Das World Wide Web hat auch den Markt für antiquarische Bücher grundlegend verändert. Das Suchen nach einem bestimmten Titel im „Zentralen Verzeichnis antiquarischer Bücher“ (ZVAB) oder in der internationalen Metadatenbank Bookfinder.com führt sehr oft zum Erfolg. Lücken in der eigenen Bibliothek lassen sich auf diese Weise schließen, ein gerade für Lehre oder Forschung benötigter Titel rasch beschaffen. Preise sind leicht zu vergleichen (die Kehrseite: aus Unkenntnis des Verkäufers geborene Schnäppchen finden sich weit seltener).
Diese Gewinne wiegen viel zu schwer, als daß man die unbestreitbaren Verluste lauthals beklagen könnte. Immerhin, es gibt sie. Ich gehe heute viel seltener in Antiquariate als früher, damals in der Hoffnung, beim Stöbern etwas lange Zeit Gesuchtes zu finden oder Neues zu entdecken. Das liegt natürlich auch daran, daß sich im Laufe der Jahre die Lücken füllen und das Regal des Antiquars nur noch Titel birgt, die man schon hat. Doch der sinnliche Eindruck, von Büchern umgeben zu sein, vielleicht etwas über den Vorbesitzer zu erfahren, über den Einband zu streichen oder vorsichtig die Faltkarten vor dem hinteren Deckel auszuklappen – diese dichte, ziellos zugebrachte Zeit ist eigentlich durch nichts zu ersetzen.
Bis vor ein paar Jahren bekam ich auch häufig Antiquariatskataloge, selbst von hochpreisigen Häusern, bei denen das Budget eine Order meist ausschloß. Jetzt kommt nur noch einer, der aber bereits seit fünfundzwanzig Jahren, immer um Ostern herum, immer freudig erwartet, hastig ausgepackt und schnell überflogen, um zu den ersten Bestellern zu gehören: der Katalog „Altertumswissenschaften“ vom Göttinger Antiquariat Gross. Immer noch ein dickes Paperback, nur die oft schwer lesbaren, einst in gewiß mehrtägiger Arbeit an der Schreibmaschine aneinandergereihten Einträge haben inzwischen einer am PC erstellten Vorlage mit gefetteten Lemmata Platz gemacht. Die Systematik ist geblieben, es gibt immer noch offensichtliche Doppeleinträge und die vermischten Nachträge, die nicht selten schöne Funde bergen. Und nach wie vor wird der lange Eintrag zu Cicero verstopft mit längst überholten, ganz unbrauchbaren Textausgaben eines gewissen Müller aus dem Neunzehnten Jahrhundert ohne kritischen Apparat. (Die während der ersten Semester aus Unkenntnis billig erworbenen Exemplare sind längst ins Altpapier gewandert.)
Die Preise bei Gross sind fair. Die beiden Bände der von Emilio Gabba vorzüglich kommentierten Ausgabe zweier Bücher von Appians Bürgerkrieg kosten je fünf Euro – italienische Titel sind generell nicht teuer. Der schwer zu findende Supplementband zu T.R.S. Broughton, „The Magistrates of the Roman Republic“, einem Grundlagenwerk der römischen Republik, das für nicht wenige Forscher schon den Status einer Quelle neben den antiken Texten erreicht hat, ist für zwanzig Euro zu haben, ebenso die selten angebotene Studie Arthur Steins zum römischen Ritterstand aus d.J. 1927. Seit Jahre auf der Suche nach Peter Brunts „Italian Manpower“ – nun übersiedelt das Grundlagenwerk zur historischen Demographie der römischen Republik, die seit einigen Jahren wieder stark beackert wird, für angemessene sechzig Euro in mein Regal. Ernst Stein begann in den 1920er Jahren eine aus den Quellen aufgebaute „Geschichte des spätrömischen Reiches“. Die Bildung der nationalsozialistisch geführten Regierung veranlaßte ihn, von einer Gastprofessur in Brüssel nicht nach Berlin zurückzukehren. Fortan schrieb er kein Wort mehr in deutscher Sprache; der zweite Band seines Hauptwerkes erschien nach dem Krieg postum auf Französisch. Der erste Band, 1928 erschienen, schlägt nun mit moderaten zwanzig Euro zu Buche, ebenso eine Sammlung von Aufsätzen des früh verstorbenen Frankfurter Althistoriker Konrad Kraft.
Das größte Glück aber beschert für hundertundachtzig Euro „Augustus und seine Zeit“ von Victor Gardthausen, drei Text und drei Anmerkungsbände im Nachdruck, zuerst erschienen zwischen 1891 und 1904, zusammen fast zweitausenddreihundert Seiten. 1912 kostete das Werk immerhin schon sechsundfünfzig Mark, nicht ganz wenig in einer Zeit, als ein junger Schlosser etwa tausend Mark pro Jahr verdiente, ein Gymnasiallehrer gut viertausend Mark. Gardthausen (1843-1925) wollte mit Recht „das Thema nicht so eng biographisch fassen“ und behandelt deshalb auch Verfassung, allgemeine Zustände, Kunst und Literatur ausführlich. Sein ungemein gelehrtes Werk, das alle Quellen und die damals vorliegende Literatur berücksichtigt, bestätigt vorab ein Dictum von Alfred Heuss, wonach Augustus geradezu ein Musterbeispiel dafür sei, wie ein langes Leben beinahe vollständig mit der objektiven Geschichte gleichzusetzen sei. Nüchtern betonte Gardthausen die militärische Grundlage des neuen Staates und verzichtete auch auf die in älteren Biographien so beliebte Charakterbilanz. Stattdessen erörtert er die damals strittige Frage, ob die Ordnung des Augustus eine Monarchie war, und läßt mit robustem Geschichtsrealismus Faktizität über Ideen siegen: „Ob Augustus von der von ihm erfundenen scheinbaren Zweiherrschaft von Kaiser und Senat anders gedacht hat, ob er darin die dauernde Verfassung des römischen Reiches für die folgenden Jahrhunderte glaubte gefunden zu haben, können wir nicht wissen; wahrscheinlich ist das nicht. Wir haben uns nur an die factischen Verhältnisse zu halten. Niemand kannte die Verfassung so gründlich wie Augustus, der sie selbst erdacht, die einzelnen Momente sorgfältig gegen einander abgewogen und mehrfach corrigirt hatte. Als sie zum ersten Male eine ernste Probe zu bestehen hatte, beim Regierungsantritte des Tiberius, bewahrte sie sich nicht als eine republikanische, sondern als eine monarchische; und wir haben keinen Grund anzunehmen, dass die Ansicht oder die Absicht des Augustus eine andere gewesen wäre.“
Noch heute profitiert von Gardthausens Fleiß und Vernunft, wer sich mit Augustus beschäftigt. Und eines seiner Urteile liest man gerade 2009 mit reinem Vergnügen, weil es nach über einem Jahrhundert wieder ebenso zutrifft wie damals (II 815): „Wenn wir die umfangreiche Litteratur über die Varusschlacht überblicken, deren Umfang leider nicht im Verhältniss steht zu ihren gesicherten Resultaten, so ist es auffallend, dass nur Deutsche sich an dieser Controverse betheiligt haben, während doch den anderen Nationen fast genau dieselben Waffen zur Verfügung stehen, sich an diesem Kampfe zu betheiligen. Es könnte also scheinen, dass Diejenigen, die der Controverse kühler und objectiver gegenüberstehen, absichtlich einen Kampf als aussichtslos vermeiden wollen, den wir mit so grosser Hartnäckigkeit immer wieder von Neuem beginnen.“