Antike und Abendland

Antike und Abendland

Tagesaktualität, wie sie sich mit einem Blog verbindet, und Antike – das scheint nicht zusammenzugehen. Dennoch soll hier der Versuch gewagt

Abendland, Humanismus – oder was?

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Die kleine Debatte unter Lesern über den Titel dieses Blogs hat mich unvorbereitet getroffen. Ein Kommentator nennt ihn Ausdruck einer rückwärts gewandten...

Die kleine Debatte unter Lesern über den Titel dieses Blogs hat mich unvorbereitet getroffen. Ein Kommentator nennt ihn Ausdruck einer rückwärts gewandten Sicht, „schlimmstenfalls jedoch Kulturchauvinismus“. Denn was solle ein Japaner oder Koreaner denken? Wahrer Humanismus schließe „keinen Menschen davon aus, das wahrhaft Menschliche erfassen zu können, das sich im antiken Athen erstmals manifestierte.“ Der Universalismus, der hier durchscheint, soll aber eine sehr weitgehende Konsequenz zeitigen: „Alle Menschen aller Kulturen können und sollen das erfassen, auch die orientalische Kultur. Der Gegensatz zwischen Ost und West ist überwindbar: Entweder, indem wir die Errungenschaften der Aufklärung aufgeben, oder indem der Osten dieselbigen übernimmt. Ich schlage vor, die letztere Variante zu realisieren. Dass der Osten das kann, ist für einen Humanisten keine Frage: Auch dort leben Menschen (!).“
Erst der Vorwurf des Kulturchauvinismus an den Autor, dann das Plädoyer für eine weltumspannende Missionsidee im Geiste des Okzidents. Das historische Lehrbuch dazu steht übrigens seit dieser Woche in den Regalen der Buchläden: Heinrich August Winklers mehr als 1100 Seiten über den Westen. Und das ist nur der erste Band von zweien …
Zu den vorgeschlagenen Alternativtiteln („Antike und Menschheit heute“, „Antike und Humanismus heute“, „Die Antike und die Welt der Gegenwart“) haben andere Leser schon das Nötige gesagt.
Der Titel, der mir bei der Vorbereitung zu dem Unternehmen übrigens ganz spontan einkam, hat mehrere Bedeutungsebenen.
Ironisch: Hier soll eben kein kulturpessimistisches Raunen und Klagen vom „Untergang des Abendlandes“ Platz finden. Aneignung, Deutung und Aktualisierung ‘der‘ Antike fanden bereits in der Antike statt: im 4. Jh. v.Chr. schaute man bewundernd auf das große 5. Jh. zurück, kanonisierte die Tragiker und schuf historisierende Kunstwerke. In der Zeit des Augustus wurde die römische Frühzeit großenteils neu gestaltet, und im Konstantinsbogen verbaute man sog. Spolien, also Teile aus Bauten der hohen Kaiserzeit. Mit jedem Aufgreifen gingen Verluste einher, und es gab Regionen und Zeiten, in denen so gut wie alles vergessen war, bis die in Bibliotheken schlummernden Texte neuentdeckt, die im Boden versunkenen Objekte ans Licht geholt wurden. Eine junge Richterin kann vielleicht kein Latein mehr, dafür erkennen Andere in Star Trek und Star Wars eine Antike wieder. Und solange Latein- und Griechischlehrer ihre Fächer so ideenreich und engagiert ‘vorleben‘, wie ich es jüngst erleben durfte, muß einem nicht bange sein.
Präzisierend: In der Tat herrscht in diesem Blog eine europäische Perspektive vor, wobei die USA aufgrund der engen historischen und kommunikativen Zusammenhänge mit Europa hier einmal die gleiche Farbe tragen wie der alte Kontinent. Ich lese gerade für eine Vorlesung ein höchst spannendes Buch über Antike-Bezüge in der amerikanischen Außenpolitik (s.u.). Aber auch von der griechischen Kultur in Indien war hier schon einmal die Rede. Ich könnte von der Alten Geschichte in Japan berichten oder vom Interesse chinesischer Historiker, ihr Han-Reich mit dem zeitgleichen Imperium Romanum zu vergleichen. Doch ohne jeden Chauvinismus, nur als Feststellung: Alle diesen spannenden Themen zugrundeliegenden intellektuellen Kategorien und Begriffe sind Produkte europäisch-amerikanischer Wissenschaft: Vergleich, Akkulturation, Diffusion, Globalgeschichte, Migration, nicht zu reden von den älteren, immer wieder neu bestimmten Leitbegriffen wie Hellenisierung und Romanisierung. Auch eine politische Standpunktlosigkeit und Vergessenheit gegenüber unseren eigenen universalen Werten empfehlen sich nicht. Darauf wurde an dieser Stelle nach der Lektüre von Egon Flaigs Weltgeschichte der Sklaverei hingewiesen; die z.T. vernichtenden Rezensionen, die diesem Buch bislang zuteilgeworden sind sind, zeugen vom Unwillen ihrer Verfasser, genau zu lesen, die eigene Position als eine nicht beliebig wegzuhistorisierende ernstzunehmen und scharfe Zuspitzungen als erkenntnisfördernd wertzuschätzen.
Erinnernd: 1945 erschien erstmals die Zeitschrift Antike und Abendland. Sie führte in gewisser Weise das Anliegen von Die Antike fort, jener von Werner Jaeger und dem sog. Dritten Humanismus der 1920er und 1930er Jahre getragenen Zeitschrift. Antike und Abendland setzte den Akzent jedoch schon im Titel insofern anders, als nun die Antike nicht mehr absolut und für sich stand, sondern eine Beziehung hergestellt wurde. Dabei ging es nicht mehr primär um die intuitive Aneignung antiker Ideen, Normen und Schönheiten, sondern um einen historischen Zusammenhang, in dem nun auch dem Christentum als dem hauptsächlichen Kontinuitätsmoment zwischen Antike und Gegenwart größere Aufmerksamkeit geschenkt wurde. (Eindrucksvollste Frucht dieses Wert- und Deutungszusammenhanges ist zweifellos das sein 1950 erscheinende Reallexikon für Antike und Christentum.) Die Titel der Aufsätze im ersten Band von A&A, wie das noch heute erscheinende Jahrbuch in der Fachwelt zitiert wird, waren programmatisch: Die Antike und das frühe Christentum; Michelangelo und die Antike; Wandel des Bilds der Antike im 18.Jahrhundert; Das Griechenbild J.J. Winckelmanns; Die klassische Walpurgisnacht (von Karl Reinhardt). Der Gründer der Zeitschrift, der Hamburger Philologe Bruno Snell, spürte in Arkadien, die Entdeckung einer geistigen Landschaft dem lange wirkungsmächtigsten geistigen Ort der Antike nach. Emil Wolff war mit gleich zwei Aufsätzen vertreten: Shakespeare und die Antike; Hegel und die griechische Welt. Doch nicht nur ‘Schöngeistiges‘ kam zur Sprache. Schon im zweiten Band erschienen zwei noch heute höchst lesenswerte Stücke: Alfred Heuss, Die archaische Zeit Griechenlands als geschichtliche Epoche, sowie: Kurt Latte, Der Rechtsgedanke im archaischen Griechentum.

Nun ist über die „Abendland-Ideologie“ der Zeit nach 1945 viel Kritisches geschrieben worden. Ein schönes zeitgenössisches Zeugnis ist der recht polemische, gleichwohl sehr informative Artikel in der dritten Auflage von Religion in Geschichte und Gegenwart, dem maßgeblichen Lexikon aus protestantischer Sicht. Im Lemma „Abendland“ (Bd. 1, 1957, 9-10, verf. von E. Wolf) heißt es:

„Abendland, Christliches, ist um die Mitte des 20. Jh.s ein inhaltlich recht verschieden bestimmbares kulturphilosophisches und politisches Schlagwort, dessen Verwendung sowohl durch O. Spenglers »Untergang des Abendlandes« (1918) wie vor allem durch die katholische Publizistik nach dem 1. (H. Platz, Zeitschr. »A.«) und 2. Weltkrieg erneut gefördert worden ist. Es meint nicht nur die Kultursynthese aus Antike, Christentum und Germanentum im allgemeinen, sondern wird zum Leitwort einer weltanschaulich durch den Antibolschewismus bestimmten Europapolitik vorwiegend katholischer Prägung. – Hinter dem Werdegang des Begriffs A. steht die antike, mit dem von Hellas aus gesehen als hesperus (= Abend) bezeichneten »Westen« verknüpfte Tradition eines geographischen und politischen Gesamtnenners, der freilich im Mittelalter auf das bereits untergegangene weströmische Imperium (Beda) bezogen oder auf Spanien (Isidor von Sevilla) eingeschränkt wird, während »Okzident« bzw. »Westerland« als neue Namen aufkommen; veranlaßt durch Luthers »Morgenland« (Mt 2,1) entsteht im 16. Jh. der Ausdruck »A.«, zunächst als rein geographische Bezeichnung. Die Kultureinheit dieses Raumes ist das corpus christianum, die »Christenheit«; die politische trotz aller Auflösung immer noch das »Reich«. – Erst die Romantik (Fr. Schlegel) prägt den Begriff des »europäischen A.s« zur Kennzeichnung der behaupteten mittelalterlich-christlichen Staateneinheit oder (Novalis, »Die Christenheit oder Europa«, 1799) zur Umschreibung eines Ideals, während L. v. Ranke mit der (karolingischen) »Einheit des A.es« wesentlich die Idee der germanisch-romanischen Völkerfamilie ausdrückt. J. Burckhardt schließlich füllt den im 16. und bes. im 17. Jh. neu aufgenommenen politischen Begriff »Europa« (Theatrum Europaeum u. ä.) mit seinem Verständnis von Renaissance und wandelt ihn so in säkularisierender Ablösung des spätmittelalterlichen Nenners »Christenheit« für die christliche Einheit gegenüber den Türken zum Namen für die Mannigfaltigkeit der als Produkt des schöpferischen Individuums und als Aufgabe seiner Gestaltung gleicherweise angesehenen Bildung des universalen Humanismus; Bodin ist darin sein Vorläufer gewesen. – Die heutige Verdrängung dieses humanistischen und des politischen Europa-Begriffs durch die neue Verwendung von »A.« (vgl. z.B. die irreführende Übersetzung »Die Gestaltung des A.es« für »The Making of Europe« von Chr. Dawson, 1950) verrät die Tendenz, »A.« aus dem Nenner für eine mehr empfundene als nachweisbare geistig-religiöse Einheit zum ideologischen Leitwort einer »christlichen« und »europäischen« Politik zu machen. Die wandlungsreiche Geschichte des Begriffs »A.« und der Mangel an Eindeutigkeit – weder als historische Kategorie noch als kulturphilosophischer Begriff ist »A.« wirklich brauchbar – machen ihn dazu geeignet. Auf keinen Fall ist »A.« die alleinige Form der Gestaltung des Christlichen im europäischen Raum, noch das Christliche die alleinige und maßgebliche Bestimmung des Abendländischen.“

Wohl richtig. Aber man sollte auch die Stärke sehen: Kein anderes Konzept der Traditionsstiftung war in der Lage, ein ‘bürgerliches Lager‘ im zertrümmerten Westeuropa gegen die verbreitete Verunsicherung ideell zu formieren, geals Gegenposition zum diskreditierten Radikalnationalismus und zum bedrohlich nahegerückten Supermacht-Kommunismus der UdSSR. Der Wohlstand als neuer Gott war noch fern, näher hingegen Goethe und Karl der Große, beide aus Zeiten, in denen Deutschland und Frankreich noch keine Erbfeinde waren.

Hat das Abendland Zukunft? In der Gestalt der 1950er Jahre sicher nicht. Aber die neuere Diskussion im Katholizismus ist höchst spannend, weil sie nicht bei der Ideologiekritik stehenbleibt, sondern den Blick auf eine dialektische Weiterentwicklung richtet und Dialog ohne Rekurs auf die eigenen Traditionen und Gewißheiten mit Recht für sinnlos hält. Eine überzeugende Einführung in diesen Zusammenhang bietet der Eintrag im Lexikon für Theologie und Kirche (LThK, Bd. 1, 3. Aufl. Freiburg u.a. 1993, 23f.):

[SCAN wg. Urheberrecht entfernt]

Zum Weiterlesen:
Michael Stahl, Botschaften des Schönen. Kulturgeschichte der Antike. Stuttgart (Klett-Cotta) 2008
Friedrich Maier, Die geistigen Wurzeln einer europäischen Wertegemeinschaft in Antike und christlichem Abendland, in: Anregung. Zeitschrift für Gymnasialpädagogik, Bd. 45, 1999, 219-234 (Spätling aus dem Geist des bayerischen Schulhumanismus)
Joachim Rieker, „Das Geheimnis der Freiheit ist Mut“. Antike Vorbilder in der amerikanischen Außenpolitik von Theodore Roosevelt bis Bill Clinton. Paderborn u.a. (Schöningh) 2006.

Die dritte Auflage des elfbändigen, ganz wunderbaren LThK (ich liebe Lexika!) ist gerade als Paperback-Ausgabe für vergleichsweise kleines Geld zu haben und sei hier nachdrücklich empfohlen!


1 Lesermeinung

  1. franket sagt:

    Wie ein Mitdiskutant bereits...
    Wie ein Mitdiskutant bereits sagte, ist es die Sache eines jeden Bloggers, wie er seinen Blog nennt. Für mich ist das in Ordnung, nachdem ich meine Bedenken vorgetragen habe. Nur noch ein paar Worte zur weiteren Erhellung der Frage.
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    Ich verstehe mich als bürgerlicher Mensch und komme mir darin manchmal wie der letzte Mohikaner vor. Dennoch hat das „Abendland“ mir als Konzept nichts zu sagen. Aber auch gar nichts. Deshalb meine Kritik.
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    Das „Abendland“ bedeutet für mich stets und immer das „christliche Abendland“, das im Gegensatz zum islamischen Orient stand, auch wenn der Begriff erst nachmittelalterlich ist. Es geht hier also hauptsächlich um eine Zeit, in der das Erbe der Antike nur verklausuliert und pervertiert vorkam. Das FPÖ-Wahlplakat trifft es in diesem Sinne nicht schlecht: „Abendland in Christenhand“ – ein Wortpaar, das zusammen passt, aber rückwärtsgewandt ist, wie ich schon sagte. Ich jedenfalls sehe eine gute Zukunft nicht im Wiedererstarken der Religion, gleich welcher auch immer.
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    Ein Konzept, das mir schon sehr viel mehr zu sagen hat, ist der „Westen“. Es ist die Wiederentdeckung der Antike, die Geburt eines Europas und Amerikas, in dem die Religion immer mehr zurückgedrängt und durch rationales Denken ersetzt wird.
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    Aber auch der „Westen“ befriedigt als Konzept nicht mehr. Der Westen ist ebenfalls bereits Vergangenheit. Längst sind zahlreiche östliche und südliche Länder zu Ländern des „Westens“ geworden. Auf die Hinterfragung von Religion und die Benutzung des Verstandes haben wir nun einmal kein Monopol. Wir waren nur die ersten. Genauer gesagt: Die alten Athener.
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    Und im klassischen Westen wachsen teils wieder Zustände heran, die einen deutlichen Rückschritt in der Aufklärung vorausahnen lassen. Wenn wir die bei uns lebenden und immer größere Teile der Bevölkerung stellenden Muslime mit „ins Boot“ holen wollen, dann sollten wir allerschleunigst damit aufhören, von „Westen“ zu sprechen. Lassen wir eine mürbe gewordene Hülle fahren, um die Inhalte zu retten.
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    Das Wort „Westen“ trifft es nicht mehr. Hinten und vorne nicht mehr. Ich benutze es hin und wieder auch noch. Aber es trägt immer mehr den Ruch des Kulturchauvinismus an sich. (Das Wort Abendland sowieso, wer redet denn noch so, die zitierte christliche Propaganda?!)
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    Was es letztlich trifft ist das Wort „Aufklärung“. Oder „Humanismus“.
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    Es hört sich naturgemäß als missionarisch im negativen Sinne an, wenn man die „westliche“ Kultur exportieren möchte. Jeder denkt dann an Coca Cola. Es ist ein solcher Export jedoch im positiven Sinne zu verstehen, wenn wir das Wort „Westen“ weglassen und statt dessen formulieren, dass man die Aufklärung exportieren, stimulieren und voranbringen möchte. Zumal jede Kultur hierzu bereits eigene Ansätze vorweisen kann. Auch der Islam. Denn es sind eben alles Menschen, und Aufklärung ist nichts Abendländisches, nichts Europäisches, nichts Griechisches und nichts Westliches, sondern etwas Menschliches.

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