Ein Kollege macht mich darauf aufmerksam, daß man des 100. Todestages von Ludwig Friedländer am 16. Dezember hätte gedenken können. Das Datum war mir, ehrlich gesagt, entgangen, dabei waren und bleiben die Werke Friedländers unentbehrlich. Sein Name ist in erster Linie mit den „Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms in der Zeit des Augustus bis zum Ausgang der Anlonine“ verbunden, die 1862 erstmals erschienen, noch in einem Band; mit weiteren Auflagen wuchs das Werk immer mehr an; heute benutzt wird die vom Georg Wissowa besorgte 9/10. Auflage in vier Bänden (1921-1923). Wie die Handbücher der sog. Privataltertümer – eines davon hatte Friedländer noch neu bearbeitet – zeichnete sich auch das neue Werk durch eine schier unglaubliche Quellenkenntnis aus, war aber in der Auffassung und Disposition viel moderner. Der Leser – und zum Lesen, nicht nur zum Nachschlagen war das Buch bestimmt – wurde zunächst durch die Stadt Rom geführt. Das folgende Kapitel über den Kaiserhof war seiner Zeit weit voraus, denn das Personal, die Freunde und Begleiter des Kaisers, dessen Tagesablauf und das Zeremoniell werden heute als zentrale Momente der politischen Kultur der Kaiserzeit aufgefaßt. Friedländer hat das natürlich noch nicht so gesehen; ihm ging es um die quellennahe Beschreibung der längerfristigen und überindividuellen Dispositionen und Strukturen, eben die „Sitten“ einer Zeit, die er auf etwa zweihundert Jahre berechnete und als im Kern einheitliche Epoche betrachtete. Ein langes Kapitel galt danach der Gesellschaft in Gestalt der drei Stände, dem geselligen Verkehr zwischen Pflicht und Muße, den Frauen und dem Verkehrswesen. Wieder sehr originell dann das lange Stück „Die Reisen der Touristen“, das eine Betrachtung über das Interesse für Natur das Naturgefühl einschließt. Im zweiten Band geht es um die Schauspiele, die Musik, die literarische Kultur und den Luxus, den der Autor „von dem Nimbus des Fabelhaften und Unerhörten zu befreien“ suchte. Im abschließenden dritten Band stehen die religiösen Zustände im Mittelpunkt, ferner die Philosophie als Erzieherin zur Sittlichkeit und der Unsterblichkeitsglaube. Der Geist als reinigende Kraft und die Verheißung der Transzendenz: In dieser Disposition sind der deutsche Idealismus und die protestantische Prägung des Gelehrten enthalten. Der letzte Abschnitt behandelt zwar „Pessimismus und Weltschmerz im Altertum“, doch der letzte Satz des Werkes gilt Mark Aurel, dem ‘Philosophenkaiser‘, und dessen Maxime, sanft aus dem Leben zu scheiden, „gleich einer reifen Frucht, die in ihrem Falle die Natur als ihre Schöpferin preist und dem Baume dankbar ist, der sie trug“.
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Komplementär zur „Sittengeschichte“ stehen kommentierte Ausgaben zu drei lateinischen Autoren, die noch heute mit am meisten ‘Material‘ für alle seriösen und weniger seriösen Derivate dieser römischen Kulturgeschichte liefern: Martial, Juvenal, Petronius.
Doch Friedländers Interessen erschöpften sich nicht darin, die römische Kaiserzeit mit philologischer Genauigkeit und differenzierter Schilderung vom Ruf schwüler Dekadenz zu befreien, wie er etwa in den Gemälden Boulangers oder Alma-Tademas heraufbeschworen wurde.
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Die Vita des 1824 in Königsberg in eine assimilierte jüdische Kaufmannsfamilie hineingeborenen bestätigt die heute wieder gängige Milieutheorie: „Ein wohlhabendes und kultiviertes Elternhaus“, so der Verfasser des Eintrags in der Neuen Deutschen Biographie, „förderte in dem begabten Jungen jene künstlerische Aufnahmebereitschaft, die Friedländer später befähigte, nicht nur die Welt, deren Überlieferungen er prüfte, anschaulich zu erfassen, sondern auch schwierigstes Mate-rial lichtvoll zu ordnen“. Wenn auch die „Sittengeschichte“ weitgehend aus den literarischen Quellen schöpfte, kannte Friedländer doch die materielle Überlieferung gut. Er habilitierte sich 1847 in Königsberg mit einer Schrift über griechische Grabreliefs und reiste mehrfach nach Italien. Der Universität Königsberg blieb er treu, dazu dem Ideal einer Einheit der Altertumswissenschaften (sicher auch den Umständen geschuldet, da das Fach an der Albertina nicht stark ausgebaut war). Friedländer las Archäologie und griechische Religionsgeschichte, aber auch römische Numismatik, Epigraphik und Topographie. Mehr als nur Fingerübungen an einem Muß-Thema waren seine Studien zur Homerphilologie. Nach seiner Emeritierung (1892) siedelte Friedländer nach Straßburg über.
Das Pathos des wissenschaftlichen Fortschritts: Friedländer über Friedrich August Wolf, den Begründer der modernen Homerphilologie (Die homerische Kritik von Wolf bis Grote, Berlin 1853)
Dank auch für diese...
Dank auch für diese Empfehlung, Herr Walter, dies Thema liegt mir näher. Es ist ja für einen Laien sehr schwer in den fast immer sehr ausführlichen Literaturverzeichnissen die Titel herauszufinden, die für die eigene Neugier am interessantesten wären. Von einer Gewichtung des wissenschaftlichen Wertes oder der Aktualität ganz zu schweigen. Mir gefällt die Vita Herrn Friedländers ganz ausgezeichnet. Wie ungewöhnlich ist doch diese Häufung von Spezialrichtungen, welches Lesepensum muß Friedländer hinter sich gebracht haben! Ich werde nicht verfehlen, sein Werk zu Rate zu ziehen.
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An dieser Stelle möchte ich Ihnen, Herr Walter, für Ihre so wunderbar instruktiven Blogbeiträge summarisch danken. Es ist schön, daß Sie dafür die Zeit finden.
Klassenspezifische...
Klassenspezifische Beschränktheit(en)
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„Doch Friedländers Interessen erschöpften sich nicht darin, die römische Kaiserzeit mit philologischer Genauigkeit und differenzierter Schilderung vom Ruf schwüler Dekadenz zu befreien, wie er etwa in den Gemälden Boulangers oder Alma-Tademas heraufbeschworen wurde.“
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Nun ja, „schwüle Dekadenz“ vielleicht so nicht, aber doch ziemlich peinlich genau diese als solche beschreibend. So finden wir auch bei Ernest Bornemann (Das Patriarchat, vgl. meinen Blogeintrag: Das Patriarchat in Hellas, https://faz-community.faz.net/blogs/antike/archive/2009/12/21/achill-kein-vieh.aspx), auf S. 497 folgendes Zitat von Friedländer:
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„In der kleinen Welt, die ein großes Haus mit seinen ausgedehnten Besitzungen, seinen Legionen von Sklaven, seinem Anhange von Klienten und Untergebenen bildete, entschied ihr (die Rede ist von der verheiraten Frau in Rom, Einf. H.B. ) Wille über Glück und Unglück, ja über Leben und Tod. Jünglinge und Männer in grauen Haaren, Gelehrte und Tapfere, Verdiente und Hochgeborene sah sie wetteifern sich um ihre Huld bemühen. Welche Ansprüche auf Bewunderung sie auch besaß, mochte es Schönheit, Geist, Talent oder Bildung sein, sie war eines glänzenden Erfolges gewiß. In den Kreisen, in die sie nun eintrat, wurde der Eitelkeit und Gefallsucht die vollste Befriedigung, fand die Intrige den günstigsten Boden, die Leidenschaft die stärksten Anregungen, die Koketterie den unerschöpflichsten Wechsel, und wie hätten schwächere Naturen so vielen Versuchen nicht erlegen sollen!“ (Friedländer, op.cit., S. 257)
Und Bornemann lässt Seneca ergänzen: „Nichts ist sicher, wonach unzählige Wünsche schmachten.“
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Die „lichtvolle Ordnung“ findet sich eigentlich erst bei Bornemann, denn wer begreift ein solches Weib nicht als „unzüchtig“, außer der marxistische Sexualwissenschaftler Bornemann eben, soweit die soziale und kulturelle Basis hierfür erkannt wird oder nicht.
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Die Sittengeschichte ist nun mal keine Sittengeschichte, sondern Sozialgeschichte, Milieugeschichte. Erst in Folge der Studentenunruhen, jene 68er „Sexual- und Sittenrevolution“, wie man sie auch bezeichnen könnte -, fanden sich wieder genügend praktische Bewegungen, die durch die Hinwendung zum Milieu, hier insbesondere zum proletarischen, eine bürgerliche „Sittengeschichte“ obsolet werden ließen. Selbst eines Friedländers Fleißarbeit blieb diesem Rahmen noch verhaftet. Das bürgerliche Milieu, eben dieses „kultivierte Elternhaus“, kann der Ausgangspunkt nur für sein, und solches Material eben nur „material“ – und stilistisch brillant, wie man Friedländer unbedingt zugestehen muss -, erfassen. Die Sexualität der Frau aber, bzw. die Unterschiede bzgl. der Sozialethik von Klassen, sprengt nicht nur jedwede positivistische Empirie sondern erfordert auch als wissenschaftliche Basis eine revolutionäre Theorie.
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Und genau eine solche erkennt, die völlig unterschiedlich zu betrachtende Rolle der Frau im alten Hellas zu der im antiken Rom.
Frau in Hellas war faktisch Sklave, all zu oft gar unterster Sklave, wenn man die Vorlieben der Griechen für Hetären und Knaben im Auge hat. Frau in Rom bedeutete u. U., nämlich für die Patrizierfrau, aber eben auch für so manche Sklavin, den Ausweg aus der Sklaverei, den individuellen. Damit aber trug sie wesentlich bei zur Zersetzung des typisch römischen Patriarchats. Immer wieder sahen sich römische Kaiser zu Reformen veranlasst, die letztlich einer bürgerlichen Sexualethik Vorschub gaben. So zum Beispiel auch die Ehereformen und Kaiser Augustus. Sollten diese wohl das herrschende Recht schützen, das Recht der Sklavenhalter, schufen sie damit aber Bausteine, die später dann als Matrix für das moderne Recht, das bürgerliche Zivilrecht, zu verwenden waren. Darin lag eigentlich auch der Übergang Roms von der Oberstufe der Barbarei zur Zivilisation. Die „schwüle Dekadenz“ Roms war somit schon unterwandert durch ein Sittenniveau das dieser Zeit weit voraus ging, eben weil es nicht um Sitten ging, sondern um soziale Beziehungen, und der Herausbildung von Milieus, und damit auch von modernen Klassen.
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Bornemanns Werk entwickelt sich gerade in der Zeit als die Moderne ihrem Ende entgegen ging. Während der 40 Jahre, die er daran arbeitete, vollzog sich ein Richtungswechsel vor allem in den Sexualbeziehungen der Geschlechter, welche dann auch den eigentlichen Inhalt der 68er Studentenbewegung ausmachte. Und so wie die römische Ehefrau das römische Sklavenhalterrecht unterwanderte, so unterwandert die moderne Frau mit ihren sexuellen Befreiung das bürgerliche Recht, die bürgerliche Ehe, und mit dieser die Keimform jeglicher bürgerlicher, nämlich Klassengesellschaft. Bornemanns deutsche Übersetzung, dann Anfang der 60er, begleitete dann nicht nur die folgende Studentenbewegung, sondern auch, und nun noch viel mehr, eine Reformulierung marxistischer Sexualethik, ohne seine Sozialethik nicht wirklich greift.
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Und auch heute muss Frau das bürgerliche Sittenniveau nicht überschreiten, ja kann es gar bestimmend prägen (man schaue sich nur so erfolgreiche Erotikklassiker an, die von Frauen stammen, wie „Das sexuelle Leben der Catherine M“, oder nun jenen aktuellen Bestseller „Feuchtgebiete“), doch obwohl solche bürgerliche Frauen fette Profite machen, indem sie die sexuellen Fantasien des Mannes hier so erfolgreich ausbeuten, und eigentlich recht wenig für die Befreiung der Frau tun, untergraben sie die bürgerliche Moral dort am stärksten, wo diese am schwächsten ist, im Ehebett des Angetrauten nämlich.
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Mit der Auseinandersetzung um den Nachweis der Vaterschaft, beginnt der Endkampf im Rahmen des bürgerlichen Rechts, hier des Unterhaltsrechts. Jedes Eingreifen, jede Veränderung, jede Reform, gleich welche, untergräbt die Institution der bürgerlichen Ehe, sei es die Versorgungsehe oder auch die „Liebesheirat“. Noch sieht sich die bürgerliche Frau in der Alternative zwischen „Hetäre“ und Ehefrau verhangen, und doch schon steht sie mit einem Bein außerhalb beider Rollen.
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Die proletarische Frau profitiert hiervon zunächst wenig, sowohl in ihren Klassen- wie auch ehelichen Beziehungen, aber die rechtlichen Veränderungen, die diesem Gender-Mainstream folgen, verändern auch ihre soziale Lage, und damit auch ihre klassenspezifische Beschränktheit, lösen sie aus ihrer milieubedingten sexuellen Unterordnung unter den Mann.
Ludwig Friedländer ist...
Ludwig Friedländer ist übrigens nicht zu verwechseln mit Paul Friedländer, der vor 70 Jahren aus Deutschland fliehen musste, weil er die falschen Vorfahren hatte (was ein Käse, darauf muss man erstmal kommen). Paul Friedländer war vor allem ein Experte für Platon. U.a. hielt er Platons Atlantis für eine Erfindung des Philosophen.
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Danke auch für die hübschen Bilder, deren Ästhetik keinem aufmerksamen Betrachter entgehen kann 😉
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Außerdem wünsche ich Ihnen, Herr Walter, und allen Mitlesern einen guten Start ins Neue Jahr, und bedanke mich für diese Oase der Bildung in den Weiten des weltweiten Netzes.