Antike und Abendland

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Tagesaktualität, wie sie sich mit einem Blog verbindet, und Antike – das scheint nicht zusammenzugehen. Dennoch soll hier der Versuch gewagt

Rückkehr nach Waldeck: Die vorzügliche Ausstellung „Antikes Leben“ in Bad Arolsen

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Ein naßkalter Samstagnachmittag im Oktober. Eigentlich ideales Museumswetter. Nicht so im Schloß Bad Arolsen, wo zur Zeit die Ausstellung Antike(s) Leben zu...

Ein naßkalter Samstagnachmittag im Oktober. Eigentlich ideales Museumswetter. Nicht so im Schloß Bad Arolsen, wo zur Zeit die Ausstellung Antike(s) Leben zu sehen ist. Eine Seniorengruppe in der Schloßführung kreuzt den Weg, doch die Sonderschau ist menschenleer. Dabei macht sie mit zahlreichen, für sich genommen unspektakulären, in der Kombination jedoch höchst eindrucksvollen Stücken deutlich, in welchem Ausmaß die Vorstellungs- und Lebenswelt eines durchschnittlichen Fürstenhauses im 18. Jahrhundert von der Antike geprägt war.

Das Fürstentum Waldeck (bis 1712 Grafschaft) umfaßte nur gut 1100 Quadratkilometer; die Stadt Arolsen, wo 1710-1720 das Residenzschloß neu errichtet wurde, hatte nicht mehr als 2000 Einwohner; die bedeutendsten Söhne der Stadt waren im 19. Jh. der Bildhauer (und Antikenrestaurator) Christian Daniel Rauch und die Maler Wilhelm und Friedrich Kaulbach.

Die Schau veranschaulicht alle wesentlichen Erscheinungsformen einer gelebten Antikebegeisterung, beginnend mit der Antikisierung in der Architektur des Schlosses, in Ornamenten und Symbolen, in Kleidern und Kleinmöbeln. Zum Lächeln veranlaßt die – seit dem Mittelalter gängige – genealogische Rückführung auf Heroen des Altertums. Im Waldecker Land, wo bereits im 12. Jh. ein Graf auf den Namen Widukind hörte, führte man sich auf die Sachsen zurück, und diesen wiederum rühmte man nach, von einem Gefolgsmann Alexanders des Großen abzustammen. Solche Herleitungen dienten kaum der ‘Legitimation‘, wie das gängige herrschaftssoziologische Interpretament besagt. Sie waren vielmehr Teil einer umfassenden Wissensordnung, die Orientierung gab, Prestige verlieh und das Sich-Einpassen in eine als kanonisch betrachtete Kultur ermöglichte. Die antiken Helden waren mehr als nur Vorbilder für Stärke, Mut und Tapferkeit. Paläste, Villen, Gärten, Häuser, Lebensstil, Kriegführung und Bildung der Alten wurden zur Folie für die Burgen, Schlösser und Inneneinrichtungen ebenso wie für die Haltungen und die Lebensführung insgesamt. Die Fürsten und Prinzen von Waldeck betätigten sich oft in fremden Militärdiensten. Das Kriegshandwerk war standesgemäß und bot ein sicheres Auskommen. Auf den Schlachtfeldern Europas winkten Ruhm und Ehre, wie einst für Achilles und Alexander, Scipio und Caesar, die Risiken für Leib und Leben wurden gering geachtet. In kaiserlicher oder niederländischer Uniform kämpften die Prinzen von Waldeck gegen Türken, Preußen und Franzosen, mit wechselndem Erfolg, aber stets an vorderster Front und mit hoher Einsatz- und Risikobereitschaft. Entspre­chend hoch waren die Verluste: Christian August verlor einen Arm, Lud­wig sein Leben.

Finanzielle Engpässe prägten die Lebensführung der Brüder, sei es in Arolsen, Pyrmont und Rhoden oder in Wien, Prag und Lis­sabon, in Hermannstadt, Linz und Basel. Die Kluft zwischen dem gesellschaftlichen Rang und Anspruch und der tristen Realität leerer Kassen und hoher Verbindlichkeiten wurde immer und überall schmerzhaft empfunden. Der Geldmangel bestimmte die Heiratspolitik des Hauses, er nötigte zu schmerzhaften Ein­schränkungen und zur Schuldenmacherei. Dennoch hielt er die Brüder nicht davon ab, ihren kulturellen und künstlerischen Interessen und Neigungen nachzugehen, zu reisen, Bücher zu kaufen, Kunstwerke, Antiken und Naturalien zu sammeln.

Die Hinwendung zur Antike war Voraussetzung für eine standesgemäße Kommunikation im Radius von halb Europa, sie erlaubte aber auch, individuell Schwerpunkte zu setzen. Das Begehren kollidierte, wie gesehen, mit den Möglichkeiten eines kleinen Fürstentums: Bücher waren billiger als antike Artefakte, und vieles von dem, was einst die Kabinette und die Bibliothek des Fürstentums zierte, mußte später verkauft werden, um Schulden zu begleichen – oder gar, um das Schloß vor dem Verfall zu retten. So ging 1927 das Prunkstück der Bibliothek, die monumentale, um 1400 entstandene sog. Arolser Weltchronik, nach Berlin, von wo sie für die Ausstellung zurückgekehrt ist.

Doch woher die Begeisterung? Sie war sicher mehr als eine bloße Mode. Man darf nicht vergessen, daß Antike Mitte des 18. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von ‘alt‘ bedeutete. Die Funde aus den jüngst ergrabenen Vesuvstädten waren aufregend neu; bei allen, die nicht dorthin reisen konnten, fanden Reiseberichte, Kupferstiche, Zeichnungen und Gemälde reißenden Absatz. Römische Bildhauerwerkstätten kamen kaum nach, die europaweite Nachfrage nach ‘originalen‘ antiken Skulpturen zu befriedigen – was verkauft wurde waren mitunter komplette Fälschungen, meist aber bis zur Unkenntlichkeit des antiken Substrats ergänzte Figuren, um deren Deutung mit Hilfe antiquarischer Handbücher gerungen wurde. Aber es gab eben auch Winckelmann, der eine neue Schule des Sehens durch das Anschauen antiker Kunstwerke begründete. Und die etruskischen Gräber mit ihrer Keramik, die einen schaurig-direkten und zugleich farbenfrohen Zugang zu den Alten boten.

Wer konnte, reiste. Die Kavalierstour führte die Prinzen nun selbstverständlich auch nach Italien, und Goethe äußerte sich in der Italienischen Reise beifällig über eine Ausfahrt nach Puzzuoli und „die Gesellschaft eines so vollkommenen und unterrichteten Fürsten“, den er in Christian August von Waldeck zu sehen beliebte. Doch Goethe hatte später das bessere Maß und konnte sich für eine spontane Idee Christians nicht erwärmen: gemeinsam nach Griechenland und Dalmatien zu reisen. „Wenn man sich einmal“, so Goethe, „in die Welt macht und mit der Welt einläßt, so mag man sich ja hüten, daß man nicht entrückt oder wohl gar verrückt wird.“

Doch auch ins Haus konnte man sich die neueste Antike holen, durch Kleinbronzen, Münzen, Keramik, durch Gips-Porträtköpfe, auch durch antikisierende bzw. pseudo-antike Musik mitsamt nachgebildeten Instrumenten. Vor allem aber durch Bücher. Die sensationellen Funde in Herculaneum konnte man in monumentalen Bildwerken am Arolser Fürstenhof in einer Qualität bestaunen, die das Original fast vergessen machten. Man darf sich die fürstliche Bibliothek, die im Mittelpunkt der Ausstellung steht, allerdings nicht wie eine wissenschaftliche Seminarbibliothek vorstellen, wie sie im 19. Jahrhundert zu entstehen begannen. Das umfassende Interesse schied nicht nach gelehrten Textausgaben und Übersetzungen; Antikenromane standen neben Reiseberichten und wissenschaftlichen Abhandlungen; Lehrbücher zum Krieg neben populärphilosophischen Traktaten. Besonders aufschlußreich sind schließlich die Lehrbücher für den Unterricht. Das dort entworfene Idealbild der Antike sollte den Fürstensöhnen als Fundament ihrer eigenen, besseren Zukunft vor Augen stehen.

 

Am Ende hatten die drei Söhne des Fürsten Carl August Friedrich, unter ihnen besonders der schon erwähnte Christian August, eine Sammlung von über 600 antiken „Bronzen und Marmoren“ zusammengebracht, dazu ein ansehnliches Münzkabinett, zahlreiche Bücher und Werke zeitgenössischer Kunst zu antiken Themen: Gemälde von Hackert, Tischbein, Angelica Kaufmann oder Skulpturen Alexander Trippels. Als nach 1800 die wissenschaftliche Historisierung des Altertums einsetzte, traf sie in Arolsen auf ein bereits erlahmtes Interesse. Die nächste Phase der Antikerezeption, wie sie aktuell wieder im Neuen Museum zu Berlin zu sehen ist, gehorchte anderen Gesetzen: bürgerlich, hegelianisch, von Wissenschaft flankiert.

Die Ausstellung „Antike(s) Leben. Simulation eines Ideals in Hofbibliothek und Kunstsammlungen der Fürsten von Waldeck und Pyrmont“ ist bis zum 7. Feb. 2010 im Residenzschloß Bad Arolsen zu sehen (Di. bis So., 11-17 Uhr). Zu erreichen über die A 44, Abfahrt Diemelstadt.

Der vorzügliche Katalog kostet in der Ausstellung € 24,80 (Michael Imhof Verlag, ISBN 978-3-86568-478-3 od. 978-3-930930-23-4).

www.schloss-arolsen.de

 


1 Lesermeinung

  1. franket sagt:

    Was wir heute brauchen, ist...
    Was wir heute brauchen, ist eine neue Phase der Antikenrezeption. Eine neue Begeisterung für die Ideale, die unsere Menschlichkeit zur höchsten Entfaltung gebracht haben. Eine neue Erkenntnis, dass Antike nicht alt, sondern neu ist. Humanität kann verloren gehen, sie ist eine kulturelle Errungenschaft, die ohne Pflege wieder abhanden kommt. Lassen wir es nicht zu!
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    Auch für das Thema Integration ist es wichtig. Vor den drei Buchrreligionen war die Antike da, sie wurde von allen drei Religionen rezipiert. Eine Chance für eine gemeinsame Basis! Und auch die fernöstlichen Weisheiten kann der besser verstehen, der das antike Konzept des Weisen kennt.
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    Ohne Antike wird die Zukunft barbarisch sein, fremd und unkultiviert, dessen bin ich gewiss.
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    P.S.: Das Schulzeugnis ist herzallerliebst 🙂

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