Antike und Abendland

Antike und Abendland

Tagesaktualität, wie sie sich mit einem Blog verbindet, und Antike – das scheint nicht zusammenzugehen. Dennoch soll hier der Versuch gewagt

Zweierlei Mythenkritik – und Hans Delbrücks „Geschichte der Kriegskunst“

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Einer der Kommentare zum Atlantis-Eintrag in diesem Blog (dort vergessen: eine vorzügliche Textsammlung bei Reclam mit Texten von Platon bis Günther Kunert)...

Einer der Kommentare zum Atlantis-Eintrag in diesem Blog (dort vergessen: eine vorzügliche Textsammlung bei Reclam mit Texten von Platon bis Günther Kunert) veranlaßt mich zu einer Bemerkung. Der Leser betont, daß es anscheinend nur eine Handvoll ‘alter‘ Mythen zu dauerhafter Präsenz bringe. Atlantis gehöre sicher dazu, die Pyramiden, der Gral, die Templer, die Katharer und etliche andere. Nun gibt es sicher über alle genannten einschlägige Terra X-‘Dokus‘. Gleichwohl muß man unterscheiden: Die Pyramiden existieren, die Katharer und die Templer hat es wirklich gegeben. Mit etwas Mühe und Methode kann man hier zu gesicherten Aussagen kommen und den Bereich der Spekulation und der reinen Phantasie ausgrenzen. Atlantis existiert demgegenüber nur in Texten, ebenso der Gral. Hier kann man eine Ideen-, eine Verwendungsgeschichte schreiben, aber diese führt nicht zur Insel im westlichen Meer oder zum Becher Jesu beim Letzten Abendmahl zurück.
Der erwähnte Leser zeigt sich dann bestürzt, „auf welch schmaler Quellenbasis viele unserer Kenntnisse über die Antike beruhen“. Er lese gerade wieder Hans Delbrücks Geschichte der Kriegskunst und sei immer wieder verblüfft, wie dieser dort „historische Mythen durch Sachkritik auf den Boden der Tatsachen holt (Marathon, Issos, Gaugamela usw.)“. Ich bin dankbar für den Hinweis, gibt er doch Anlaß, auf ein Phänomen zu verweisen, das immer wieder unter dem Stichwort ‘Mythos‘ verhandelt wird, aber dort allenfalls in zweiter Linie hingehört. Denn zunächst einmal geht es in den genannten Fällen um Quellenkritik, die in eine möglichst genaue Rekonstruktion des tatsächlichen Geschehens einmündet. Man kann hier, bei einer Schlacht mit einem Ort, einer Zeit, benennbaren Akteuren, einem Verlauf und einem Ergebnis ohne Naivität noch von einem greifbaren und sozusagen von selbst existenten Geschehen sprechen – am massenhaften Sterben prallt der radikale Konstruktivismus ab wie ein Gummiball an einer Hauswand.
Die mythische Dimension liegt in solchen Fällen zum einen in einer Bedeutungszuweisung: Aus einer bestimmten Perspektive heraus kann Marathon tatsächlich als der „Geburtsschrei Europas“ gelten (dazu im nächsten Jahr mehr), kann man die Schlacht von Salamis als „the naval encounter that saved Greece – and Western Civilization“ ansprechen (Barry Strauss). Einer solchen Sinnverleihung wirken Historiker in der Regel entgegen, indem sie das Ereignis in Kontexte einflechten und ihm so Bedeutung nehmen, oder indem sie nachweisen, daß alles ganz anders war. Beispiele findet man etwa in: Wolfgang Krieger (Hg.), Und keine Schlacht bei Marathon. Große Ereignisse und Mythen der europäischen Geschichte, Stuttgart (Klett-Cotta) 2005.
Mit der zweiten der genannten Operationen sind wir schon ganz nahe bei dem erwähnten Hans Delbrück (1848-1929) und seinem Hauptwerk, dessen erster von vier Bänden 1900 erschien. Denn zu der bereits antiken Mythenbildung über große Schlachten und Kriegszüge gehörte es, die Größe der Heere, vor allem natürlich die Zahl der besiegten und getöteten Feinde stark überhöht anzugeben, bis hin zu ganz phantastischen Dimensionen. Hier nun setzte Delbrück, der aus einer preußischen Beamten- und Gelehrtenfamilie stammte und auch Abgeordneter und Publizist war und als „Gelehrtenpolitiker im Sinne des nationalpolitischen Liberalismus des 19.Jahrhunderts“ (R. Vierhaus) anzusprechen ist, den Hebel an. Ob eine einschlägige Information in einer zeitgenössischen oder einer viel späteren, abgeleiteten Schrift stand – diese Qualifikation stand im Mittelpunkt der bis dahin gängigen Quellenkritik -, interessierte ihn weniger als die Frage, ob das Mitgeteilte überhaupt möglich war. Denn „auch dem völlig Sinnlosen läßt sich in der Geschichte bei dem weiten Abstand, in dem wir von den Dingen leben, sehr leicht ein gewisser Anstrich von Wahrscheinlichkeit geben“. Indem er die „sachlichen Bedingungen“ und die „technischen Möglichkeiten der Ereignisse“ in den Mittelpunkt rückte, machte er zugleich Ernst mit einem robusten Geschichtsrealismus, der dem Zeitalter der ersten technischen Überwältigung der Welt angemessen schien. Delbrück nannte sein Verfahren „Sachkritik“. Es bedeutete eine kleine wissenschaftliche Revolution, daß Delbrück zur Lösung bestimmter Probleme der antiken Kriegsgeschichte die Länge der Marschkolonnen eines zeitgenössischen preußischen Armeekorps, Bestimmungen des preußischen Reglements etwa über das Turnen der Infanterie oder Ergebnisse eines „Sarissen-Exerzierens“ der Berliner Akademischen Turnvereine zu Beweismitteln für die Kriegsgeschichte des Altertums erhob. Berühmt geworden ist eine Passage zur persischen Invasion 480 v.Chr. (Geschichte der Kriegskunst, Bd. 1, 3. Aufl. 1920, S. 10):
„Das Heer, das Xerxes nach Griechenland führte, wird von Herodot ganz genau auf 4200000 Mann mit dem Troß angegeben. Ein Armeekorps, das sind 30000 Mann, nimmt nach der deutschen Marschordnung etwa drei Meilen ein (ohne den Fuhrpark). Die Marschkolonne der Perser wäre also 420 Meilen (= 3116 km, U.W.) lang gewesen, und als die Ersten vor Thermopylä ankamen, hätten die Letzten gerade aus Susa jenseits des Tigris ausmarschieren können.“
Ähnlich scharf wie die herodoteischen Zahlen der Perserkriege hat Delbrück auch die in der antiken Überlieferung für den Alexanderzug berichteten Zahlen in Frage gestellt. Er zerschlug die traditionelle Vorstellung, Alexander sei mit einem an Größe hoffnungslos unterlegenen Heer nach Asien übergesetzt und habe es stets mit einem numerisch weit überlegenen Gegner zu tun gehabt. Seiner Ansicht nach war das Heer „wohl etwa doppelt so groß als dasjenige, mit dem einst Xerxes zur Eroberung Griechenlands ausgezogen war.“ Mit den in der Überlieferung für die persischen Heere am Granikos, bei Issos und bei Gaugamela angegebenen Zahlen sei nichts anzufangen. Für die Schlacht am Granikos nahm Delbrück kräftemäßig eine Überlegenheit der Makedonen an, für Issos zumindest bei den Fußtruppen. Im Falle von Gaugamela erklärte er mit großer Selbstsicherheit, daß Dareios gewiß nicht mehr als 12000 Reiter zur Verfügung standen und eine relativ geringe Zahl Fußsoldaten, gewiß nicht mehr, eher weniger als die Makedonen.
Mit der Sachkritik, so Karl Christ, stand Delbrück gegen die Textgläubigkeit der konventionellen philologischen Interpretation. Im Besitz einer konkreten Anschauungs- und Vorstellungskraft suchte er, um zu einer plastischen Vergegenwärtigung des Geschehens zu gelangen, die sachlichen und technischen Voraussetzungen der Ereignisse zu klären, die Eigenart der Heere und ihrer Kampfweise zu definieren. Immer wieder, in allen Epochen und bei allen Feldzügen, kreisten seine Gedanken dabei um die richtigen Zahlen, sowohl für Napoleon als auch für Friedrich d.Gr. konstatierte er hier falsche Angaben. Doch Delbrück gab sich mit negativer Kritik nicht zufrieden. Für die Ermittlung der richtigen Zahlen berief er sich auf die Analogie: „Dasselbe Hilfsmittel, vermöge dessen wir den Glauben an die Zuverlässigkeit der in den Quellen überlieferten Zahlen erschüttert haben, wird uns zu besseren Zahlen verhelfen. Es ist der Vergleich der Zahlen untereinander. Alle Zahlen kontrollieren einander gegenseitig. Nicht bloß die Zahlen aus derselben Zeit und über dasselbe Ereignis, sondern auch Zahlen aus den allerentferntesten Zeiten.“ Diese methodische Prämisse bildet zugleich die universalhistorische Pointe des Werkes, das Delbrück ausdrücklich als „Forschung zur Weltgeschichte“ verstanden wissen wollte. Gedeckt glaubte er sich hierfür durch Clausewitz; die „Auslegungen der Geschichte auf die Gegenwart spielten sich allesamt noch im Rahmen der Clausewitz-Welt ab“, wie Ulrich Raulff treffend bemerkt. Das bedeutete einerseits einen gewaltigen Fortschritt, gehörte doch die damals üblicherweise betriebene Kriegs- und Militärgeschichte entweder den Philologen oder den Militärs und erreichte sie selten das Reflexionsniveau des Autors von „Vom Kriege“.

Erst im Rückblick erschließt sich, wie Delbrück selbst diese Clausewitz-Welt zu zerstören geholfen hat. Die Physik der beweglichen Truppenkörper, der Glaube an die Zahl – hier offenbaren sich (bei aller kritischen Leistung im Detail) mechanistische Vorstellungen eines Ingenieurs der Geschichte. Diese erscheinen vollends in einem anderen Licht, nimmt man Passagen eines akademischen Festvortrages hinzu, den Delbrück 1912 hielt. Dort predigte der Historiker einen Mythos der Zukunft, wie er nur zwei Jahre später ungeahnte Wirklichkeit werden sollte: „Denn nicht bloß Tapferkeit ist kriegerischer Ruhm“, so verabschiedete er das über Jahrtausende gültige aristokratische Paradigma des Krieges, „sondern auch die im Frieden und durch Gesetzgebung vorbereitete kriegsbereite Masse ist Ruhm. Die unbewegte Masse freilich ist tot, blöde und verächtlich und darum wirkungslos. Bewegte Masse aber ist organisierte Masse, ist Organismus, ist Kraft und Leben, ist menschliche Leistung. Sie ist das eigentliche Objekt des politischen und kriegerischen Genius.“ Diese Vorausschau auf den modernen, am Ende totalen Krieg mit einem darauf eingestimmten, formierten Volk und einer raumgreifenden Strategie liest sich aus der Rückschau natürlich anders, als sie in den optimistischen Friedensjahren – in denen der Krieg dennoch allgegenwärtig war – wohl gemeint war. Als folgenreich erwies sich in diesem Zusammenhang auch seine Auffassung der Schlacht von Cannae, die er als „Vernichtungsschlacht“ ansprach. Darauf basierte wiederum die berühmte Cannae-Studie des Grafen Schlieffen (1909-1913), die das Modell dieser Schlacht als strategische Ideallösung aktualisierte, mit allen Folgen, die sich aus dieser Präferenz für ein ‘Alles oder nichts‘ mit Blick auf die Strategie und das Verhältnis von Kriegführung und Politik im 20. Jahrhundert ergaben. 1916 hielt Delbrück Falkenhayns Strategie für die Schlacht von Verdun für richtig – so sehr dominierte das Denken in den Kategorien Bewegung und Initiative sein Denken. Das fällt um so eher auf, als er ansonsten zu den Gemäßigten gehörte. Gegen die sogenannte „Intellektuelleneingabe“ vom 8.7.1915, deren Unterzeichner – darunter der gleichaltrige Philologe Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, auch wissenschaftlich ein Antipode Delbrücks – sich als „Ausschuß für einen deutschen Frieden“ konstituierten, initiierte Delbrück eine Gegenpetition, die auf sehr viel moderatere Kriegsziele drängte und u.a. von Adolf Harnack, Max und Alfred Weber, Ernst Troeltsch, Friedrich Meinecke und Lujo Brentano unterzeichnet wurde. Während des Krieges Gegner des uneingeschränkten U-Bootkriegs, der Annexionspolitik und des preußischen Dreiklassenwahlrechts, bekämpfte er nach 1918 engagiert die Dolchstoßlegende wie andererseits die „Kriegsschuldlüge“, wobei seine schärfsten Angriffe sich gegen Tirpitz und Ludendorff richteten.

Delbrücks antike Kriegsgeschichte hat keineswegs einhellige Zustimmung gefunden. Eine offene Flanke bot sie, weil das ausgeprägte Bemühen um Anschauung – bei allem Streben nach Exaktheit – doch eher intuitiv war. Vor allem um die Schauplätze hat sich der Autor zu wenig gekümmert, obwohl doch schon Polybios Landschafts- und Geländekenntnis zur Grundausstattung einer pragmatischen Geschichtsschreibung gezählt hat. So konnten Delbrücks „weder durch eingehende Geländeforschung noch durch eindringliche Quelleninterpretation gestützten Schlachtdarstellungen“ als rationalistisch und willkürlich kritisiert werden (so H. Berve). Die weithin positivistisch orientierte althistorische Forschung hat, so noch einmal Karl Christ, „die Resultate der auf Quellenstudium, Geländekenntnis, Kartenarbeit und kriegstechnischen Untersuchungen beruhenden Werke von Kromayer und Veith im allgemeinen viel bereitwilliger übernommen als im Falle des in seiner Sachkritik, den Analogien und der subjektiven Reflexion oft angreifbaren Hans Delbrück. Während Kromayer und Veith die Aussage einer relativ verläßlichen antiken Quelle in der Regel unbedingt zu halten versuchten und gegebenenfalls Unwahrscheinlichkeiten zurückstellten, zögerte Delbrück nicht, sich über die Aussage eines antiken Autors hinwegzusetzen, wenn seine sachlich und logisch begründete Rekonstruktion eines Schlachtenablaufs mit dessen Einzelheiten nicht zu vereinbaren war.“ Einer breiteren Wirkung stand sicher auch im Wege, daß die „Geschichte der Kriegskunst“ nicht die literarische Qualität der Hauptwerke von Mommsen und Treitschke erreichte.

Doch der Forschung hat die Korrektur überhöhter, mythengenerierender Zahlen neue Aufgaben gestellt. Im zweiten Band, den Delbrück übrigens für den wichtigsten aller vier hielt, konnte er zeigen, daß die wandernden Verbände, die im 4. und 5. Jahrhundert n.Chr. in das Römische Reich eindrangen und im Westen dessen Regierung lähmten und bedeutungslos machten, lange nicht so zahlreich waren, wie zuvor angenommen worden war. So zählten die Goten in der Schlacht bei Adrianopel nicht mehr als 15.000 Kämpfer. Und 8.000 bis 10.000 Krieger genügten Geiserich, um mit seinem vandalischen Verband das römische Nordafrika mit seiner nach Millionen zählenden Bevölkerung zu erobern. Diese Erkenntnis hat den Blick auf die inneren Verhältnisse dieser Region um 430 n.Chr. geschärft, auf die Berberstämme, die sich den Invasoren anschlossen, und auf den weitaus größten Teil der romanischen Bevölkerung, die für ihre Regierung keinen Finger rührte.
Bild zu: Zweierlei Mythenkritik – und Hans Delbrücks „Geschichte der Kriegskunst“
Zum Abschluß ein Hinweis dazu: Die Vandalen, die zuletzt auch in der Forschung wieder viel Aufmerksamkeit gefunden haben, sind ab Oktober Gegenstand der nächsten großen historischen Ausstellung im Karlsruher Schloß.

Hans Delbrück, Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte. Erster Teil: Das Altertum. Dritte, neu durchgearbeitete und vervollständigte Auflage, Berlin 1920; Zweiter Teil: Die Germanen. Dritte, neu durchgearbeitete und vervollständigte Auflage 1921; Dritter Teil: Das Mittelalter. Zweite, neu durchgearbeitete Auflage 1923; Vierter Teil: Neuzeit, 1920. – 2002 erschien das Werk als Bd. 72 in der Digitalen Bibliothek“ (Direchtmedia-Publishing).
Ein zweibändiger Nachdruck der neu gesetzten Ausgabe aus den 1960er Jahren mit einem lesenswerten Vorwort von Ulrich Raulff zum Gesamtwerk (2000) und der Einleitung von Karl Christ zum ersten Band ist z.Zt. für kleines Geld zu haben (Nikol-Verlag, 2006).

Karl Christ, Hans Delbrück, in: Von Gibbon bis Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit. 3., um einen Nachtrag erweiterte Auflage, Darmstadt 1989, 159-200 (dort auch die Nachweise der Zitate o. im Text)
Andreas Hillgruber, Hans Delbrück, in: H.-U. Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 4, Göttingen 1972, 40-52.


2 Lesermeinungen

  1. franket sagt:

    Delbrücks Werk war sicher ein...
    Delbrücks Werk war sicher ein Meilenstein in der Entwicklung der historisch-kritischen Interpretation. Doch zurück zu Atlantis. Was hindert uns daran, diese Methode auch bei Atlantis anzuwenden? Natürlich nichts. Ich wiederhole noch einmal das Beispiel: So wie Platon Atlantis für 9000 Jahre alt hielt, so hielt Herodot Ägypten für 11000 Jahre alt. Herodot irrte sich natürlich (warum auch immer) im Alter Ägypens, aber in der Existenz von Ägypten irrte er sich wohl kaum *schmunzel* – der analoge Schluss bei Atlantis ist nicht verboten, sondern eine Hypothese, die man testen sollte. Denn das Alter von Atlantis orientiert sich – wie könnte es bei einer Geschichte aus Ägypten anders sein? – am Alter von Ägypten. Soweit dieses Beispiel. Ob Atlantis existierte hat man damit natürlich noch nicht bewiesen, aber man hat endlich die pseudo-wissenschaftliche Oberflächlichkeit verlassen, auf der sich die meisten Atlantis-Forscher, seien sie pro oder contra, bewegen.

  2. AGottwald sagt:

    Es ist schmeichelhaft für...
    Es ist schmeichelhaft für mich, dass Sie meinen laienhaften Einlassungen einen Beitrag widmen. Es ist in der Tat so, dass bei mir da unklare Begriffe in Sachen Mythos herrschten. Allerdings habe ich bewusst den Gral und die Katharer, Atlantis und die Pyramiden in eine Reihe gestellt. Ich meinte damit das Phänomen, dass bestimmte historische Tatsachen und Relikte aus mir unverständlichen Gründen eine gewissermaßen literarische Karriere beginnen und sich vom eigentlichen historischen Gegenstand völlig lösen. Ein gutes Beispiel sind die Katharer. Das mystische Gebilde eines geträumten „Montsegur“, am besten gleich noch in Kombination mit Gral und Templern, hat längst in der multimedialen Verwurstung eine Art Paralleluniversum gebildet. Mit schnöden Tatsachen aus Montaillou könnte man den Montsegur-Afficionados gar nicht mehr kommen. Das hat ja eh die Inquisition alles gefälscht. Mich würde sehr eine ideengeschichtliche Untersuchung interessieren, wie solche Populärmythen entstehen. Wann entwickeln sie dieses seltsame Eigenleben, dass durch Tatsachen oder wissenschaftliche Untersuchungen gar nicht mehr zu erschüttern ist? Warum sind sie so zählebig? Ein richtiges Muster ist aus der bloßen Reihung für mich nicht zu entnehmen.
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    Was die schmale Quellenbasis der Antike betrifft, so habe ich gedanklich ein wenig abgekürzt. Das Erschrecken kam ursprünglich bei der Lektüre von Bengtsons „Griechischer Geschichte“ (Handbuch der Altertumswissenschaft III.4) In diesem Buch werden ja am Beginn jedes Abschnittes die Quellen referiert und als Laie ist man öfter verblüfft, dass es für zentrale Ereignisse in der Antike nur eine einzige, unter Umständen auch nur fragmentarische Quelle gibt. Daran erinnerte ich mich bei der Delbrück-Lektüre. Er geht ja mit seinen antiken Gewährsmännern einigermaßen rustikal um und es ist richtig, dass an Stelle von Tatsachen bei ihm gern plausible Vermutungen treten. Aus meiner Sicht eine verständliche Reaktion auf die Übermacht der Philologie zu seiner Zeit. Stilistisch reicht Delbrück mit Sicherheit nicht an die Großen, Mommsen zumal, heran. Aber ein anderes macht ihn mir wertvoll. Delbrück postuliert seine Forschungsergebnisse nicht, er deduziert sie. Man kann ihm quasi beim Arbeiten über die Schulter schauen. Die Quellen und der damalige Forschungsstand werden ausführlich diskutiert und kritisiert und dann schrittweise Delbrücks eigene Meinung entwickelt. Für einen Laien, dem es vor allem an Methodik und Quellenkunde mangelt, ist das eine spannende Erfahrung. Mitunter gibt er faszinierende Denkanstöße, zum Beispiel bei der Auseinandersetzung von Römern und Germanen: nur numerische Überlegenheit und straffste Disziplin erlauben es einem Heer aus einer zivilisierten Gesellschaft gegen Barbarenhorden anzutreten. Bei numerischem Gleichstand sind die Barbaren immer überlegen. Der Vorteil der Zivilisation liegt darin, eben diese Überlegenheit durch Organisation und Logistik an den entscheidenden Punkten jederzeit konzentrieren zu können. Eine ziemlich steile These und die genaue Umkehrung der Quellen, die immer kleine, zivilisierte Heere über Barbarenmassen siegen lassen. Übrigens war mir neu, dass die Faszination des Generalstabes für Cannae von Delbrück herstammt. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass 1914 das französische Zentrum wie seinerzeit das karthagische hielt und die Deutschen an der Marne sich als Römer wiederfanden. Ich lese es ja schon zum zweiten Mal und kann die 4 Bände nur empfehlen. Ein wenig Geduld sollte man freilich mitbringen. Übrigens hoffe ich, dass der Nikol-Verlag den Text noch einmal korrigiert hat. Die Ausgabe von de Gruyter aus dem Jahr 2000 war dieses Verlages nicht würdig. Man hatte offensichtlich die Stilke-Bände mit einer Texterkennungssoftware eingescannt und nur unzureichend korrigiert. Die 4 Bände wimmeln nur so von Druckfehlern, beinahe bis zur Unlesbarkeit. Vor allem das lange s wird regelmäßig als f wiedergegeben. Man kommt sich beim Lesen ständig vor, als würde man lispeln. Ich habe mir deshalb im Antiquariat den Reprint der Stilke-Ausgabe besorgt (de Gruyter 1964/66), mit der ich sehr zufrieden bin.
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    Ceterum censeo: Wieder ein sehr schöner Beitrag von Ihnen.

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