Die meisten Einträge an dieser Stelle bleiben unkommentiert; manchmal gibt es Nachfragen oder Ergänzungen, einige Leser nehmen den Text zu Anlaß für eigene Überlegungen, auch Lob wird ab und an geäußert. Am meisten herabsetzende und verärgerte Reaktionen hat erwartungsgemäß der Beitrag über die geschichtsrevisionistische, im engeren Sinn chronologiekritische (um den Unterschied zu den NS-Apologeten, die auch als Revisionisten firmieren, zu bezeichnen) Subkultur im WWW ausgelöst. Ein kürzlich erschienenes Buch gibt jetzt Gelegenheit, die aktuellen Zirkel und Richtungen zu historisieren. Geschrieben hat es Ronald H. Fritze, seines Zeichens Historiker an der Athens State University in Alabama („Invented Knowledge. False History, Fake Science, and Pseudo-Religions“, Reaktion Books, 304 S., 29.95 US-$).
Fritze behandelt durchaus unterschiedliche Phänomene. So beruht die Suche nach Atlantis auf der Annahme, einem von Platon vermutlich erfundenen [1], allenfalls vage von älteren Mythologemen angeregten ‘Bericht‘ einen historischen Kern zu unterlegen. Atlantis wurde nicht nur einfach gesucht, bis in die Moderne hinein (nach Eduard Meyer ein „Unfug, der, wenn es so weiter geht, den Untergang aller Wissenschaft herbeiführen wird. (…) Man schämt sich, daß solche Ausgeburten einer völlig undisziplinierten Phantasie in angesehenen wissenschaftlichen Zeitschriften Aufnahme gefunden haben.“), der ‘verlorene Kontinent‘ im Westen diente auch dazu, eine seit Pythagoras und dem Alten Testament gängige Schuldpsychologie um Luxus, Dekadenz und göttliche Strafe zur Pseudo-Historie zu objektivieren. Seit Columbus und Francis Bacon konnte auch die Neue Welt mit Atlantis identifiziert und dadurch zur ältesten überhaupt verkehrt werden.[2] Auch patriotisch-partikulare Altersbeweise bedienten sich den Mythos; so wollte ein schwedischer Arzt im 17. Jahrhundert den Ort mit Uppsala identifizieren und den Anfang aller Zivilisation gleich mit. Mit Atlantisphantasien ließ sich bereits im ideologischen Zeitalter Geld verdienen. Doch auch ohne die weltanschauliche Aufladung funktioniert das noch: „Atlantis“, so Vincent Crapanzano in seiner lesenswerten TLS-Besprechung von Fritzes Buch, „has now become a commodity. Disney animated it in 2001 in Atlantis: The Lost Empire.“ Das klingt harmlos.[3] Verstörender ist da schon die gigantomane Hybris, Atlantis neu aus dem Meer aufsteigen zu lassen und es just mit dem Luxus auszustatten, der dem versunkenen Atlantis zum Verhängnis werden sollte (Foto [wg. Urheberrecht entfernt]: Hotel Atlantis the Palm in Dubai).
Erkenntnistheoretisch hat Fritze außer der Unterscheidung zwischen objektiver und wahrer, weil faktenbasierter, und unwahrer, auf willkürlichen Interpretationen und Wunschdenken ruhender Geschichte offenbar wenig zu bieten. Historiker müssen einfach alle Tatsachen unvoreingenommen betrachten? Rückfall in finstersten Positivismus! Viel besser ist Fritze als Kartograph der verschiedenen Pseudo-Geschichten und ihrer Verbindungen untereinander. Neben Atlantis behandelt er etwa die angebliche vor-kolumbische Entdeckung Amerikas, eine eher harmlose Spielwiese, denn selbst wenn Wikinger oder wer sonst – in mehr als 6000 Büchern und Artikeln werden u.a. noch genannt: die alten Ägypter, Phöniker, Griechen, schiffbrüchige Römer, buddhistische Missionare, Mongolen, Araber, afrikanische Händler, Hindus, chinesische Flüchtlinge – dort einst landeten, so blieb es historisch irrelevant, weil es weder zu nennenswerten Identifikationen noch zu Ansprüchen führte. Interessant sind die Querverbindungen, für die eine Abhandlung aus dem Jahr 1886 stehen mag: Hyde Clarke, Examination of the legend of Atlantis in reference to protohistoric communication with America (immerhin in den Transactions of the Royal Historical Society).
Historisch folgenreicher waren die Konstruktionen glaubensstarker politisch-religiöser Gruppen, etwa die Lehre von den Zehn Verlorenen Stämmen Israels: Kurz vor dem Untergang des Nordreiches Israel (722/1 v.Chr.) seien nämlich zehn Stämme verschwunden. Ihre Wege haben die Phantasie von Juden und Nichtjuden durch die Jahrtausende beschäftigt. So glaubte der jüdische Forschungsreisende Eldad ha-Dani im 9. Jahrhundert, Überreste von ihnen in Abessinien, aber auch in China und in Südrußland entdeckt zu haben. Nach der Entdeckung der neuen Welt hat man sie aber auch in Amerika, ja in Lappland (Olaus Rudbeck d. J.; sein Vater hatte Atlantis bei Uppsala ‘entdeckt‘, s.o.) und sogar bei den Germanen gesucht und ‘gefunden‘. Puritanische Geschichtstheologie erklärte die Engländer zu leiblichen Nachkommen der Zehn Stämme, die ja an der Kreuzigung Jesu nicht beteiligt gewesen seien, und mithin England als neues ‘auserwähltes Volk‘ zur Weltherrschaft berufen. Alle Prophezeiungen und Verheißungen für die Juden seien auf die englische Nation übergegangen, was von Penn bis Disraeli immer wieder vertreten wurde. Die von Richard Brothers (1757-1824) gegründete British Israel Movement hat diese Gedanken durch eine umfangreiche Predigt- und Traktatliteratur zumal in den englischen Bildungsschichten verbreitet.[4] Man kann in diesen Schriften lesen, daß der Krönungsstein in der Abtei von Windsor der Stein des Erzvaters Jakob aus Bethel sei, daß Joseph von Arimathia selber in England die erste christliche Kirche gebaut habe und daß der Stammbaum des Hauses Windsor auf David und Salomo zurückgehe. Doch der in England zu einem robusten Philosemitismus führende Glaube an ‘verlorene‘ Stammväter ließ sich auch rassistisch umwenden. Fritze nennt die Mitte des vorigen Jahrhunderts in den USA gegründete ‘Christian Identity‘: Da es keine Unterschiede zwischen den Rassen geben könne, wenn alle Menschen von Adam abstammten, müsse es niedrigerstehende Prä-Adamiten gegeben habe, die durch Vermischung mit den Nachkommen Adams die verschiedenfarbigen Rassen hervorbrachten. Kain als Kind von Eva und dem Satan wurde hingegen zum Stammvater der Juden – und Urbild ihrer Verderbtheit.
Fritze referiert dann die im Zeitalter der Science Fiction blühenden Fiktionen von kosmischen Katastrophen (A. Velikovsky) und urzeitlichen Besuchen Außerirdischer (E. v. Däniken) spwie schließlich Martin Bernals These einer Eliminierung der afro-asiatischen Wurzeln der ‘europäischen‘ Kultur durch eine rassistische Altertumswissenschaft (Black Athena). Doch das ist eine andere Geschichte.
Der TLS-Rezensent greift am Ende über Fritzes Buch hinaus: „What is striking about pseudo-histories and sciences is how repetitive they are and, despite their extravagant speculations, how limited their visions are. They are mechanical and lack the éclat – the surprises – of science and history.“ Doch das sind zugleich gute Voraussetzungen, verhältnismäßig homogene Jüngerschaften und einen festen, unkaputtbaren Überzeugungskanon hervorzubringen.
Anmerkungen
[1] Heinz-Günther Nesselrath, Platon und die Erfindung von Atlantis, München/Leipzig 2002.
[2] Markus Scheer, Die Argonauten und Äneas in Amerika. Kommentierte Neuedition des Kolumbusepos Atlantis retecta von Vincentius Placcius und Editio princeps, Übersetzung und Kommentar der Cortesias von P. Petrus Paladinus SJ, Paderborn u.a. 2007; Florian Schaffenrath, Über Atlantis nach Amerika. Zur Bedeutung des Atlantis-Mythos in der lateinischen Kolumbusepik, in: R.F. Glei, R. Seidel (Hgg.), Parodia und Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit, Tübingen 2006, 345-357.
[3] Zu den Geistesspuren von Atlantis durch die Epochen gibt es zwei Überblicksbeiträge aus der Feder von Althistorikern: Reinhold Bichler, Atlantis, in: Der Neue Pauly 13, 1999, 333-338; Pierre Vidal-Naquet, Atlantis. Geschichte eines Traums, München 2006.
[4] Besonders einflußreich: John Wilson, Lectures in Our Israelitish Origin (1840), 5. Aufl. London 1876.