Überlieferung gekommen sind, weil die Erschütterungen des Bodens solche anderer Art anzukündigen schienen; das gilt etwa für das Jahr 217 v.Chr., als Hannibal in Italien eingebrochen war, oder für die zahlreichen Beben in Rom im Jahr von Caesars Ermoderung. Berichtet wird auch von Tsunamis, wahrscheinlich ausgelöst von Beben des Meeresbodens; eine solche Überflutung betraf 365 n.Chr. auch Sizilien, wo 1908 durch ein ähnliches Ereignis etwa 100.000 Menschen ums Leben kamen.
Während eine genauere Dokumentation einzelner Erdbeben nur in seltenen Fällen vorgenommen wurde, haben sich antike Denker natürlich Gedanken über die Ursachen gemacht; erhalten sind derartige Überlegungen (und Zusammenfassungen verschiedener Theorien) aus der Feder von Aristoteles, Strabon, Plinius d.Ä. und Ammianus Marcellinus.

Die umfangreichste zusammenhängende Erörterung aber stammt von Seneca dem Jüngeren, der in erster Linie als Erzieher und Ratgeber Neros sowie als Verfasser ethischer Abhandlungen und Briefe bekannt ist. Seneca nennt als aktuellen Anlaß zu Beginn das Erdbeben, das am 5. Februar 63 n.Chr. Campanien erschütterte, Pompeji fast ganz, Herculaneum teilweise zerstörte und auch in Neapel Schäden anrichtete. Dann fährt er fort (Naturales Quaestiones 6,1,4-11; Übers.: Otto und Eva Schönberger):

„Wir müssen für die Geängsteten Trost suchen und sie von ihrer tiefen Furcht befreien. Denn was kann man noch für sicher halten, wenn sogar die Welt erzittert und ihre festesten Teile wanken? Wenn das einzige, was in ihr unbewegt und so fest steht, daß es alles trägt, was auf ihm steht, ins Wanken gerät, und wenn die Erde verliert, was sie auszeichnet, die Beständigkeit, wie sollen wir dann in unserer Angst zur Ruhe kommen? Wo sollen unsere Körper eine Zuflucht finden, wohin in ihrer Sorge fliehen, wenn die Furcht von unten emporsteigt und aus dem Erdgrund heraufzieht? Die Bestürzung ist allgemein, wenn die Häuser krachen und der Einsturz sich ankündigt. Da rennt jeder Hals über Kopf hinaus, läßt seine Hausgötter im Stich und vertraut auf das freie öffentliche Gelände. Wo finden wir einen bergenden Winkel, wo Hilfe, wenn die Erde selbst den Einsturz will und der Boden, der uns schützt und trägt, auf dem unsere Städte stehen und den manche das Fundament des Erdkreises nannten, aufreißt und wankt? Was kann dir da – ich will nicht sagen Hilfe, sondern nur wenigstens Trost bringen, wenn du in deiner Angst keine Fluchtmöglichkeit mehr findest? Was, sage ich, ist noch fest und stark genug, um einen anderen und sich selbst zu schützen? Den Feind kann ich mit Mauern zurückweisen, und Burgen auf schroffer Höhe werden selbst mächtige Heere durch die Schwierigkeit ihres Zugangs aufhalten; vor dem Sturm rettet uns der Hafen und vor Wolkenbruch und endlos fallendem Wasser schützt uns ein Dach; wenn ich fliehe, kommt mir das Feuer nicht nach; gegen Donner und Dräuen des Himmels bieten die Hauskeller und tief eingegrabene Höhlen Schutz (denn das Feuer vom Himmel durchdringt die Erde nicht, sondern prallt schon von einer dünnen Erdschicht ab), bei der Pest kann ich auswandern – es gibt kein Übel, dem man nicht entkommen kann. Noch nie hat der Blitz ganze Völker verbrannt; verpestete Luft hat Städte zwar entvölkert, doch nicht zerstört. Dieses Unheil aber dehnt sich weit aus, ist unentrinnbar, unersättlich und trifft ganze Völker. Es verschlingt ja nicht nur Häuser oder Familien oder einzelne Städte, nein, es reißt ganze Völker und Regionen in die Tiefe und begräbt sie bald unter Schutt, bald versenkt es sie in einen tiefen Schlund und läßt nicht einmal eine Spur übrig, an der man sehen kann, daß hier, was nicht mehr da ist, wenigstens da war. Nein, über die berühmtesten Städte breitet sich die Erde aus, ohne daß eine Spur der früheren Herrlichkeit zu sehen wäre.
Und es gibt Menschen, die diese Todesart mehr fürchten, weil sie mit ihren Wohnsitzen ins Bodenlose fallen und lebend aus der Zahl der Lebenden verschwinden, als ob nicht jedes Schicksal zum gleichen Ziel führte. Neben anderem ist dies ein besonderer Zug der Gerechtigkeit in der Natur, daß es dann, wenn es zum Letzten kommt, uns allen gleich ergeht. Es ist also gleich, ob mich nur ein Stein zerschmettert oder ein ganzer Berg zerquetscht, ob über mich die Last nur eines Hauses kommt und ich unter seinem kleinen Staubhügel ersticke, oder ob die ganze Erde mein Haupt verschüttet, ob ich im Licht und im Freien meinen Atem aushauche oder in der ungeheuren Kluft der sich spaltenden Erde, ob ich allein in diese Tiefe stürze oder im großen Geleit mitfallender Völkerscharen. Es ist gleich, wie groß der Lärm bei meinem Tod ist; er selbst ist überall gleich.
Also wollen wir unseren Mut gegen dieses Unheil stärken, das man weder vermeiden noch vorhersehen kann, und nicht länger auf jene hören, die Campanien Lebewohl sagten, nach diesem Unglück fortzogen und verschworen, jemals wieder einen Fuß auf dieses Land zu setzen. Wer bürgt ihnen denn dafür, daß dieser oder jener andere Boden auf besserem Grund steht?“

Seneca versucht nicht, die von einem Erdbeben ausgelösten Schrecken zu bagatellisieren. Vielmehr ist es ihm – wie der antiken Ethik generell – darum zu tun, die Furcht vor dem Tod zu verringern, und wie nicht anders zu erwarten, sucht er den Schlüssel in der Vernunft und im Wissen. Daraus ergibt sich zunächst eine eher befremdliche, aber für antikes Denken sehr bezeichnende Argumentation: Da ohnehin aller Menschen Lebensweg zum Tod führt, stirbt wenigstens spektakulär, wer bei einem Erdbeben umkommt. Dann aber werden ausführlich die verschiedenen Theorien zur Entstehung von Erdbeben referiert, eingeleitet mit der entscheidenden Versicherung, daß die Götter an derartigen Verhängnissen keinen Anteil haben (6,3,1): „Diese Vorgänge haben ihre eigenen Ursachen, und dieses Toben ist nicht befohlen, sondern es sind Störungen aufgrund bestimmter Mängel wie bei unserem Körper, und gerade, wenn die Welt Gewalt auszuüben scheint, geschieht ihr Gewalt.“

Nissen verweist beiläufig auf Alexander von Humboldt. Dieser hat nun Senecas Abhandlung in einer Fußnote recht ungnädig behandelt; in ihr liege „übrigens ziemlich vollständig der Keim von allem, was man bis zur neuesten Zeit über die Ursachen von Erdbeben beobachtet und gefaselt hat“ (Kosmos I 443 Anm. 184). Wie hartnäckig die Kanonizität antiken Wissens wissenschaftliche Paradigmenwechsel verzögert hat, ist aus vielen Zusammenhängen bekannt und wird ja auch hier von Humboldt bestätigt: Die antike Autorität bestimmt sogar die Beobachtung. Doch in einem, nicht unwichtigen Bereich folgt auch Humboldt Senecas Spuren: bei der Einwirkung auf die menschliche Psyche, wenn sich gegen die überwiegende Intuition die Erde als unfest erweist. Seneca hatte diese fundamentale Empfindung an den Anfang seiner Überlegungen gestellt (s.o.). Humboldt führt sie weiter (Kosmos I 224): Wir müssen noch „die Ursache des unaussprechlich tiefen und ganz eigenthümlichen Eindrucks berühren, welchen das erste Erdbeben, das wir empfinden, sei es auch von keinem unterirdischen Getöse begleitet, in uns zurückläßt. Ein solcher Eindruck, glaube ich, ist nicht Folge der Erinnerung an die Schreckensbilder der Zerstörung, welche unsrer Einbildungs-kraft aus Erzählungen historischer Vergangenheit vorschweben. Was uns so wundersam ergreift, ist die Enttäuschung von dem angeborenen Glauben an die Ruhe und Unbeweglichkeit des Starren, der festen Erdschichten. Von früher Kindheit sind wir an den Contrast zwischen dem beweglichen Element des Wassers und der Unbeweglichkeit des Bodens gewöhnt, auf dem wir stehen. Alle Zeugnisse unsrer Sinne haben diesen Glauben befestigt. Wenn nun urplötzlich der Boden erbebt, so tritt geheimnißvoll eine unbekannte Naturmacht als das Starre bewegend, als etwas Handelndes auf. Ein Augenblick vernichtet die Illusion des ganzen früheren Lebens. Enttäuscht sind wir über die Ruhe der Natur; wir fühlen uns in den Bereich zerstörender, unbekannter Kräfte versetzt. Jeder Schall, die leiseste Regung der Lüfte spannt unsre Aufmerksamkeit. Man traut gleichsam dem Boden nicht mehr, auf den man tritt. (…) Dem Menschen stellt sich das Erdbeben als etwas allgegenwärtiges, unbegrenztes dar. Von einem thätigen Ausbruch-Krater, von einem auf unsere Wohnung gerichteten Lavastrom kann man sich entfernen; bei dem Erdbeben glaubt man sich überall, wohin auch die Flucht gerichtet sei, über dem Heerd des Verderbens.“

In diesem Dialog zwischen Seneca und Alexander von Humboldt liegt vielleicht der wichtigste Denkanstoß. Denn was die wissenschaftlichen Kausalerklärungen angeht, ist der Erkenntnisfortschritt über beide längst weit hinausgelangt; alles, was vor der Erfindung des Seismographen gedacht wurde, ist im Grunde obsolet. Erdbeben werden heute registriert, gemessen, klassifiziert, katalogisiert, und jedes Schulkind kann die zuständigen geologischen Elementartatsachen einigermaßen korrekt referieren. Aber all dieses Wissen hat die Grundtatsache der elementaren Ausgesetztheit der betroffenen Menschen nicht mindern können. Katastrophenmanagement und Kontingenzbewältigung betreibt jede Epoche nach ihren Möglichkeiten. Die Befragung der Antike muß deshalb auf einer ganz anderen Ebene einsetzen – und dann lohnt sie sich auch.

Brauchbare Studien sind leider in der Regel sehr speziell. Genannt seien aus jüngerer Zeit: E. Guidoboni, Catalogue of Ancient Earthquakes in the Mediterranean Area up to the Tenth Century, Rom 1994; Gerhard H. Waldherr, Erdbeben. Das außergewöhnliche Normale. Zur Rezeption seismischer Aktivitäten in literarischen Quellen vom 4. Jahrhundert v.Chr. bis zum 4. Jahrhundert n.Chr., Stuttgart 1997; ders. (Hrsg.), Antike Erdbeben im alpinen und zirkumalpinen Raum. Befunde und Probleme in archäologischer, historischer und seismologischer Sicht, Stuttgart 2007; Eckart Olshausen, Holger Sonnabend (Hrsgg.), Naturkatastrophen in der antiken Welt (Stuttgarter Kolloquium zur historischen Geographie des Altertums 6), Stuttgart 1996; Johannes Jacobius Luis Smolenaars, Earthquakes and Volcanic Eruptions in Latin Literature: Reflections and Emotional Responses, in: Miriam S. Balmuth u.a. (Hgg.), Cultural Responses to the Volcanic Landscape: The Mediterranean and Beyond, Boston/Mass. 2001, 311-330. – Einen ersten Einstieg bieten zwei kurze Artikel in: H. Sonnabend (Hrsg.), Mensch und Landschaft in der Antike. Lexikon der Historischen Geographie, Stuttgart/Weimar 1999, 109-114.


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