Antike und Abendland

Antike und Abendland

Tagesaktualität, wie sie sich mit einem Blog verbindet, und Antike – das scheint nicht zusammenzugehen. Dennoch soll hier der Versuch gewagt

Von der Beschränktheit nachträglichen Besserwissens

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Die Frage „Was wäre gewesen, wenn (nicht) ..." hat unter Historikern eine lange Tradition, ja, sie ist so alt wie die große Geschichtsschreibung selbst....

Die Frage „Was wäre gewesen, wenn (nicht) …“ hat unter Historikern eine lange Tradition, ja, sie ist so alt wie die große Geschichtsschreibung selbst. Als Herodot gegen verbreitete Polemik den überragenden Anteil der Athener am Sieg gegen die Perser aufzuweisen suchte, stellte er ein Gedankenexperiment an: Wenn die Athener damals den Lockungen des Xerxes gefolgt und aus der Koalition ausgestiegen wären, dann hätte den Spartanern all ihre Tapferkeit nichts genutzt: Sie wären auf der Peloponnes überwältigt worden oder hätten ihrerseits um Frieden bitten müssen (7, 139). Herodot suchte nach einem historisch gerechten Urteil mit dem Ziel, rückblickend Verflechtungen offenzulegen, die keine einfachen Zuschreibungen mehr erlaubten und denkende Hörer veranlassen sollten, auch in der Gegenwart den Punkt des Gegenüber in Rechnung zu stellen.

Doch die kontrafaktische Überlegung konnte auch einem simplen Patriotismus dienen. So stellte Livius, ein Zeitgenosse des Augustus, in seinem großen Geschichtswerk Ab urbe condita einmal die Überlegung an, was geschehen wäre, wenn Alexander nicht in Babylon gestorben wäre und sich vier Jahre später in seinem unersättlichen Drang, immer in Bewegung zu bleiben, nach Westen, gegen Rom gewandt hätte (9, 17-19). Natürlich, so Livius, wäre Alexander unterlegen. Den Stand der römischen Herrschaft in Italien und den Vergleich der beiden Militärwesen berücksichtigend muß dies als reichlich optimistische Annahme angesehen werden. Immerhin ist aber richtig gesehen, daß die Expansionsdynamik der Makedonen unter Alexander allein in der Person des Königs begründet lag, also extrem zufallsanfällig war (was der tatsächliche Geschichtsverlauf dann ja auch bestätigt hat), während der Wille der Römer, sich zu behaupten und zu expandieren, von einer ganzen politischen Klasse, die sich just in dieser Zeit in ihrer robusten Eigenart auszubilden begann, geradezu gelebt wurde. Gefallene Konsuln waren zu ersetzen, Alexanders Tod änderte hingegen alles.

Dem Urteil des Livius liegt analytisch gewiß eine Rückschauverzerrung zugrunde, denn er kannte den unwiderstehlich erscheinenden Aufstieg Roms zur unumstrittenen Großmacht Nummer eins in den folgenden Generationen. Den langfristigen Erfolg, der später dem Griechen Polybios so unwahrscheinlich und erklärungsbedürftig erschien, hat der römische Geschichtsschreiber in ein mögliches Ereignis am Anfang dieses Aufstiegs projiziert.

Meistens aber funktionieren Rückschauverzerrungen anders. Es werden Fehler identifiziert und isoliert, die am Ende zu einem Mißerfolg oder einem Unglück führten; gleichzeitig wird – und darauf kommt es an – wird dem Handelnden unterstellt, er hätte den Fehler durchaus vermeiden können, wenn er nicht gegen allgemeine Verhaltensregeln verstoßen oder guten Rat verworfen hätte. Das historische Paradebeispiel findet sich ebenfalls bei Livius; es hat einem kleinen Tagungsband den Titel gegeben, den der unermüdliche Kai Brodersen kürzlich herausgegeben hat: Vincere scis, victoria uti nescis. Aspekte der Rückschauverzerrung in der Alten Geschichte. Münster: LIT-Verlag 2008, 128 S., € 19,90. Die Szene, die vor Livius (22,51) schon Cato beschrieben hatte, ist filmreif: Nach der Schlacht von Cannae gibt es in Italien kein römisches Heer mehr. Im Kriegsrat beraten die siegreichen Karthager, wie der schwer angeschlagene Gegner endgültig zu besiegen sei. Maharbal verspricht, mit einer schnellen Reiterabteilung Rom zu nehmen; Hannibal könne schon in vier Tagen auf dem Capitol speisen. Als Hannibal dies ablehnt – er brauche Zeit, den Erfolg zu begreifen und den Vorschlag zu bedenken -, bekommt er zu hören: „Zu siegen verstehst du, Hannibal, den Sieg zu nutzen verstehst Du nicht!“ Man nehme an, so schließt Livius, daß der Aufschub dieses Tages die Rettung für die Stadt und die Herrschaft bedeutete.
Was auf den ersten Blick plausibel wirkt, ist es nach genauerer Analyse nicht mehr, wie Klaus Zimmermann (Jena) zeigt. Denn – erstens – unterschlägt der Schluß von der Handlungsalternative i.J. 216 v.Chr. auf ein alternatives Kriegsergebnis zahlreiche Möglichkeiten, die sich auch bei einem Sturm auf Rom notwendig ergeben mußten. Hannibal aber hatte den Kern der römischen Stärke, nämlich das Bundesgenossensystem in Italien, richtig erkannt und setzte hier den Hebel an. Dabei stellten sich durchaus beachtliche Erfolge ein, während ein Sturm auf Rom, das frühestens zwei Wochen nach Cannae zu erreichen gewesen wäre, zahlreiche Risiken barg: Es drohten Nachschubschwierigkeiten, Seuchen, Disziplinprobleme und v.a. der Verlust der Bewegungsdynamik. Außerdem hatte Hannibal wahrscheinlich gar nicht vor, Rom zu zerstören und den römischen Staat zu beseitigen (solche annihilatorischen Kriegsziele waren in der Antike eher selten). Ein Scheinangriff auf Rom fünf Jahre später (Hannibal ad portas!) dient dem Ziel, die von den Römern bedrängte Stadt Capua davon abzuhalten, erneut die Seiten zu wechseln. Letztlich scheiterte Hannibal, weil die Römer durchhielten und es den Karthagern weder 216 noch 207 gelang, aus Spanien entscheidende Verstärkungen heranzuführen.
Der Jurist Ulrich Falk leitet den Band mit einem aufschlußreichen Beitrag ein. Denn alltäglich haben wir vor Gericht mit dem Phänomen der Rückschauverzerrung (hindsight bias) zu tun, wenn es um Fahrlässigkeit geht. Nicht ganz falsch sei die Kritik an der gängigen Rechtsprechung, diese sei mit dem Vorwurf der Fahrlässigkeit viel zu schnell bei der Hand und fordere ein geradezu unrealistisches Maß an Vorsicht und Voraussicht. Psychologische Studien über den knew-it-all-along-Effekt bestätigen, was simple Überlegung auch zutage fördert: In der Rückschau neigen Menschen dazu, die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmtes Ereignis womöglich eintreten kann, deutlich zu überschätzen, weil sie wissen, daß dieses Ereignis tatsächlich eingetreten ist. Daraus resultieren auch die aktuellen Schuldzuweisungen: Die Sicherheitsorgane hätten die Indizien auf den 11. September erkennen und ernstnehmen müssen, die Wirtschafts- und Finanzexperten hätten die Finanzmarktblase und deren Platzen vorhersagen könne und müssen. Historiker sollten sich jedenfalls vor zwei Fehlern hüten: die Ereignisoffenheit komplexer Konstellationen zu unterschätzen und zu glauben, man habe einen geschichtlichen Prozeß schon zum guten Teil erklärt, wenn man nur ein Resultat benennen könne.
Zwei weitere Beiträge liefern höchst aufschlußreiche Analysen historischer Entscheidungssituationen und zeigen zugleich, wie diese schon von den antiken Autoren im Rückblick – aus verschiedenen Gründen – mißdeutet wurden. So kann Anton Powell wahrscheinlich machen, daß die Spartaner 404 und 403 v.Chr. Athen nicht zerstörten, weil sie fürchteten, der ‘starke Mann‘ in ihren eigenen Reihen, Lysander, könnte durch die Auslöschung des Angstgegners noch mehr an Prestige, vor allem aber an Beutegeld gewinnen und dadurch vollends aus dem Ruder laufen. Plausibel erscheint seine Rekonstruktion auch deshalb, weil die zugrundeliegende innerspartanische Uneinigkeit in einer langen Reihe stand und offenbar etwas mit dem politischen System zu tun hatte: Dieses setzte voll und ganz auf Konsens, hielt aber keine Instrumente bereit, auftretende Konflikte politisch zu handhaben und zu entschärfen. Zwei Generationen später zog Philipp II. nach seinem Sieg über die von Athen geführte antimakedonische Koalition nicht nach Athen, sondern feierte eine ausgelassene Orgie mit viel Wein, Flötenspielerinnen und Possenreißern; dabei verhöhnte er seinen Erzfeind Demosthenes, den Kopf der Anti-Philipp-Richtung in der athenischen Politik. Athen aber brauchte er für seinen geplanten Feldzug ins persisch beherrschte Kleinasien, sowohl die Flotte der Stadt als auch deren kaum gemindertes politische und ökonomisches Gewicht.

Was die restlichen vier Beiträge in dem – freilich ohnehin schmalen – Band zu suchen haben, ist unerfindlich; sie behandeln das Scheitern von Antiochos III. gegen die Römer, den Partherkrieg Trajans, die ‘Kriegslisten‘ des Polyainos und die (für sich genommen spannende) Frage, warum sich Aristarch mit seinem heliozentrischen Weltbild nicht gegen Ptolemaios‘ Modell eines geozentrischen Kosmos durchsetzen konnte. Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, noch einige einschlägige Aufsätze einzuwerben, als alles zu drucken, was auf der Tagung vorgetragen wurde. Dennoch: bis Seite 82 eine im Sinne einer intellektuellen Herausforderung höchst lesenswerte Sammlung, die der Diskussion um Zufall, Kontingenz und Kontrafaktizität in der Geschichte weiteren Auftrieb geben wird.

Der Band ergänzt in gewisser Weise einen Vorgänger: Kai Brodersen (Hg.), Virtuelle Antike. Wendepunkte der Alten Geschichte, Darmstadt: Primus-Verlag 2000.


1 Lesermeinung

  1. Devin08 sagt:

    Geschichtsoffen?
    Man hält...

    Geschichtsoffen?
    Man hält Alexander im Allgemeinen für einen abendländischen Helden, wobei doch gerade die Schicksale so zweier Weltreiche, wie das des römischen und des makedonischen Alexanders, in eine ganz andere Richtung weisen. Ernst Jünger hat das in seiner kleinen Schrift „Der gordische Knoten“ sehr schön dargelegt, worin der Unterschied zwischen einem abendländischen und einem morgenländischen Helden, Kriegsfürsten, König etc. wohl zu liegen hat. Nach Alexander tobten die Diadochenkämpfe, aber es gab kein makedonisches Reich mehr. Römische Kriegsherren, Kaiser, Tribune etc. waren jederzeit zu ersetzen, wenn auch oft mit ernormen Verlusten. Aber der Wille war da, dies zu tun. Nicht so im makedonischen Großreich, das damit sein Wesen als ein im Wesentlichen orientalisches Reich zu verstehen gibt. Alexander der Große, ein orientalischer Großfürst mitten in der Wiege des Abendlandes. Das sollte noch verdaut werden.
    Das zeigt auch, dass die Grenze zwischen Orient und Okzident keine geografische ist, sie ist somit auch keine feste, möglicherweise nicht mal eine wirkliche, denn eine im höchsten Maße virtuelle gar, eine Frage des Geistes, der da herrscht, eine Frage nach den Gründen.
    Alexander hat nicht viel abbekommen, von seinen Meistern, auf die sich das Abendland bis heute beruft, den griechischen Philosophen, vorneweg von einem Großmeister, namens Aristoteles. Eine merkwürdige Dialektik. Einerseits gründet sich mit Alexander der sog. Hellenismus, andererseits ist an diesem Alexander nur eines „hellenistisch“, sein politisch geformtes, wenn nicht gar nur „aufgeblasenes“ Machtbewusstsein, wenn nicht gar nur der „Dialekt“. Und doch waren darin erst die Römer die eigentlichen Abendländer (selbst die berühmten Athener waren hiergegen wohl noch Hirtenvölker). Die Verachtung der Römer, so wie schon die der Schüler Aristoteles, eben gegen diesen Alexander, jenem „zum Bersten aufgeblasenen Tier“(Seneca/Wikipedia) war sprichwörtlich nichts als jener Hass gegen das Fremde, das Barbarische, das Orientalische – das vielleicht ursprüngliche, tiefer liegende.
    Geschichtsoffen war daher zu Lebzeiten Alexanders nur eines, nämlich wie weit er wohl kommen würde – in Richtung Asien. Aber erstens war klar, dass er nach Asien wollte und zweitens dürfte auch schon klar gewesen sein, dass nach seinem Leben, mit seinem Ableben, sein Reich zerfallen wird, nicht unter Einfluss von einfallenden Barbaren, sondern ob jenes „Barbaren“, das dieser Alexander doch noch war.
    Seine Selbststilisierungen sprachen ein Übriges. Nur ein orientalischer Fürst, ein barbarischer Fürst, schaffte das ohne völlig abzudrehen wie ein römischer Nero oder Caligula. Er konnte tun was er wollte, er blieb ein männlicher Held, ein anzubetender, nicht nur zu fürchtender. Ein Alexander war in nichts beschränkt, durch ihn wurde nichts repräsentiert, er war die unmittelbar Gestalt dessen, was es zu repräsentieren galt, auch wenn seine Leute, stolze makedonische Fürsten, ihm dabei gerne den Hals umgedreht hätten, zum Beispiel als er sich jene Roxane ins Bett holte. Aber selbst diese, so die Legende, besiegte er auf orientalische Weise. Sonst hätte er das erste Abenteuer nicht überlebt, mit ihr im Bett. Und hierin ließ er keinen Zweifel mehr, nämlich wohin sein Herz ihn führte, was seine Bestimmung für ihn war – die Rückeroberung seiner orientalischen Vorgeschichte, die Vergewisserung nicht die Sublimierung seiner Urinstinkte.
    Somit ist das „Abendland“ vielleicht auch nur der Reflex auf einen solchen barbarischen Rückfall. Die Antithese auf eine Entwicklung, die im innersten wohl schon irreversible war, in Bezug auf die Entwicklung der Menschheit, deren Geisteskulturen, wie deren Sublimierungen. Die scheinbare Rückkehr im Moment einer historisch zu nennenden Revolution, im Moment ihrer Geschichtswerdung.
    Es wundert nicht, dass die härtesten Kritiker eines Alexanders aus den Reihen der römischen Stoiker kommen. Ist doch die Stoa seit dem eines Westens „worst case“, Philosophie der Krise, wie Krise der Philosophie. Wohl so wie ein Abendland der offenkundige Beginn der Krise überhaupt, der Riss durch die Welt, durch deren Gedanken, Gefühle, Klassen, Nationen, ja ganze Regionen. Die Offenbarung von Dialektik und Klassenkampf, Antagonismus, neuer Blüte und Zerfall.
    Geschichtsoffen ist dann nur noch, was danach kommt. Alexander war der letzte, der einen gordischen Knoten auf alte Weise zu lösen verstand – durch das Schwert -, ohne dass dabei die Welt in sich zusammenbrach, denn er war die Welt, derer noch ungeteilt.

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