Für den von mir mitbetreuten Rezensionsteil der neuen Zeitschrift des Verbandes der Geschichtslehrer Deutschlands war ein eben erschienenes Buch zu vergeben, das Völkermord und Vernichtung von der Antike bis heute zum Thema hat. Ein hochgeschätzter Kollege lehnt die Bitte, die Besprechung zu übernehmen, dankend ab, mit der völlig einleuchtenden Begründung, er wolle sich nicht schon wieder mit so schrecklichen Dingen befassen, nachdem er einen ganzen Berg Holocaust-Literatur habe lesen müssen und ihm davon ganz elend geworden sei.
Ostersamstag. Egon Flaigs „Weltgeschichte der Sklaverei“ ist in der Post. Mit der Absage des erwähnten Kollegen ein paar Tage zuvor im Hinterkopf mache ich mich sofort an die Lektüre. Wie würde der Rostocker Althistoriker, ein philosophisch geschulter, strenger Analytiker und Denker, der bisher nicht durch mimetisch-farbige, auf Vergegenwärtigung und Empathie zielende Schilderungen aufgefallen ist, sich dieses ähnlich schauerlichen Gegenstandes annehmen? Das Taschenbuch umfaßt nur gut zweihundert Seiten Text, behandelt aber die politische Anthropologie der Sklaverei, die Sklaverei in antiken Gesellschaften, das „interkontinentale sklavistische System“ der islamischen Welt, die Entstehung des Hautfarben-Rassismus, die Selbstzerstörung Schwarzafrikas, die transatlantische Sklaverei sowie den Kampf um die Abschaffung der Sklaverei. Fülle des Stoffes und knapper Raum zwangen also zur Askese, zur Vogelperspektive und zur thesenhaften Zuspitzung, ließen weder pointillistische Miniaturmalerei noch pseudo-empathische Exzeßschilderungen zu – die ohnehin immer Gefahr laufen, ins Pornographische abzugleiten (dazu kürzlich hier).
Von der Kürze auf einen Mangel an innerer Beteiligung zu schließen und uneingestanden zu hoffen, Flaig werde belehren, ohne zu berühren, erwies sich allerdings während der Lektüre rasch als vorschnell. Am Ostersonntag bin ich durch und spüre: Dieses Buch wird Diskussionen auslösen.
Mag die Globalgeschichte bislang hier und da unter dem Mangel an klaren leitenden Wertideen gelitten haben – Flaig verhehlt die seinen nicht: „Wer Globalisierung sagt, der sagt auch Weltgeschichte; wer Weltgeschichte sagt, der sagt auch Universalismus“, so das Motto des Heinz-Dieter Kittsteiner gewidmeten Buches. Am Ende läßt Flaig das Thema des Buches genau auf dieses Telos zulaufen: „An der Sklaverei entscheidet sich das Schicksal der Menschenrechte. Es gilt als schick, diese als westliche Erfindung abzutun und ihren Anspruch auf universale Geltung zu verhöhnen.“ Doch nur wenn Artikel 4 universal gelte, nur dann sei Sklaverei ein Verbrechen und nur dann ließen sich die vielen alten und neuen Formen persönlicher Unfreiheit bekämpfen, die sich in der globalisierten Welt endemisch verbreiteten. Nur wenn diese Formen ebenso bezwungen werden könnten, wie dies mit der Sklaverei gelang, werde die globalisierte Menschheit ihr politisches Zusammenleben auf die Freiheit gründen können. Andernfalls bliebe unsere westliche Kultur eine Zeitinsel innerhalb eines endlosen Ozeans von Unfreiheit. In dieser katastrophischen Schlußmetapher verbindet Flaig eine dem Geist der Moderne verpflichtete Teleologie, die an einem partiellen, freilich mühsam errungenen Fortschritt festhält, mit einer Achse im Geschichtsdenkens Jacob Burckhardts (dem Flaig nicht nur seine Dissertation, sondern auch mehrere mitunter überscharfe Studien gewidmet hat): Die Errungenschaften der Kultur – für Flaig ist das selbstverständlich nicht die Burckhardt’sche ästhetische Kultur des Schönen und des Genusses, sondern die politische Kultur der Freiheit und Teilhabe – sind permanent bedroht und müssen stets verteidigt werden, und das ist unmöglich mit Kulturrelativismus und westlicher Selbstbezichtigung.
Die Stärke des Buches liegt darin, daß Flaig seinen verächtlichen Gegenstand so stark und so plausibel wie möglich macht. Die Sklaverei war über Jahrtausende hin eine überaus rentierliche Institution, und vor allem wohnte ihr eine enorme systembildende Kraft inne. Sie hat erhebliche intellektuelle Energien zu ihrer Rechtfertigung freigesetzt, und sie hat als ein ökonomisches und die Staatsbildung prägendes System einen ganzen Kontinent – Afrika – dauerhaft und bis heute zu zerstören vermocht. Flaig poltert nicht, moralisiert nicht, vermeidet die Semantik des ritualisierten Abscheus. Stattdessen klärt er Begriffe, bündelt Forschung und argumentiert mit einer manchmal fast überfordernden Fülle von Fakten. Das Kapitel über die Sklaverei in der Antike wird man künftig als beste kurze Einführung empfehlen können. Flaig entwickelt ein präzises Panorama, von den Bergwerkssklaven mit ihrer kurzen Lebenserwartung bis hin zu den gebildeten Lehrern und Spezialisten im Haus eines römischen Aristokraten, und er referiert die Tendenz in der Kaiserzeit, den willkürlichen Zugriff auf den Sklaven zurückzudrängen und das patriarchalische Verhaltensideal zur Maxime in der Behandlung zu machen. Allerdings: „Das Zwangssystem läßt sich prinzipiell nicht ‘humanisieren'“, weil die Verfügung über einen Menschen als Besitz selbst bei bester Behandlung und vertrautestem Umgang nicht human genannt werden kann. Über einen ganzen Strang der (deutschen) Forschungen zur antiken Sklaverei ist damit das Verdikt gesprochen.
Die Antike erscheint im Gesamtzusammenhang des Buches als eine Art Modellepoche, in der alle wesentlichen Optionen und Begründungen einmal durchgespielt und gleichsam bereitgestellt wurden, ohne daß das Phänomen selbst über ein mittleres Maß hinausgewachsen wäre – dafür waren die griechischen Poleis zu klein, die Blüte Athens zu ephemer, die exzessive Zeit der römischen Republik zu kurz; im räumlich globalen Imperium Romanum ordnete sich die Sklaverei überdies bald ein in ein abgestuftes System von Hierarchien.
Auf S. 83 explodiert das Buch. Wie mit Feuer in Stein geschrieben – Ostermontag lief wieder „Die Zehn Gebote“, mir über zwanzig Jahre nach der letzten Besichtigung fast ganz aus dem Gedächtnis gefallen: der Exodus als älteste Erzählung von der Freiheit und ihren Bedrohungen – glühen die ersten Sätze: „Als die Muslime ihr Weltreich eroberten, errichteten sie das größte und langlebigste sklavistische System der Weltgeschichte. Die islamische Sklaverei wurde seit dem 19. Jahrhundert beschönigt.“ (In der Tat: In Meyers Großem Konversations-Lexikon von 1905-9 finden sich lange Ausführungen über die damals aktuellen Bemühungen islamischer Staaten zur Bekämpfung der Sklaverei, immerhin aber doch auch der lapidare Satz: „Islam und Vielweiberei sind eben der S. besonders günstig.“) Folgerichtig setzt Flaig zur Entschönigung durch Aufklärung an. Nicht nur mit Zahlen (siebzehn Millionen aus dem subsaharischen Afrika in die islamischen Kernländer verschleppte Menschen gegenüber ca. elf Millionen in die Amerikas Deportierte), sondern einer fulminanten Explikation der Tatsache, „daß die islamische Kultur als sklavenimportierende ‘Metropole‘ in der Peripherie die Versklavungsprozesse so anheizte, wie es bis dahin in der Weltgeschichte noch nie geschehen war“. Lange vor dem Zeitalter der europäischen Entdeckungen und des transatlantischen (Sklaven-)Handels entstanden hier eine Weltkultur (von Indien Zentralasien bis nach Spanien) und eine Weltwirtschaft. Es fehlte nicht viel, und das westliche Europa hätte das Schicksal Afrikas und der russischen Steppe erlitten, zur Peripherie eines sklavengenerierenden Kriegersystems zu werden, in dem Herrscher Unfreie teilweise sogar zu Soldaten und Administratoren machte, um jede Bedrohung durch Familie und Adel zu bekämpfen. „Die islamische politische Kultur erzeugte somit einen Staatstyp, in dem alle Bestimmungen von Staatlichkeit – nämlich daß Menschen sich politisch organisieren – auf radikalste Weise pervertiert waren. Nach Meillassoux erreichte dieser Staatstyp das äußerste Stadium der Sklaverei und trieb ihre Logik auf die Spitze: Sklaven fungierten als Rädchen im Getriebe einer militärischen Maschine, welche jegliche Chance auf politische Selbstbestimmung – von Städten oder Gemeinden – zunichte machte; diese Maschinerie war aller politischen Freiheit tödlich, da sie – sogar bei Freilassung der Militärsklaven – einen Zustand perpetuierte, der immer weitere Rekrutierung von Sklaven erheischte.“ Afrika blieb nicht isoliert und deshalb unterentwickelt, sondern es war engstens in ein mittelmeerisch-vorderasiatisches Wirtschaftssystem eingebunden – freilich als Lieferant von Menschen. Über Jahrhunderte senkte sich eine prädatorische Produktionsweise tief in alle Verhältnisse und Einstellungen ein – mit furchtbaren Folgen bis heute. (Auch dazu lief der passende Osterfilm im Fernsehen: „Blood Diamond“, der bis an die Grenze des Erträglichen vorführt, wie diese Folgen aussehen.) Den islamischen Hautfarbenrassismus importierten die Portugiesen, als sie sich in den islamischen Sklavenhandel einklinkten.
Die Ausweitung des Sklavereisystems auf die Amerikas sieht Flaig durch das Angebot induziert; islamische Djihads warfen gar die größten Zahlen von Sklaven auf den Markt, als die europäische Nachfrage abzusinken begann. Und letzteres geschah nicht aus ökonomischen Gründen, sondern war Ergebnis einer in den Stadtkulturen Nordwesteuropas gewachsenen und religiös imprägnierten Überzeugung. Wieder eine eherne Kapiteleröffnung: „Die Welt verdankt die Abschaffung der Sklaverei der europäischen Kultur.“ In den USA, wohin bis 1825 etwa 360.000 Schwarzafrikaner verkauft worden waren, wo es aber 1860 beispiellose vier Millionen Sklaven gab, wurde bekanntlich sogar ein blutiger Krieg um die Beendigung eines bemerkenswerten Sonderwegs geführt. Einen islamischen Abolitionismus gab es hingegen nie, und um in Afrika die Strukturen des Menschenraubs und des Menschenhandels zu zerschlagen, bedurfte es der Intervention der europäischen Kolonialmächte – Flaig spricht von einem humanitären Kolonialismus, der den Eliten die Abolition aufzwingen mußte.
Das Buch wird, wie gesagt, Diskussionen auslösen, hoffentlich mehr, als dies den großen Artikeln Flaigs in der F.A.Z. („Der Islam will die Welteroberung“; „Republik oder Kalifat“) beschieden war. Es verdient viele Leser. Doch die brauchen auch Bilder, in denen geronnen ist, was bei Flaig Analyse sein muß. Wenn er zu Beginn des Buches erläutert, wie Sklaven durch Entsozialisierung und Entpersönlichung zu Fremden gemacht werden, so fällt mir Fernsehgeschädigtem spontan eine Szene in der (zugegeben auch kolportagehaften) Miniserie „Roots“ (1977) ein: Dem jungen Kunta Kinte, der daheim ein stolzer Krieger war, wird der Name genommen, indem man ihn mit Prügel daran hindert, sich so zu nennen. Sein neuer Name lautet Toby.
Klingt sehr interessant; mich...
Klingt sehr interessant; mich würde allerdings interessieren, in welchem Maß Flaig Setzungen vornimmt. Sie schreiben nämlich, daß er extensiv argumentiert; die von Ihnen zitierten Auszüge lesen sich aber eher apodiktisch (etwa, daß die Verfügungsgewalt über einen Menschen per se nicht human genannt werden kann [warum nicht?], oder daß die im Europa der Aufklärung festgesetzten Menschenrechte absolute Geltung haben sollen [wieso?]).
Auch wäre ich dankbar für einen Hinweis, ob Flaig auch auf die heute noch in Afrika weitverbreitete faktische Sklavenhaltung eingeht.
Mit bestem Dank für den interessanten Literaturhinweis
Thomas Berger
p.scr.: Ein „interkontinentales *slavistisches* System“ klingt nicht nach einer besonders verwerflichen islamischen Einrichtung 🙂
Besten Dank, lieber Herr...
Besten Dank, lieber Herr Berger! Das „slavistische“ System war natürlich nur ein Typo, obwohl „Sklave“ ja bekanntlich aus „Slave“ abgeleitet ist. – Zur Sache: Die Argumentationen des Autors nachzuzeichnen war nicht meine Absicht; der Blog-Eintrag soll einer Rezension auch nicht vorgreifen. Daß Flaig Setzungen vornimmt, ergibt sich aus dem Hinweis auf seine Wertideen, die in der Regel Setzungen nach sich ziehen. Und ohne definitorische Setzungen kommt überhaupt niemand aus. faktische Sklavenhaltung in Afrika heutzutage: ja, wird natürlich angesprochen.
Uwe Walter