Antike und Abendland

Von Hadleyville nach Troja: Staatsbürgerkunde im Kino gestern und heute

Vorletztes Wochenende lief wieder einmal „High Noon“ im Fernsehen. Ich habe den Film das erste Mal wohl auf einer Klassenfahrt gesehen, als 16mm Kopie an einem Abend im Schullandheim auf Borkum. Anschließend wurde noch diskutiert, und in der Tat genoß Fred Zinnemanns einziger Western gerade in Deutschland hohes Ansehen als Parabel auf die Schwäche bürgerschaftlichen Engagements angesichts einer gewalttätigen Bedrohung. Es gibt zahlreiche Deutungen des Films, der gegenüber simplen Lesungen indes resistenter ist, als man auf den ersten Blick denkt. So ist er – um nur einen Gesichtspunkt zu nennen – sicher auch ein politischer Zivilisationswestern, der den kritischen Übergang zwischen dem Faustrecht und der internalisierten Ordnung zeigt, ähnlich wie später John Ford in „The Searchers“ und „The Man Who Shot Liberty Valance“. Aber die sog. Ordnung, so die Pointe bei Zinnemann, hat in der Stadt Hadleyville die regellose Gewalt nicht gebrochen, sondern in sich aufgenommen (wie später die amerikanische Gesellschaft der 1920er und 1930er Jahre den Gangster): Als der kriminelle Frank Miller noch dort lebte, war da immer etwas los, boomten Kneipen und Bestattungsunternehmen. Und einer der Honoratioren plädiert zwar dafür, nicht zuzulassen, daß die schmucke, aufstrebende Stadt höheren Orts wieder mit Gewalt identifiziert wird. Um das zu erreichen, müsse man aber nicht etwa gegen die Revolverhelden vorgehen, sondern Sherrif Kane, den Mann der Ordnung, der Hadleyville erst zu dem gemacht habe, was sie nunmehr darstelle, in die Wüste schicken – dann werde es gar keinen Konflikt mehr geben. Die angestrengten Macher mögen ihren Film als politische Mahnung zu mehr Engagement gedacht haben, aber die ‘guten Bürger‘ geben ein so jämmerliches Bild ab, daß „Zwölf Uhr mittags“ durchaus auch als Rechtfertigung autoritärer Herrschaft und gewaltsamer Lösungen verstanden werden kann.

Und wo bleibt die Antike? Bevor der Richter die Flucht ergreift, weil die Stadt es nicht wert sei, für die zu sterben, erzählt er Will Kane eine Begebenheit aus dem 5. Jahrhundert v.Chr.: Damals hätten die Bürger einer Stadt zunächst mit vereinter Kraft ihren Tyrannen vertrieben. Als der aber mit einem Söldnerheer zurückgekommen sei, hätten dieselben Leute ihm nicht nur die Tore geöffnet, sondern auch zugesehen, wie die Mitglieder der rechtmäßigen Regierung hingerichtet worden seien. Hier hat die politische Pädagogik einen kreativen Umgang mit der Geschichte ausgelöst; jedenfalls ist mir aus der genannten Epoche kein auch nur in groben Zügen ähnlicher Vorgang geläufig.

Aktualisierend aufgeladen, freilich eindeutiger als „High Noon“ (oder kommt uns das nur so vor?), ist auch Wolfgang Petersens „Troja“, der vor gut fünf Jahren in die Kinos kam. „Troja“ war im Frühjahr 2004 ein eminent politischer Film. Man sah die Szene, in der griechische Soldaten – nicht das archaisch-distanzierende Wort Krieger wird gebraucht, sondern immer wieder: Soldaten – die trojanische Priesterin Briseis mißhandeln, ihr ein Brandmal aufzudrücken im Begriff sind und Schlimmeres androhen, mit einiger Beklommenheit – die Folterbilder aus den amerikanischen Gefängnissen im Irak waren noch frisch. Agamemnon ist ein machtbessener Wüterich mit einem Ego größer als die Welt, die zu erobern er angetreten ist; die Allusion auf den damaligen US-Präsidenten war nicht zufällig, sondern gewollt. Die alten Männer an der Spitze schicken ihre Truppen bedenkenlos in die Schlacht, auch Priamos, von dem Achilles doch sagt, er sei ein weit besserer König als der, der die Griechen anführt: Gegen den Rat Hektors, dem die killing zone des Schlachtgetümmels noch keine ferne Erinnerung an seine eigene Jugend ist, befiehlt er den riskanten Gegenangriff auf das Schiffslager der Griechen. Frühere filmische Zurschaustellungen militärischen Virtuosentums inszenierten diesen Konflikt bisweilen als Paradox eines umgekehrt reziproken Verhältnisses zwischen professioneller Einsicht und Befehlsgewalt. „Drei Jahre lang habe ich in Vietnam gesehen, wie die da oben planen und wir sterben“, sagt der von Chuck Norris verkörperte Offizier nach dem gescheiterten Kommandounternehmen zur Befreiung der amerikanischen Geiseln in Teheran („Delta Force“, 1985), bevor er seinen Abschied nimmt – um dann doch wieder die Aufgabe zu schultern, lakonisch zwar, aber im Innersten überzeugt von der ethischen Qualität seines Tuns. „Troja“ gibt der skizzierten Antinomie eine Wendung ins Moralische, die zugleich eine Verkehrung des natürlichen Lebenslaufs bedeutet: „Krieg ist, wenn junge Männer sterben und alte Männer reden.“ Doch auch Achilles kehrt in den Krieg zurück, aus dem er sich zurückgezogen hatte, wobei letzteres weniger mit der Kränkung durch Agamemnon begründet wird als mit einem Ekel, der zwischenzeitlich alle Gründe weiterzumachen überwältigt. Am Ende sind – gegen die Überlieferung, aber im Duktus des Films völlig konsequent – alle Hauptfiguren tot, außer Odysseus, der am Ende aber im wesentlichen die Funktion hat, die Scheiterhaufen anzuzünden. Herodot hatte noch gemeint, im Frieden begrüben die Söhne ihre Väter, im Kriege sei es umgekehrt (und daher höchst widernatürlich). In „Troja“ aber sind die Väter zu diskreditiert, um ihnen auch nur die Trauer glauben zu können.

 

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