Ein griechischer Kollege, Kostas Buraselis, schickt mir den Begleitband zu einer Ausstellung, die inschriftliche Zeugnisse zur athenischen Demokratie versammelt. Die Schau wurde gemeinsam von der Universität Athen und dem Epigraphischen Museum gestaltet und war bisher in Athen und Melbourne zu sehen (Athenian Democracy Spreaking through its Inscriptions. Exhibition of Inscriptions from the Epigraphic Museum. Catalogue, ed. by M. Lagogianni-Georgakarakos / K. Buraselis. Athens 2009, ISBN 978-960-89862-2-0).
Der Band biete eine instruktive Einführung in das Funktionieren der welthistorisch ersten und ihrer Art singulär gebliebenen tatsächlichen Selbstregierung eines Bürgerverbandes; leider sind aber gerade die Abbildungen auf den großformatigen Seiten viel zu klein ausgefallen. Eine Webseite des Centre for the Study of Ancient Documents bietet willkommene Abhilfe.
Man muß sich die athenische Demokratie zumal im fünften Jahrhundert als einen höchst lebendigen Betrieb vorstellen, in dem die mündliche Kommunikation dominierte – nicht nur in den großen Reden vor der Volksversammlung, von denen Thukydides eine Vorstellung gibt und die wir seit dem Ende des Jahrhunderts auch in den attischen Rednern dokumentiert haben, oder in den vorbereitenden Beratungen des Rates der Fünfhundert, sondern auch auf den Straßen und Plätzen, während der Symposien und in den Versammlungen der 139 ‘Gemeinden‘ (Demen) in ganz Attika, den Pflanzstätten der Demokratie, in denen lokale Angelegenheiten beraten und beschlossen wurden. Die Konjunktur für die Sophisten mit ihrem Rhetorikunterricht vor 400 v.Chr. kann ebenso für diese Mündlichkeit stehen wie die Dialoge Platons.
Gleichzeitig entwickelte die demokratische Praxis eine umfangreiche Schriftlichkeit, indem Beschlüsse in Stein dokumentiert und öffentlich aufgestellt wurden. Man sollte diese Übung nicht als Archivierung und Versachlichung politisch-administrativer Abläufe mißverstehen. Denn keineswegs alle Volksbeschlüsse wurden in dieser Form verewigt; die Publikation mußte eigens beschlossen und finanziert werden. Vielmehr versicherte sich der Demos durch diese Inschriften, die eben auch eindrucksvolle Monumente darstellten, seiner Gestaltungsmacht weit über die Polis Athen hinaus und bildete zugleich das demokratische Verfahren mit der breiten Machtlagerung und der uneingeschränkten Souveränität des Volkes ab. Die weitaus meisten erhaltenen Texte behandeln Angelegenheiten des 478 v.Chr. gegründeten Attischen Seebundes, der die Athener rasch zu einer Großmachtstellung führte, seinerseits aber auch eine gewaltige Agenda produzierte. Ständig mußten Gesandte empfangen, Flotten in Marsch gesetzt, Amtsträger kontrolliert, Freunde geehrt, Abtrünnige zur Raison gebracht, Bündnisse geschlossen, hin und wieder auch auswärtige Siedlungen begründet werden. Man hat mit Recht gesagt, daß in Athen auch deshalb keine nennenswerte demokratische Theorie entwickelt worden sei, weil sich die Demokratie täglich durch die Praxis definiert und dadurch auch bestätigt habe; einer schwach entwickelten intellektuellen Durchdringung stand ein höchst robustes, auch schwerste Krisen und Aderlässe überstehendes Selbstgefühl gegenüber.
Die Schau auch einmal nach Deutschland zu holen sollte möglich sein. Es wäre einiger Mühen und des Sammelns der notwendigen Gelder wert.
Das folgende Beispiel, das sog. Kleinias-Dekret aus dem Jahr 448/7 (das Amtsjahr in Athen begann im Sommer) oder (weniger wahrscheinlich) aus dem Peloponnesischen Krieg, nennt Bestimmungen zum Verfahren beim Einziehen der jährlichen Tribute (phoroi), welche Athen jährlich von den Mitgliedern des Seebundes erhielt. Genauer Anweisungen an die verschiedenen Aufgabenträger, Kompetenzverteilung, eine gewisse Kontrollwut, aber auch der Appell an Eigeninitiative (Z. 34!) und immer neue Kommunikationen prägen das Bild. Den Monumentcharakter unterstreicht das Schriftbild: Die Schrift ist stoichedon aufgebracht, jeder Buchstabe beansprucht den gleichen Raum, und es gibt keine Worttrennung.
[Abb. und griech. Text wg. Urheberrecht entfernt]
„Götter! Beschlossen haben der Ra[t und das] Volk; (die Phyle) Oineis hatte die Pry[tanie inne, Sp]udias war Schriftführ[er, ………]on (Z. 5) war Epistates, Kleini[as stellte den Antrag: De]r Rat und die Arch[onten in] den Städten sowie die [Episko]poi (= Inspektoren) sollen dafür sorgen, da[ß zu]sammenge bracht wird der Tribut jedes Jahr (Z: 10) und abge[führt wird] nach Athen, Kennmarken soll man [anfertige]n für die Städte, d[amit] es keine Möglichkeit zu rechtswidrigem Handeln gibt für die Ü[berbring]er des Tributs. Wenn die Stadt verzeichnet hat in (Z. 15) einem Schriftdokument de[n Tri]but, den sie entrichtet, soll sie es nach Siegelung mit der Kennm[arke] nach Athen senden und die Überbringer sollen das Schriftdokument überreichen im Rat, um es [dann] vorlesen zu lassen, wenn sie den Tribut entrichten. Die Prytanen sollen nach den Dio[ny]sien die Volksversammlung einberufen für die (Z. 20) Hellenotamiai, um den Athenern bekanntzugeben diejenigen von den Städten, welche [den Tribut] vollständig entrichtet haben, und diejenigen, welche im Rückstand sind, gesondert und (mit der Angabe,) wieviele [es sind. Die Ath]ener sollen nach der Wahl von vie[r Männern diese zu] den Städten [entsenden (mit dem Auftrag,)] eine Bestätigung d[es bezahlten Tributs] auszuhändigen [un]d einzufordern (Z. 25) d[en nicht bezahlten von den im Rückstand befindlichen (Städten): Zwei sollen zu [den (Städten) auf den Inseln sowie in lonien auf] einer Eil[t]riere reisen, [zwei zu den Städten am Hellespont un]in Thrakien. [Die Prytanen sollen diese (Punkte) dem] Rat v[orlegen]und de[m Volk sogleich nach den Dionysien und solange] ununterbrochen (Z. 30) [dar]über [be]raten lassen, [bis zu Ende verhandelt]ist. Wenn ein Ath[ener oder Bündner rechtswidrig handelt bezüglich de]s Tributs, den [die Städte] verpflichtet sind [in einem Schriftdokument zu verzeichnen] für die, die ihn überbring[en, und (ihn) nach Athen zu entrichten, so soll es möglich sein, gegen ihn] Klage einzureichen bei [den Prytanen für jeden, der dies w]ünsch[t, Athen]er (Z. 35) oder B[ündner; die Pryta]nen aber [sollen die Klage, welche jema]nd eingereicht hat, vor den Rat bring[en oder] ein jeder von ihnen soll wegen Bestechung [mit zehntausend Drachm]en [zur Verantwor]tung gezogen werden. [Was denjenigen betrifft, den] d[er Rat] für schuldig befunden hat, soll er [nicht] befugt sein, [für dies]en [das Strafmaß festzusetzen, sondern] soll (ihn) [sogleich] vor d[ie Heliaia] bringen. Wenn man zu dem Befund [eines Rechtsverstoßes] gekommen ist, (Z. 40) [sollen die Pry]tanen Vorschläge machen, was [man] für richtig befind[et, daß er] als Strafe oder als [Buße] erhalte. [Und w]enn jemand bei der Ab[lieferung]des Rindes oder [der Panhoplie] rechtswidrig handelt, soll das Klageverfahren gegen ihn [und die Strafe] in der gleichen Weise erfolgen. Die [Hellen]o[tamiai sollen nach der Aufzeichnung au]f einem [weiße]n Brett (Z. 45) [sowohl die] Tribut[veranlagung] bekanntgeben als auch [die Städte, welche den vollständigen Betrag entrichtet haben, un]d registrieren ———(ca. 10 Zeilen zerstört)“
Die immer noch beste Gesamtdarstellung mit besonderem Interesse für Praxis und Immanenz der demokratischen Ordnung ist Jochen Bleicken, Die Athenische Demokratie. 2. Aufl., Paderborn u.a. (Schöningh) 1994 (acu als Tb.). Ganz anders angelegt, aber ebenfalls sehr lesenswert: Wilfried Nippel, Antike oder moderne Freiheit? Die Begründung der Demokratie in Athen und in der Neuzeit. Frankfurt/M. (Fischer-Tb.) 2008. Vgl. ferner jüngst: Paul Cartledge, Eine Trilogie über die Demokratie. Stuttgart (F. Steiner) 2008 (drei Heidelberger Vorträge). – Die Übersetzung des Kleinias-Dekrets wird Kai Brodersen verdankt und ist zu finden in: K. Brodersen, W. Günther, H.H. Schmitt, Historische griechische Inschriften in Übersetzung. I: Die archaische und klassische Zeit. Darmstadt 1992.