Antike und Abendland

Antike und Abendland

Tagesaktualität, wie sie sich mit einem Blog verbindet, und Antike – das scheint nicht zusammenzugehen. Dennoch soll hier der Versuch gewagt

Minoische Moderne

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Von der antiken Weltalterlehre gibt es verschiedene Varianten; die Gegenüberstellung ist aber im Kern ganz einfach: der eigenen, als eisern betrachteten Zeit...

Von der antiken Weltalterlehre gibt es verschiedene Varianten; die Gegenüberstellung ist aber im Kern ganz einfach: der eigenen, als eisern betrachteten Zeit wird eine goldene Urzeit gegenübergestellt, das frühe Äquivalent einer Utopie. Als dann die Moderne ihre Utopien in die Zukunft projizierte, konnte das leicht monströse Gestalt annehmen, literarisch wie realgeschichtlich. Wie viel besser war es da, die Utopie in der Vergangenheit zu suchen, noch dazu, wenn diese mit wissenschaftlichen Methoden sichtbar gemacht werden konnte und gleichzeitig noch genug Spielraum für Vorstellungen ließ?
Für Europa hieß ein Ort dieser Utopie im ersten Drittel des Zwanzigsten Jahrhunderts Kreta. Tom Holland, Althistoriker und Sachbuchautor, hat jüngst im TLS zwei neue Bücher zum Anlaß genommen, die verschlungenen Pfade dieser Rekonstruktionen und Selbsterfindungen zu kartieren. James Joyce deutete 1922 schon durch den Titel seines Jahrhundertromans an, welche Faszination vom frühen Griechenland ausging. Hier fand man – befördert auch durch die Entdeckung der bronzezeitlichen, geometrischen und früharchaischen Kunst, für das altgewordene und durch den Ersten Weltkrieg zusätzlich ermattete Europa eine inspirierende Kindheit. Nun verwies Odysseus/Ulysses allerdings auf ein ehernes, kriegerisches Zeitalter, in Hesiods Weltalterschema die Epoche der Heroen, die nach der Ausgrabung der mykenischen Burgen ein ambivalentes Gesicht erhalten hatte: mächtige Mauern, gewiß, doch gerade sie verwiesen auf einen gewaltsamen Untergang. Und Agamemnon, durch Schliemanns Zuschreibung der bekannten Goldmaske zum Leitfossil des neuentdeckten Zeitalters erhoben, endete, wie man weiß, erbärmlich: Weil er seine eigene Tochter für einen Krieg zu opfern bereit war, wurde er von seiner Frau verraten und im Bad mit einer Axt erschlagen.
Zum Glück stand noch eine andere Formation zur Verfügung; Joyce nahm sie in der Figur des Daedalus in seinen Roman auf. Um 1900 trat die bronzezeitliche Kultur Kretas, nach ihrer mythischen Leitfigur als minoisch bezeichnet, ihren Siegeszug ins europäische Imaginäre an. Sie gehörte gemäß der üblichen Periodeneinteilung der Vorgeschichte an, aber gerade das privilegierte sie gegenüber dem zuvor als kanonisch betrachteten Klassischen Altertum, da deren „ganzheitlich, sinnlich und sinnhaft strukturierte Welten, die zugleich geheimnisvoll waren, ins Transzendente verwiesen“ (Th. Nipperdey).

Künstler, Forscher und Propheten, so spitzt Holland es zu, glaubten ein Stück der Zukunft wie der Vergangenheit des Westens erhaschen zu können, wenn sie dieses Kreta vermessen. Solchen Bemühungen förderlich war die Gemengelage aus Überresten und leeren Flächen, literarisch wie materiell. Natürlich waren der Minotaurus und die levantinische Königstochter Europa bekannte Gestalten, aber Kreta bildete anders als Theben oder Troja keinen Knotenpunkt eines Netzwerkes aus Mythen. So konnte man sich in eigenen Kombinationen und Spekulationen verlieren, wie im Labyrinth des Minos, und die leeren Flächen mit eigenen Mustern und Farben füllen. Viele Bücher, Gedichte und Gemälde huldigten dem Symbolismus. Der Minotaurus in seiner buchstäblich monströsen Mehrgestaltigkeit entbehrte einer kulturell kanonisierten Deutung und konnte so zur Projektionsfläche für alles mögliche werden; die Reihe der prominenten Deuter reicht von Nietzsche über Picasso bis Dürrenmatt. Noch von Rezeption zu sprechen, wenn Antike und Moderne ununterscheidbar werden wie in Picassos Satz, für ihn gebe es in der Kunst weder Vergangenheit noch Zukunft, dürfte sich verbieten. „Die Grenzen“, so Holland pointiert, „zwischen kretischem Mythos und den Neurosen der Moderne waren im Staub von Knossos ebenso verschwommen wie auf den Blättern des ‘Ulysses‘ oder auf der Leinwand von ‘Guernica‘.“ Angemessener sei das Bild des Möbiusbandes.

In die Namenreihe gehört natürlich auch Sir Arthur Evans (1851-1941). Holland verweist auf dessen durchaus gemischte Ideenwelt. Evans glaubte, daß es minderwertige Menschenrassen gebe, die westliche Zivilisation ihren Ursprung in Afrika habe und die beste Zeit der Weltgeschichte das friedliche Matriarchat im Minoischen Kreta gewesen sei. Er rekonstruierte nicht nur die gekurvten Säulen des Knossos-Palastes in Beton, sondern auch eine unkriegerische Welt aus weiblichen Gottheiten, Priester-Transvestiten und jungen Sportlerinnen. Die Insel des menschenfressenden Monsters mutierte zur pazifistischen Utopie. Wolf-Dietrich Niemeier hat vor einiger Zeit den Kern des Sachverhaltes im Titel eines präzisen Aufsatzes zusammengefaßt: „Die Utopie eines verlorenen Paradieses: die Minoische Kultur Kretas als neuzeitliche Mythenschöpfung“. Niemeier verdeutlicht nicht nur die Wechselwirkungen zwischen der Interpretation der minoischen Kunst und dem Jugendstil, er referiert auch, was die neuere Forschung zur angeblich friedlichen minoischen Kultur zu sagen hat: Es gab Befestigungen, und vor allem war Kreta zur fraglichen Zeit in der gesamten Ägäis der führende Waffenproduzent, exportierte nach Mykene, in den Vorderen Orient und nach Ägypten. Bereits die antike Tradition schrieb Minos die erste Seeherrschaft im Mittelmeer zu. Auch von einem Matriarchat oder einer zweckfreien Kunst kann keine Rede sein, die Minoer waren weder frei von religiöser Angst noch rein „weltlich im besten Sinne des Wortes“ (Henry Miller). Niemeier zitiert den britischen Archäologen Anthony Snodgrass, der den heuristischen und wissenschaftsgeschichtlichen Kern des Phänomens freigelegt hat: „Der Platz, der in der Klassischen Archäologie von den antiken Schriftquellen, in der vorderasiatischen Archäologie von den Keilschrift- und Hieroglyphentexten sowie der Bibel eingenommen ist, wird in der Archäologie der ägäischen Bronzezeit von den Interpretationen ihrer Ausgrabungen durch die frühen Ausgräber eingenommen.“ Zugleich traf Evans Konstruktionsfreude auf intellektuelle Formationen und Bewegungen, die Symbole und griffige Vorbilder suchten, um ihre Argumente zu untermauern. „Indeed“, so faßt Holland dieses produktive Zusammentreffen, „it is testimony to the potency and sheer strangeness of the world conjured up by Evans that it could appear to psychoanalysts as an infant stratum long buried in the European psyche, and to feminists as a prelapsarian locus for that ‘thoroughly modernist female archetype‘, the Great Mother.“

Nach dem Ende der Utopien ist das Bedürfnis wenigstens nach dem Goldenen Zeitalter in ferner Vergangenheit durchaus nicht vergangen. Was Kreta betrifft, hat es sich allerdings weitgehend in esoterische Kreise und die Romanliteratur zurückziehen müssen. Die Wissenschaft hat wieder ganze Arbeit geleistet. „The Minoan world of today’s scholarship is one scarred by factionalism, brutality and cannibalism. As a result, the culture that served idealists throughout the twentieth century as a luminous reassurance that civilization could indeed coexist with peace, the feminist virtues, and a blissed-out hedonism is being reconfigured as a dystopia.“ Sogar die Monster sind wieder da. Und niemand hat einen Ariadnefaden, um aus dem selbstgebauten Labyrinth einer unwohnlichen Moderne herauszukommen.
Bild zu: Minoische Moderne

Die von Tom Holland besprochenen Bücher:
Theodore Ziolkowski, Minos and the Moderns. Cretan myth in twentieth-century literature and art. Oxford University Press, 173 S., £ 29.99
Cathy Gere, Knossos and the Prophets of Modernism. University of Chicago Press, 270 S., $ 27.50.

Der Aufsatz von W.-D. Niemeier ist zu finden in: Reinhard Stupperich (Hg.), Lebendige Antike. Rezeption der Antike in Politik, Kunst und Wissenschaft der Neuzeit. Mannheim 1995, 195-206.

Eine knappe Übersicht zur Rezeption der Minotauros-Figur mit weiterführender Literatur bietet Kirsten Dickhaut, in: Maria Moog-Grünewald (Hg.), Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart (Der Neue Pauly, Suppl. 5). Stuttgart/Weimar 2008, 433-435.


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