Antike und Abendland

Antike und Abendland

Tagesaktualität, wie sie sich mit einem Blog verbindet, und Antike – das scheint nicht zusammenzugehen. Dennoch soll hier der Versuch gewagt

Weiterlebendes Pompeji, untote Seelen, fingiertes Mittelalter: Eine geschichtsrevisionistische Subkultur im WWW macht sich ihren Reim auf „invented traditions“

| 5 Lesermeinungen

Eingang eines Manuskripts, das für eine wissenschaftliche Zeitschrift, an der ich mitwirke, zu begutachten ist. Der Autor - kein Historiker, sondern offenbar...

Eingang eines Manuskripts, das für eine wissenschaftliche Zeitschrift, an der ich mitwirke, zu begutachten ist. Der Autor – kein Historiker, sondern offenbar Techniker oder Ingenieur – will beweisen, daß Pompeji und Herculaneum bei dem Vesuv-Ausbruch des Jahres 79 n.Chr. gar nicht ausgelöscht und zugeschüttet wurden, sondern bis ins 17. Jahrhundert weiterblühten. Er stützt sich u.a. auf eine Inschrift aus dem Jahr 1635 mit der blumigen Beschreibung eines Vesuvausbruchs vier Jahre zuvor, in der die beiden Städte erwähnt werden, auf die Ähnlichkeit pompeianischer Wandmalereien mit Gemälden aus der Zeit der Renaissance und des Barock, Instrumente mit Schraubtechnik im Archäologischen Nationalmuseum Neapel, klares Glas, das angeblich erst um 1550 produziert werden konnte, und eine Wasserleitung, die im späten 16. Jahrhundert angelegt wurde, nach Technik und Materialien aber antiken Bauwerken dieser Art exakt entspreche. Alles ziemlich wirr formuliert und keiner Widerlegung in der Sache wert. Der von Plinius dem Jüngeren in zwei berühmten Briefen an Tacitus beschriebene Ausbruch wird nicht geleugnet, aber in seiner Bedeutung heruntergespielt; auch die gesamte schriftliche Überlieferung steht unter Pauschalverdacht: widersprüchlich, durch mehrfaches Abschreiben verfälscht, in der Chronologie unsicher, durch ein Gelehrtenkartell gegen jede kritische Nachfrage abgeschirmt.
Hier scheint mir ein Muster vorzuliegen. Eine kurze Recherche im Internet ergibt: Offenbar existiert die Subkultur eines Geschichtsrevisionismus der besonderen Art, der an der Chronologie ansetzt, um das gängige Bild gänzlich umzustürzen. „Wenn man“, so heißt es in einer früheren WWW-Fassung des Pompeji-Aufsatzes, „‘das dunkle Mittelalter‘ ausschließt und Kontinuität der Geschichte anerkennt, so geht die Antike durch die Bildung (die Renaissance) in die Neuzeit fließend über.“ Heribert Illig, der vor Jahren das ganze Frühmittelalter zu einer Fälschung erklärt hatte, und sein Vorläufer Wilhelm Kammeier sind offenbar nicht alleingeblieben. Die einschlägigen Webseiten heißen „chronologiekritik“ und „fantomzeit“. Auf einer dieser Seiten findet sich das Credo, das auch den Pompeji-Aufsatz prägt: Die Archäologie gelte nur als Hilfswissenschaft „neben die geschichtlichen Dokumente“ (gemeint: neben der Interpretation der Dokumente) und ergänzt diese. Das allein sei schon skandalwürdig, „da die geschichtlichen Dokumente fast durchgehend gefälscht sind“. Woher dieses Mißtrauen gegen Texte und Dokumente? Ein erster, tastender Versuch einer Antwort: Auffällig viele Referenzautoren sind Russen; auch der Pompeji-Aufsatz nennt den „russische(n) alternative(n) Geschichtsforscher Evgenij Shurshikov“ als Autorität; anderswo finden sich Abhandlungen mit Titeln wie „Fomenko und die russische Chronologiekritik. Der russische Mathematiker A. Fomenko schreibt die Geschichte neu“ oder „Morosow und die Offenbarung des Johannes. Die Deutung der Apokalypse anhand der Gestirne des russischen Chronologiekritikers N. Morosow“. Gerade heute, so ist gelegentlich in der Presse zu lesen, blühen in Rußland, was die Geschichte betrifft, wieder Verschwörungstheorien und wilde Spekulationen, gegen die seriöse Forscher kaum ankommen. Das Mißtrauen mag eine Reaktion auf die Praktiken der autoritären und totalitären Herrschaften im Lande sein. Gemeint sind damit nicht nur gefälschte Geständnisse und Planerfüllungsberichte oder eine Geschichtswissenschaft, die der herrschenden Parteilehre zu folgen hatte und dadurch das Vertrauen in die Validität ihrer Resultate untergraben hat. In Gogols „Tote Seelen“, jüngst durch eine Neuübersetzung wieder ins Licht getreten, geht es um verstorbene Leibeigene, die in Dokumenten und Kontrakten eine geisterhafte Fortexistenz als Untote erlangen.

Papier gleich Betrug.
Aus einem jahrhundertelangen Prozeß der Weitergabe, in dessen Verlauf so unendlich viel verlorenging, machen die „Chronologiekritiker“ eine Art Urknall der Erfindung von ganzen Epochen durch kreative Fabrikation von Überlieferungen. „Praktisch das gesamte Schriftgut der klassischen Antike“, so heißt es in einem der Pamphlete, „ist erst ab dem 11. Jh. verfaßt worden, das griechische in Konstantinopel am Kaiserhof und in Apulien und der Toskana durch griechische Flüchtlinge, das lateinische in mitteleuropäischen Klösten, vor allem in Nordfrankreich, in Hessen und in Mittelitalien (z.B. Monte Cassino).“ Elaborierte Werke seien entsprechend späte Erzeugnisse von Humanisten, so der „Goldene Esel“ des Apuleius, „An sich selbst“ des Kaisers Marcus Aurelius sowie natürlich die chronographischen Grundlagenwerke etwa eines Eusebius. Die „Geschichtsrekonstrukteure“, wie sie sich auch nennen, tarnen ihr Tun zunächst als radikale Fortführung der von akademischen Historikern betriebenen Quellen- und Sachkritik. In der Tat haben sich antike Listen der frühesten spartanischen Könige, athenischen Archonten oder Könige von Alba Longa durch diese Kritik bereits im 19. Jahrhundert als Konstruktionen erwiesen, die dem Ziel dienten, chronologische Lücken zu füllen oder eine historische Institution an mythische Vorväter anzuknüpfen, deren Lebenszeit man ebenfalls umständlich berechnete. Einmal an ein anerkanntes Verfahren der Geschichtswissenschaft angedockt, wird auch gleich noch der linguistic turn herbeizitiert, der in verplatteter Auffassung in der Tat die Fakten aus dem Weg räumte und in allem Reden über Vergangenes nur noch Akte einer gegenwartsorientierten Sinnverleihung erkennen wollte. (Einige der hieraus erwachsenen postmodernen Verirrungen hat kürzlich Simon Blackburn in der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ aufgespießt.)
Eric Hobsbawn würde sich vermutlich wundern, wüßte er, wie die neuen Totalverweigerer seine magische Formel von der „invention of tradition“ radikalisiert haben. Einer der Protagonisten räumt ab: „Durch immer schärfer angesetzte Kritik war man an einen Punkt gelangt, wo sich die Historie selbst in Nichts auflöste. So wie sich aus der theologischen Zerlegung der Schriften des Neuen Testaments ergeben hatte, daß dieser Jesus nicht gelebt haben konnte, so würden auch alle anderen Gestalten sich wie Nebel auflösen, Cäsar und Alexander so gut wie Sesostris und Darius. Dagegen half nur der Sturm nach vorn: gläubige Bejahung der eigenen Geschichtsvorstellungen zum Zweck der Weitergabe einer Ordnung, die dem Gemeinschaftsgefüge den Halt gibt. Zwar wird die Vergangenheit damit zur Illusion, aber die Gegenwart der Geschichtsbilder wird zur unanfechtbaren Wirklichkeit.“ Zöglinge der zahlreichen Sonderforschungsbereiche und Graduiertenkollegs, die sich der konstruierenden Identitätsstiftung durch Geschichte in allen Epochen gewidmet und Dekonstruktion auf ihre Fahnen geschrieben haben, erleben nunmehr, wie Nachbarn, mit denen man lieber nicht zusammen gesehen werden möchte, ihnen virtuell auf die Schulter klopfen und sagen: „Gut gemacht!“
Ist die Sinnproduktion durch findige Historiker und Philologen verdammenswert? Weit gefehlt: „Die Generation der Geschichtsforscher vor dem Ersten Weltkrieg äußerte sich als eine [sic] stürmische Bejahung der Phantasie und Phantasterei in der Geschichtsschreibung, die manchem heute als boshafte Fälschungsmethode erscheinen mag, damals aber mit dem Elan und dem Pathos der für das Vaterland glühenden Geister ihre Berechtigung hatte. Hierin leuchtet noch etwas vom dem Mut und der Genialität der Humanisten nach.“ Gerechtigkeit für Treitschke also – und noch mehr Leute, mit denen man nichts zu tun haben möchte.

Doch dann wird die zumindest noch behauptbare Nachbarschaft verlassen und der Marsch ins offene Sektierertum angetreten. Als eigentlicher Gegner steht nämlich die Katholische Kirche als Urheberin der „Großen Aktion“ im Visier. Sie habe eine monumentalische Geschichte benötigt, und um diese ausmalen zu können, sei das Mittelalter verlängert worden, damit das erst im 11. Jahrhundert entstandene Christentum eine ehrwürdige Geschichte und mächtige Gegner erhalte. Verbunden wird die antiklerikale Verschwörungstheorie mit der Annahme, eine kosmische Katastrophe, der „bisher letzte große Ruck“ im Sonnensystem, habe Europa um 1350 getroffen und die in Wirklichkeit ganz nahe Antike so verschüttet, daß die Fälscher leichtes Spiel hatten, einen sehr langen Zeitraum mit erfundenen Ereignissen zu füllen. Die Wahrheit konnte die Kirche jedoch nicht dulden: „Zahlreiche Menschen, die das Gegenteil wußten und weitergaben, mußten darum ihr Leben lassen. Die Hexenverfolgungen spielten sich vor diesem Hintergrund ab. Wer ein offenes Universum sah und Chaos statt Ordnung, wurde verbrannt.“ Am Ende aber steht die Science Fiction-Vision einer technologischen Weltrettung, die natürlich einer fundamentalen Aufklärung bedürfe: „In den technologisch führenden Staaten der Erde werden aufwendige Programme entwickelt, die eine zukünftige kosmische Katastrophe vorherberechnen sollen und natürlich denkt man auch an Abwehrmaßnahmen, wobei die Einzelheiten noch der Geheimhaltung unterliegen.“ Da Verdrängung eines Traumas stets zu Fehlhandlungen führe, sei es zusätzlich an der Zeit, „die wahren Ursachen der Großen Aktion aufzudecken und durch das Verständnis unserer Geschichte zu einem rationaleren Umgang mit den Menschheitsproblemen zu gelangen“.

Verkehrte Köpfe dieser Art hat es schon immer gegeben. Mit ihren Vorgängern teilt die neue Generation eine erstaunliche, aber methodisch uninformierte Belesenheit und den Hang, isolierte Tatsachen und Interpretamente zu einer in sich geschlossenen Weltdeutung zusammenzunähen. Das Internet bietet ohne Zweifel ungleich mehr Möglichkeiten, sich gegenseitig zu belehren und zu bestätigen, als eine hektographierte ‘Zeitschrift‘ das vor dreißig Jahren vermocht hätte. Und ‘normale‘ Historiker haben jetzt leichter die Gelegenheit zu sehen, daß sie es im großen Park der Geschichtskultur nicht nur mit Unkenntnis und Unterhaltungsbedürfnissen, sondern bisweilen auch mit seltsamen Arten von ‘Wissen‘ zu tun haben.

Zu H. Illig s. Rudolf Schieffer, Ein Mittelalter ohne Karl den Großen, oder: Die Antworten sind jetzt einfach, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 48 (1997) 611

S. ferner: Konstantin Sheiko in collaboration with Stephen Brown, Nationalist Imaginings of the Russian Past. Anatolii Fomenko and the Rise of Alternative History in Post-Communist Russia. With a foreword by Donald Ostrowski. Stuttgart and Hannover: ibidem-Verlag, 2009 (Soviet and Post-Soviet Politics and Society, vol. 86)


5 Lesermeinungen

  1. ChrisMarx sagt:

    Aus seiner "kurzen Recherche...
    Aus seiner „kurzen Recherche im Internet“ hat der Autor offensichtlich keine mitteilenswerte Einsicht gewonnen. Aus der Sicht verdrängender Wissenschaft anstatt der Beurteilung der RMNG durch informierten Hausverstand gelingt das auch nicht, der LGR ist ihm ein Rätsel, die Bedeutung der Apokalypse für seine irreführende Historiographie im wahrsten Sinne ein Buch mit 7 Siegeln geblieben.
    ++++
    RMNG = Rekonstruktion der Menschheits- & Naturgeschichte
    (vgl eine Übersicht auf den Folien in http://www.paf.li/gs)
    LGR = Letzter Grosser Ruck: bislang letzter einer Serie von Kataklysmen in der Mitte des Trecento, hervorgerufen durch eine Repositionierung der Erde (vgl http://www.sources.li/LGR.htm, Definition der XK-Epoche http://www.sources.li/Apokalypse&Kalender.pdf)
    XK = christlicher Kalender

  2. jseelig sagt:

    Der Blog ist leider ein aus...
    Der Blog ist leider ein aus vielen verschiedenen Quellen zusammengeleimter Text, sodaß der Leser leider nicht ermitteln kann, was da zusammengehört & was nicht.
    Schade, eine ernsthafte Auseinandersetzung wurde versäumt & die übliche persönliche Diffamierung („Verkehrte Köpfe“) bevorzugt.

  3. genographic sagt:

    Ich, als Author des Artikels...
    Ich, als Author des Artikels über Pompeji, bin aber dem Bielefelder Historiker Uwe Walter sehr dankbar! Zwar hat er meinen Artikel über Pompeji nicht veröffentlicht, was eigentlich zu erwarten war, dafür aber popularisiert!
    Es fehlt nun nur ein Link in seinem Blog um den von ihm kritisierten Artikel für die Leser um ihre eigene Meinung darüber zu bilden zugänglich zu machen:
    https://www.ilya.it/chrono/pages/pompejidt.htm
    Und für mögliche Leserbriefe gibt es auch eine Adresse:
    genographic@googlemail.com

  4. Die Jahreszahlen einer Reihe...
    Die Jahreszahlen einer Reihe von auf den ersten Blick sehr ähnlichen Ereignissen, auch mehrerer Vesuv-Eruptionen, lassen sich mit Hilfe der Olympischen Ära (776/777), der Ära seit Gründung der Stadt Rom (753/754) und der Zahl 1000 ineinander umrechnen.
    Sie sind daher mit großer Wahrscheinlichkeit als identisch anzusehen.
    Am sichersten ist dies noch bei den Jahreszahlen 79 und 1631, den nach offizieller Geschichte wichtigsten Ausbrüchen.
    Im Jahre 79 soll dabei u.a. auch Pompeji untergegangen sein.
    Zieht man von 1631 2 x 776 ab, so erhält man 79, so daß die Ereignisse wohl mit Sicherheit identisch sind.
    1631 – 776 – 776 = 79
    Und so hat man wohl mit der Ära seit Gründung der Stadt Rom gerechnet.
    1631 – 1000 – 1000 + 754 + 754 = 1139
    Das paßt auch genau. Der Ausbruch des Vesuv soll im Jahre 1139 gewesen sein.
    Weiterhin:
    |79 – 776 – 776 + 1000| = 473
    Dies ist nur 1 Jahr von der Eruption von 472 entfernt.
    Für 512 und 1500 ist keine direkte Umrechnung über die beiden Ären möglich. Diese und andere Eruptionen sind wohl eigenständige Ereignisse – ich habe allerdings nicht alle durchgerechnet.
    Meine These dazu habe ich u.a. hier vorgestellt.
    https://www.g-geschichte.de/forum/46378-post88.html
    Für nähre Informationen kann man gerne den dort angegebenen Links zu meinen weiteren Erläuterungen zum Thema folgen.

  5. genographic sagt:

    Die Besonderheiten der...
    Die Besonderheiten der Wasserleitung von Domenico Fontana (Sarnokanal) und das Datum des Untergangs von Pompeji
    Es wird angenommen, dass die Stadt Pompeji im I. Jahrhundert unserer Zeitrechnung untergegangen ist und danach über 1500 Jahre unter einer Decke aus vulkanischer Asche und Bimsstein begraben lag, bis im Jahre 1592 Domenico Fontana bei Kanalbauarbeiten einige Inschriften und Marmortafeln entdeckte, die indirekt auf die Lage der antiken Stadt wiesen. In dem vorliegenden Artikel werden die Beweisgründe zugunsten einer anderen Hypothese angeführt, nämlich dass Pompeji erst nach der Fertigstellung des Kanals verschüttet wurde, und dass dieser in einer zwar halbverfallenen, aber noch von vulkanischer Asche freien Stadt gebaut wurde. Der Artikel präsentiert die bisher nur teilweise im Internet publizierten Ergebnisse einer Vor-Ort-Untersuchung des Autors und vertritt seine Meinung, dass die Stadt Pompeji, die im Laufe der letzten 200 Jahren von Archäologen ausgegraben wird, erst 1631 beim Ausbruch des Vesuvs letztendlich untergegangen ist.
    Category: Scientific Study
    Year: 2009
    Pages: 14
    Language: German
    ISBN (E-book): 978-3-640-50989-8
    ISBN (Book): 978-3-640-51011-5
    https://www.grin.com/e-book/140554/die-besonderheiten-der-wasserleitung-von-domenico-fontana-sarnokanal

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