Ein Kollege macht mich auf eine Ausstellung aufmerksam, die nach Stationen in Paris, Turin, Amsterdam und Washington D.C. kürzlich in New York zu sehen war und noch in zwei weiteren amerikanischen Städten Station machen wird: „Afghanistan. The Hidden Treasures of the Kabul Museum“. Offenkundig keine normale Zurschaustellung eines ‘nationalen‘ Erbes aus der Antike. Eine solche kann die von der National Geographic Society geförderte Wanderschau auch gar nicht sein, denn die Stücke kommen aus einem Land, das seit mehr als fünfunddreißig Jahren durch Bürgerkrieg, sowjetische Besetzung, Taliban-Herrschaft und – nach deren Sturz durch die Intervention der von den USA geführten Koalition – fortgesetzten Terrorkrieg nicht zur Ruhe gekommen ist.
In seinem Geleitwort bezeichnet Präsident Karsai die Ausstellung emphatisch, doch sicher mit Recht als ein Wunder: „Noch vor sieben Jahren im eigenen Land als Geiseln gehalten konnten wir nicht einmal davon träumen, daß die schönsten amerikanischen Kunstmuseen schon so bald die reiche Kultur und Geschichte Afghanistans feiern würden.“ Doch die vergleichsweise unspektakulären (mein Kollege schreibt: mageren) Exponate dementieren den kulturpolitischen Gründungsmythos, den der Präsident zu stiften sucht: „In wunderbarer Weise wurde unser kulturelles Erbe bewahrt und verteidigt durch eine tapfere und selbstlose Gruppe afghanischer Helden. Ein einziges Stück Gold wäre eine Freifahrkarte aus dem Krieg und den Verwüstungen gewesen, aber kein einziges Stück ging verloren.“ Das mag für bestimmte Bestände gelten, doch insgesamt lassen selbst die summarischen Schilderungen Schilderungen im Katalog erahnen, wie viel zerstört und geraubt wurde – man möchte beinahe in dieser Situation möglichst vielen Gegenständen wünschen, illegal an ausländische Sammler verkauft worden zu sein, weil sie dort wenigstens in Sicherheit wären.
Die Linie der Verluste reicht weit zurück. So ließ ein afghanischer Minister 1979 die Bestände des Museums kurzerhand zu sich nach Hause schaffen; das Museum wurde dem Verteidigungsministerium zugewiesen. 1988 kamen die wertvollsten Objekte aus verschiedenen Museen in die Obhut von Präsident Mohammend Najibullah, der sie der Staatsbank anvertraute. 1994 wurde das Nationalmuseum in Kabul von einer Rakete getroffen und ging in Flammen auf. 2001 verfügten die Taliban ein faktisches Bilderverbot; ein Rollkommando zerstörte angeblich 2500 Objekte. Einen kurzen Moment weltweiter Aufmerksamkeit erlangte die Sprengung der berühmten Buddah-Statuen von Bamiyan. Die archäologischen Ausgrabungsstätten wurden verwüstet und lagen dann brach. Ein Edikt von Mullah Omar, die historischen Überreste zu bewahren und Raubgrabungen sowie illegale Antikenausfuhr zu unterbinden, blieb wirkungslos.
Das vorislamische Erbe Afghanistans wird pragmatisch definiert: Auf dem Gebiet des heutigen Staates lagen in der Antike drei Regionen: Baktrien im Norden, Areia im Westen und Arachosien im Süden. Da auch noch die Seidenstraße durch das Land führte, wird das ‘nationale‘ Erbe politisch vereinnahmt und zugleich kulturpolitisch mit den heute üblichen Formeln definiert: Grenzgebiet, Austausch, Vielfalt, Begegnung. Das hindert aber nicht daran, Zeit und Raum für die eigene Bedeutung heutzutage in Beschlag zu nehmen; von Afghanistans „pivotal role in world history“ ist die Rede, auch liege das Land nicht am Rande, sondern „it appears here at the center of trade routes connecting the ancient world“ – Kuriose Beobachtung: Zur raschen Orientierung ein Blick in Imanuel Geiss‘ Geschichte griffbereit, Bd. 5: Staaten. Dort der erste Satz: „Afghanistan war stets Peripherie.“ In der Tat gehörte das Gebiet in der Antike zu politischen Verbänden, die ihren Schwerpunkt außerhalb von Afghanistan hatten. Dem persischen Achämeniden-Reich (ca. 550 – 330 v.Chr.) folgten das Reich Alexanders (329/27 – 323), das Seleukidenreich (323/12 – 305) und das Maurya-Reich des Chandragupta (305 – ca. 250). Das Graeco-baktrische Reich (ca. 250 – ca. 130) in Afghanistan umfaßte auch das östliche Persien und den Panjab. Das Kushan-Reich der Yüeh-chih (ca. 130 v.Chr.- ca. 300 n.Chr.), ungefähr auf demselben Territorium, beschränkte sich zuletzt auf das Kabultal.
[KARTE wg. Urheberrecht entfernt]
Kuratoren- und Kulturministerprosa ist offenbar nie der richtige Ort, Ursprungsmythen oder die Relativität von Zentrum-Peripherie-Konstruktionen zur Diskussion zu stellen (das gilt übrigens auch für das Deutsche Historische Museum!). Im verwundeten, vernarbten Afghanistan hat die Historie dem Leben zu dienen, diene die Bewahrung des kulturellen Erbes doch dazu, die Identität zu stärken und einen Sinn für Unversehrtheit zu gewinnen. Das kulturelle Erbe könne ehemalige Feinde in einem gemeinsamen Interesse vereinen, abgerissene Gesprächsfäden zu flicken, Dialog zu pflegen und sich für eine gemeinsame Zukunft in der internationalen Staatengemeinschaft einzusetzen. Man hört die kulturnationalen bzw. von der UNESCO inspirierten Interpretamente gern, allein es fehlt der Glaube.
Viel stärker als durch die Behauptung, sie repräsentierten die Identität und Einheit Afghanistans als eines traditionsbewußten Gebildes, gehören die gezeigten Objekte aus vier verschiedenen historischen Kontexten durch einen ironisch-bitteren Umstand zusammen: Sie stammen sämtlich aus dem Tresor der Kabuler Staatsbank, wo sie alle Akte der jüngsten Zerstörungen überlebt hatten und 2004 wiedergefunden wurden.
Gezeigt wurden in New York bronzezeitliche Goldgefäße aus Tepe Fullol (Abb.), ferner Artefakte aus Aï Khanum im Norden, einer wahrscheinlich von Alexander persönlich gegründeten Stadt, die später alle Attribute einer hellenistischen Polis besaß (Abb.: Porträtherme vom Gymnasion). Knapp 2000 Jahre alt sind die Stücke aus dem Lagerraum eines Händlers in Bagram, einem Zentrum des von iranischer, indischer und griechischer Kultur geprägten Großreiches der Kushanen, während der bei Tillya Tepe gefundene Schmuck sechs baktrischen Nomaden ins Grab mitgegeben wurde.
[BILDER wg. Urheberrecht entfernt.]
Das Thema ist reich an...
Das Thema ist reich an Einsichten.
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Immer wieder schön ist es zu sehen, wie linke Kritiker amerikanischer Politik erkennen, dass eine Nation ohne gewachsenes Nationalbewusstsein, ohne kulturelle Schätze der nationalen Verbundenheit, ein elementares Existenzproblem hat – dieselben Kritiker, die uns zuhause jedes Nationalbewusstsein austreiben möchten. Ein anderes Beispiel ist die Erkenntnis, dass Kulturschätze in Europa offenbar besser aufgehoben sind als in ihren Herkunftsländern. Aber niemals dürfte man es wagen anzudeuten, dass unsere Kultur (z.Z. noch) über Errungenschaften verfügt, die dort offenbar (ebenfalls: noch) fehlen. Inzwischen sind wir auch langsam wieder soweit, zu erkennen, dass „die Amis“ auch nicht am Schicksal des Bagdad-Museums schuld sind, sondern verantwortungslose Altertumswissenschaftler das Schicksal des Bagdad-Museums für eine beispiellose kulturrelativistische, anti-demokratische und anti-amerikanische Hetzkampagne benutzt haben. Wie nur wird die Altertumswissenschaft diesen Makel je wieder abgewaschen bekommen?
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Zu alledem fällt mir immer wieder der Satz des amerikanischen Präsidenten George W. Bush ein, der über die Iraker sagte: “ I believe that God has planted in every heart the desire to live in freedom and peace.“ Jawohl: So funktioniert Aufklärung, Humanismus, Nationbildung und Kulturbewahrung. Oder gar nicht.
Dieser Artikel irritiert mich...
Dieser Artikel irritiert mich etwas.
Sätze wie z.B.: einer wahrscheinlich von Alexander persönlich gegründeten Stadt, die später alle Attribute einer hellenistischen Polis besaß ,
oder: Knapp 2000 Jahre alt sind die Stücke aus dem Lagerraum eines Händlers in Bagram, einem Zentrum des von iranischer, indischer und griechischer Kultur geprägten Großreiches der Kushanen.
Wie kann es sein das eine „griechische Kultur“ oder „helllenistische Polis“ in dieser Gegend existiert hat obwohl Alexander der Große (Aleksandar Makedonski auf Makedonisch) nichts hellenistisches an sich hatte?
Hatte der Prof.Miller mit seinem Brief an Obama (siehe Artikel vom Mai dieses Jahres: https://faz-community.faz.net/blogs/antike/archive/2009/05/18/mr-president-alexander-der-grosse-war-kein-slave-ein-peinlicher-geschichtspolitischer-aufruf.aspx
um ihn auf einen angeblichen geschichtlichen Irredentismus aufmerksam zu machen etwa doch Recht?
@Aristotelov:
Psst, wir sind...
@Aristotelov:
Psst, wir sind hier in der EU, da darf man doch nicht die Wahrheit sagen! Wo kommen wir sonst hin? Da könnte ja jeder kommen. Es ist dem Untertan nicht gestattet, seine eigene kleine Meinung über die höheren Einsichten der Obrigkeit zu stellen. Sonst kommt der Staatsanwalt und klagt einen wegen Volksverhetzung an, siehe Link.
Die Politik lautet: Mazedonien *muss* eine Erfolgsstory werden, und wer nicht mitmacht, ist ein böser Nazi.
Dass dabei eine gesunde Nationbildung, die es nur auf Grundlage von Wahrheit geben kann, versäumt wird, wen kümmert’s? Was Stalin konnte, können wir auch: Machen wir aus Alexander eben einen Slaven. Und Griechenland wird irgendwann einsehen müssen, dass es nach Konstantinopel und Zypern nun auch Makedonien hergeben muss.
Denn die Griechen, dass weiß die EU genau, die Griechen sind ja nur ein daher gelaufener Haufen, die in Wahrheit gar keine Griechen sind!
Und der EU werden Sie doch nicht widersprechen wollen?!
Genosse!
@franket
Respekt,Sie haben den...
@franket
Respekt,Sie haben den Sarkasmus aus meinem Kommentar(e) erkannt!
(Ich habe nur die paradoxe Logik einiger FAZ-Journalisten und gewissen Slawen etwas weiterinterpretiert).
Generell betrachtet,auch was ihrem Link angeht,kann man einem Volk „die Wahrheit“ oder mehrere Wahrheiten verkaufen wenn es nicht hoch gebildet ist.
Das heißt die Politiker mit Unterstützung der Medien wollen dem „Volk“ was einbilden.
Bildung ist das Maß aller Dinge um eine demokratische Zivilgesellschaft aufrecht zu erhalten.
Der EU werde ich auf keinen Fall widersprechen;-)Wer Subventionen will muß sich auch eine „politisch korrekte“ Historie vorschreiben lassen,alles andere wäre Nationalismus.
PS:Es war nicht Stalin sondern Tito der seinem „Volk“ was eingebildet hat!(was keinen Unterschied gemacht hätte)