Antike und Abendland

Antike und Abendland

Tagesaktualität, wie sie sich mit einem Blog verbindet, und Antike – das scheint nicht zusammenzugehen. Dennoch soll hier der Versuch gewagt

Welche Akropolis, welches Forum? Rekonstruierte Geschichte und ihre Kollateralschäden

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Die Geschichte eines bedeutenden antiken Platzes durch Ausgrabung und Rekonstruktion zur Evidenz zu bringen ist ein notorisch schwieriges, vielleicht...

Die Geschichte eines bedeutenden antiken Platzes durch Ausgrabung und Rekonstruktion zur Evidenz zu bringen ist ein notorisch schwieriges, vielleicht unlösbares Problem mit geschichtstheoretischer Dimension. Archäologen graben sich seit Schliemann Schicht um Schicht in die Erde und dokumentieren die einzelnen Phasen von Bebauung und Nutzung in ihren Fundtagebüchern, Photographien und Plänen. Diesem exakten Geschäft eignet eine gewisse Unanschaulichkeit. Was aber soll nach erfolgter Ausgrabung zu sehen sein, wenn die Wissenschaftler mit ihrer geübten Vorstellungskraft und ihrem Interesse am Detail abgezogen sind und die Touristen kommen, für die Trümmer nur Trümmer sind und die sich nicht vorstellen können, wie das alles ganz früher einmal ausgesehen hat? Hinzu kommt die Frage der Privilegierung. Die Überreste der jüngeren Phase liegen weiter oben, die der älteren Zeit tief unten. Stellt man jene aus, bleibt diese verschüttet, will man diese erneut sichtbar machen, muß man alles Spätere wegräumen, mithin also auch zerstören. Ein Dilemma: Entweder die alte Geschichte bleibt unsichtbar oder die spätere wird unsichtbar gemacht.
Manchmal liegen die älteren Epochen zwar nicht unter meterhohen Erd- und Schuttschichten verborgen, aber sie sind durch später hinzugekommene Neu-, An- oder Umbauten und neue Nutzung für andere Zwecke gleichsam überwuchert; auch in dieser zweidimensionalen Konstellation ist das Jüngere zunächst einmal im Vorteil.
Diesen – hier sehr vereinfacht skizzierten – Hintergrund muß man kennen, um eine periodisch aufflammende Debatte verstehen zu können. Erst jüngst wurde im Zusammenhang mit der Eröffnung des grandiosen neuen Akropolis-Museums wieder darauf hingewiesen, daß die Akropolis in ihrem heutigen Zustand eigentlich ein ganz unhistorisches, allein als Produkt eines radikalen Klassizismus verständliches Ensemble darstelle (s. G. Gillessen, F.A.Z. v. 23.5.09). Im ideologie- und disziplinkritischen Rückblick hat man die Entfernung aller Elemente, die nicht ins ausgehende 5. Jh. v.Chr. gehörten, als „modernes Ruinenkonstrukt“ angesprochen (Schneider/Höcker). Es gehört in die Zeit nach der Wiederherstellung Griechenlands als Staat: „Für die Verwirklichung des Traums von der ‘reinen‘ klassischen Antike, die sich über der ebenso ‘reinen‘ Natur erhebt, bot der verlassene Platz nun die günstigsten Voraussetzungen. Zwar stellte sich die zertrümmerte Akropolis noch immer als ein bunter Abdruck ihrer wechselvollen Vergangenheit dar, aber diese Vergangenheit war wesentlich auch von der osmanischen Besatzung geprägt, aus griechischer wie aus deutscher Sicht also vom orientalischen Feind. Den damaligen Archäolo-gen erschien dieser Zustand nicht wert, dokumentiert oder gar physisch konserviert zu werden. Das längst Vergangene, nicht die Gegenwart als Ergebnis von Geschichte, galt als erhaltenswert, und so begann das – vorerst letzte – große Zerstörungswerk, diesmal unter dem Banner der Wissenschaft.“ Also hatten fränkische, venezianische, byzantinische und türkische Einbauten und Überreste, wie sie in „The Antiquities of Athens“ von Stuart und Revett (1731/1787) noch zu sehen sind, zu weichen und wurde der Berg bis auf den nackten Felsen abgetragen. Was blieb, war ein Zustand, der so zu keiner Zeit existiert hatte. Ironie: Just die Publikation, welche die Begeisterung für die griechische Klassik in Europa maßgeblich auszulösen half, dokumentiert zugleich den ‘unklassischen‘ Zustand der Akropolis in ihrer historischen Gewachsenheit.

Aber gegen alle nachträgliche Klugheit darf doch die Frage gestellt werden, was damals, als Geschichte noch Sache heißer Herzen und ganzer Nationen war, die Alternative gewesen wäre, von griechischen Identitätsbedürfnissen nach der Osmanenzeit einmal abgesehen: Hätte man den Burgberg, der auch als Gedächtnisort einer europäischen Kultur, die zu einer Erneuerung im Geiste von Freiheit, Bildung und Schönheit bereit war, keinesfalls entbehrt werden konnte, denn in seiner gewordenen Unkenntlichkeit belassen sollen? Einschließlich der nachantiken Festungsbauten? Sinnstarke Geschichte zu schreiben, ob mit der Feder oder durch gehobene Monumente, bedeutet immer auch Auswahl, bedeutet immer, das eine in den Vordergrund zu rücken, das andere an den Rand zu drängen. Nur lassen sich im Archiv und am Schreibtisch neue Interessen und gewandelte Prioritäten leichter verfolgen als in einem Gebäudeensemble, wenn dort zuvor abgerissen und weggeräumt wurde. Belassen oder abreißen – die Ambivalenz hat niemand besser beschrieben als Ferdinand Gregorovius:
„Der Frankenturm, welcher schwerlich ohne Grund vom Volk der Athener diesen Namen erhalten hatte, stand auf dem Stylobat des südlichen Flügels der Propyläen, dem Tempel der Nike Apteros gegenüber, ein roher, viereckiger, unverjüngter Bau mit einem einzigen Eingange im Westen und einer hölzernen Treppe im Innern. Er war 6 m hoch, fast 8 m breit und durchaus den Frankentürmen in Böotien ähnlich. Quadern von Piräusstein und einzelne Blöcke von pentelischem Marmor bildeten sein Material. Bei seiner Errichtung hatte man den Niketempel unversehrt gelassen, aber einen Teil des Propyläenflügels zerstört oder eingebaut und Marmorsteine daraus verwendet. (…)
Der plumpe Turmkoloß, von dessen Plattform der Blick des Wächters das Meer und die Straßen Attikas umfassen konnte, blieb jahrhundertelang das fernhin sichtbare Wahrzeichen der mittelalterlichen Stadt Athen, deren barbarisches Zeitalter er darstellte, wie ehedem der eherne Athenekoloß des Phidias die klassische Zeit dargestellt hatte. Er wurde im Jahre 1874 abgetragen und fiel so als Opfer des modernen Purismus der Athener, wie im Jahre 1887 der schöne Turm Pauls III. auf dem Kapitole Roms gefallen ist, um dem Nationaldenkmal des Gründers der italienischen Einheit Platz zu machen. Wenn jenes Prin-zip der Reinigung antiker Monumente von den als barbarisch angesehenen Zutaten des Mittelalters, welches in unseren Tagen eben auch in Rom zur Anwendung kommt, irgendwo entschuldigt werden kann, so darf dies in Hinsicht auf die Akropolis Athens der Fall sein. Freilich ist ein solches Verfahren an sich stets mit Verlusten für die historische Kenntnis verbunden; denn die Denkmäler einer geschichtlichen Epoche werden dadurch zugunsten einer andern vernichtet, und die Verbindung der Zeiten und Schicksale, welche Städte ehrwürdig macht, die Geschichte aber erst zum Bewußtsein des Weltzusammenhanges erhebt, wird für immer zerstört. Die Befreiung der Akropolis Athens von allen ungriechischen Zutaten wurde schon im Jahr 1835, in der ersten Begeisterung für das wiedererstandene Hellenentum, begonnen.“

Die gleiche Geschichte läßt sich natürlich auch für Rom erzählen, etwa für das Forum Romanum, wie eine kürzlich im TLS angezeigte Studie in Erinnerung ruft. Bereits in der Renaissance interessierte man sich dort besonders für die Antike, aber ein Mangel an Mitteln und Radikalität sorgte dafür, daß sich dies lediglich in Zeichnungen niederschlug, auf denen die nachantike Bebauung getilgt war.

Später ging man gründlicher zu Werke. So wurde um 1830 der Titus-Bogen von den darangebauten Häusern befreit. In der zweiten Hälfte des Neunzehnten Jahrhunderts – auch hier stand wieder eine Staatsgründung Pate – hörte das Forum auf, ein von Menschen und Tieren belebter Ort mitten in der Stadt zu sein, und bot sich statt dessen als „langer, sauberer, gräulicher Graben“ dar (É. Zola). Auch die barocken Kirchen an und auf dem nunmehrigen Museum antik-römischer Größe wurden zerstört oder mußten ihr Gesicht (d.h. ihren Eingang) vom neuen Heiligtum, dem Zentrum des imperialen Rom, abwenden. Erhaltene Monumente wie die Bögen haben durch den Abtrag von mehr als sechs Metern gewiß an Sichtbarkeit gewonnen, aber vielfach wurden auch nur Fundamente oder noch weniger gefunden. Erst die geschichtsgepanzerten Mare Nostro-Träume der Faschisten verhalfen Bauten wie dem Vesta-Tempel zu einer erneuerten Existenz. Die Kurie, also das Senatsgebäude, das später zur Kirche S. Adriano geworden war, verlor in dieser Zeit ihre gesamte nachantike Ausstattung. Man profanierte die Kirche und suchte den antiken Zustand wiederherzustellen; das Ergebnis war „ein steriler Bau, der seine Geschichtlichkeit verloren hat“ (F.A. Bauer). Ein kleiner Trost: Auch diese Hyperhistorisierung, die zugleich die Geschichte ausgetrieben hat, ist ihrerseits Geschichte geworden. Und was das Forum einst war, davon können wir uns mit Hilfe von Piranesi und seinen Kollegen immerhin noch ein gutes Bild machen.

Literatur:
– Lambert Schneider, Christoph Höcker, Die Akropolis von Athen. Eine Kunst- und Kulturgeschichte. Darmstadt (Primus) 2001 (das Zitat S. 47f.)
– Ulrike Muss, Charlotte Schubert, Die Akropolis von Athen. Graz (ADEVA) 1988
– Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Athen im Mittelalter (1889). Neuausgabe München (dtv) 1980 (das Zitat S. 491f.)
– David Watkin, The Roman Forum. London (Profile) 2009
– Klaus Stefan Freyberger, Das Forum Romanum. Mainz (Philipp von Zabern) 2009.

Bilder: [Alle Bilder wg. Urheberrecht entfernt]
Stuart/Revett: Die Akropolis im 18. Jh. (aus: Schneider, Höcker [2001] 48) – Blick auf den Parthenon von den Propyläen aus (aus: Edward Dodwell, Klassische Stätten und Landschaften in Griechenland [1821], Neuausg. Dortmund 1982, 25) – Die Propyläen. Lithographie aus d. 19. Jh. (aus: Gregorovius [1889/1980] 35) – Anonyme Ansicht des Forum Romanum, ca. 1491 (aus: Franz Alto Bauer, Artikel Rom II: Forum Romanum, in: Der Neue Pauly, Bd. 15/2. Stuttgart/Weimar 2002, 879-892, Abb. 3) – Lievin Cruyl, Ansicht des Campo Vaccino vom Kapitol, 1675 (aus: ebd., Abb. 2).


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