Ein eben erschienenes, einfühlsames Lebensbild Jacob Burckhardts aus der Feder von Kurt Meyer gibt Anlaß, über die Edition von akademischen Vorlesungen und Vorträgen nachzudenken.
Die Sache ist rasch skizziert: Jacob Burckhardt selbst hat drei große Werke veröffentlicht, alle in der ersten Hälfte seines wissenschaftlichen Lebens: Die Zeit Constantins des Großen, Der Cicerone und Die Kultur der Renaissance in Italien. Mit zweiundvierzig Jahren stellte er das Bücherschreiben ein. Abpressen ließ er sich lediglich die Publikation eines Stückes über die Kunst der Renaissance, und kurz vor seinem Tod (1897) willigte er ein, die Erinnerungen aus Rubens zum Druck zu befördern. Die zweite Säule seines Ruhms machen zwei Werke aus, die der Neffe Jacob Oeri mit behutsamer Hand aus zum Teil unübersichtlichen Vorlesungsmaterialien zu lesbaren Büchern gestaltete. Während Burckhardt noch selbst begonnen hatte, seinen Cursus Griechische Culturgeschichte in ein Reinschriftmanuskript zu übertragen, waren die Blätter zur Vorlesung Über das Studium der Geschichte „zum Verbrennen“ bestimmt. Unter dem Titel Weltgeschichtliche Betrachtungen traten sie in Oeris Buchfassung als historische Krisendiagnosen der Moderne ihren Siegeszug an.
(Bilder wg. Urheberrecht entfernt)
Burckhardts Werke sind thesenfreudig, greifen weit aus und zeigen zugleich ein scharfes intellektuelles Profil. Das Leben des Junggesellen, der nach Reisejahren und einer Lehrtätigkeit in Zürich nach Basel berufen wurde (1858) und dort starb, verlief demgegenüber eher unaufregend. Mit Recht vermerkt Meyer eine Paradoxie: Diese zwischen Schreibtisch, Lehrkanzel, Studienreisen und gelegentlicher Geselligkeit verbrachte Existenz hat eine Biographie in sieben Bänden, verfaßt von Werner Kaegi, und eine von Max Burckhardt veranstaltete Briefausgabe evoziert, die es in knapp vierzig Jahren auf zehn Bände brachte – und das, obwohl Burckhardt ausdrücklich keine Biographie wünschte und generell von seiner eigenen Person wenig Aufhebens machte. Außerdem kommt der Gelehrte, der kaum literarischen Ehrgeiz entwickelte, mehr als hundert Jahre nach seinem Tod mit der im Entstehen begriffenen Kritischen Gesamtausgabe zu einem gewaltigen Œuvre: Mehr als zwanzig Bände werden am Ende allein den Nachlaß darbieten.
Burckhardt schrieb keine Vorlesungsmanuskripte, aus denen sich leicht ein Buch machen ließ, und seine Vorträge – insgesamt etwa 170 – waren nicht für eine Publikation im Druck bestimmt. Vielmehr fertigte er Übersichten und Memorierzettel mit Namen, Zahlen, Zitaten und Stichwörtern, exzerpierte aus den Quellen wie aus neueren Büchern und schrieb gelegentlich auch so etwas wie Textbausteine nieder. Vor dem Vortrag studierte er das Material sorgfältig, memorierte und trug dann frei vor, manchmal unterstützt von lediglich einem einzigen Blatt. Mit anderen Worten: In den nachgelassenen Textkonvoluten fassen wir Burckhardts Arbeit und zahlreiche Bruchstücke geistiger Durchdringung, aber nicht unbedingt das, was er im Hörsaal dann tatsächlich sagte. Wiederum ein Paradox: Was ediert wird, bildet den lesenden und denkenden Gelehrten ab, aber eben nicht die kommunikative Konstellation, auf die er sich – durch den Verzicht aufs Bücherschreiben – doch so ganz und gar eingelassen hatte.
Diese Kommunikation läßt sich nur durch Hörernachschriften wiedergewinnen. Nun haben studentische Nachschriften einen notorisch schlechten Ruf. Man kann aber Glück haben und ein vorbildliches Exemplar finden, wie dies Alexander Demandt im Falle der Hensel-Nachschriften von verschiedenen Vorlesungen Theodor Mommsens zur römischen Kaiserzeit gelungen ist, für die es keine Manuskripte von der Hand des Professors (mehr) gibt. Der Vergleich mit der Gegenwart kann auch nicht mit Grund ins Feld geführt werden: Damals beherrschten manche Mitschreiber Stenographie, und generell war die Vorlesung eines bedeutenden Gelehrten ein Ereignis, das nicht mit so zahlreichen anderen Angeboten zu konkurrieren hatte und daher auf ein höheres Maß an Konzentration treffen konnte. Für Burckhardt gilt nun, wie Meyer feststellt: Die riesigen Textmassen, die den Nachlaß ausmachen, stellen über weite Strecken Materialsammlungen des Forschers dar; ihnen läßt sich aber in der Tat nicht entnehmen, was der Redner tatsächlich gesagt hat – und damit auch: wie und wodurch er gewirkt hat. Hier helfen die stenographischen Nachschriften, „erlauben sie eine Orientierung im uferlosen Meer der Notate“. Systematisch erschlossen ist dieses Material bislang nur für die von Burckhardt zwölfmal gehaltene Vorlesung über die Geschichte des Revolutionszeitalters, und zwar durch die Dissertation von Ernst Ziegler (Basel/Stuttgart 1974). Für den Herbst ist im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe eine Neuedition angekündigt, an der auch Ziegler beteiligt ist, im furchterregenden Umfang von fast 1800 Seiten. Dann wird sich wahrscheinlich sehr viel klarer darstellen, was Burckhardt gedacht und notiert hat, was er dann vortrug und was davon bei verschiedenen Hörern ankam.
Schon jetzt ist deutlich: Der Abstand zwischen den Notaten und dem Vorgetragenen war beträchtlich, im Umfang, vor allem aber in der Tonart. „Wenn wir vom Vorlesungsmaterial ausgehen“, so Meyers Einschätzung, „ertrinken wir im Meer des Geschriebenen, erkennen wir aufgrund der massenhaft eingeschobenen Blätter kaum noch den durchgehenden Hauptgedanken. Es ist kaum auszumachen, wo Burckhardt exzerpiert hat und wo der eigene Gedanke beginnt. Oft bleibt unklar, was Burckhardt aus einem Buch notiert hat und wo er selber das Wort ergreift.“ Der Biograph Kaegi, der noch mit Hörern Burckhardts sprechen konnte und zugleich den Nachlaß sehr gut kannte, äußerte sich in der Sache ambivalent, sprach sich jedoch entschieden gegen eine Veröffentlichung der historischen Vorlesungen aus: Das Kolleg über die Kultur des Mittelalters etwa gebe, da Burckhardt zur Vorbereitung ausgiebig zweitrangige Handbücher benutzt habe, nicht das Bild einer neuen originalen Konzeption. Doch am Ende „ist Burckhardts Materialsammlung wertvoller als die Sammlung der Nachschriften. Burckhardts eigene Aufzeichnungen sind reicher an Gehalt und Präzision … Es ist doch immer die Werkstatt Burckhardts selbst, in der man sich bewegt, und nicht der Kopf des Studenten.“ Emil Dürr, der für den Band Historische Fragmente im Rahmen der ersten Burckhardt-Gesamtausgabe aus der ungeheuren Textmasse eine knappe Auswahl traf, fand damals, es kämen nur einzelne Partien zum Publizieren in Betracht, diejenigen, die das Gepräge persönlicher Formulierungen Burckhardts erhalten haben. Ob es sich also lohnt, die Materialien zu allen historischen Vorlesungen Burckhardts vollständig zu edieren, ist zumindest zu überlegen. Vielfach hat sich Burckhardt – nicht verwunderlich bei seiner gewaltigen Lehrbelastung an der Universität und dazu zeitweise auch am Gymnasium – großzügig in Schlossers Weltgeschichte und den Werken Rankes bedient; er kochte, so Ziegler pointiert, „für seine Vorlesungen zum Teil mit sehr lauwarmem Wasser“. Anders sah das nur für die erwähnte Geschichte des Revolutionszeitalters aus; hier war er ganz bei sich und ganz original. Das gilt auch für das Kolleg Über das Studium der Geschichte und die weitgehend aus den Quellen erarbeitete Vorlesung Griechische Culturgeschichte.
Wie auch immer: Sollten die Vorlesungen und Vorträge aus dem Nachlaß dereinst komplett vorliegen, dann gälte mehr noch als bereits heute eine dritte, von Hugh Trevor-Roper formulierte Paradoxie: Burckhardts flüchtige, „provisorische“ Vorlesungsnotizen, von denen er annahm, sie würden nicht länger Bestand haben würden als ihr Nachklang im Ohr seiner Zuhörer, haben auf ironische Weise die monumentalen Bände seiner literarisch produktiveren deutschen Zeitgenossen überlebt, so wie auch die von ihnen verachtete Schweiz eben das Deutsch-Preußische Reich überlebte, das ihrer historisch gewandeten Weltanschauung Gültigkeit zu verleihen schien.
Hugh Trevor-Roper, The historical spirit, Times Literary Supplement v. 8.10.1982, zit. nach Kurt Meyer, Jacob Burckhardt. Ein Porträt, München 2009, S. 153/211.
Ernst Ziegler, Die Vorderseite des Teppichs. Bemerkungen zu den Nachschriften von Zuhörern Jacob Burckhardts, in: Urs Breitenstein, Andreas Cesana, Martin Hug (Hg.), Unerschöpflichkeit der Quellen (Beiträge zu Jacob Burckhardt, Bd. 7), Basel 2007, S. 313 ff.