Antike und Abendland

Klassische Sprachen, immergrün? Fragen an einen fragwürdigen Optimismus

Das Schwinden klassischer Bildung und altphilologischer Sprachkompetenz als den Untergang des Abendlandes zu beklagen haben inzwischen selbst die meisten Altphilologen aufgegeben. ‘An der Front‘, in Schulen und an den Universitäten, ist der Befund uneinheitlich und hat das Wissen darum, schon lange nicht mehr selbstverständlich zu sein, viel Kreativität im Grundsätzlichen, vor allem aber in der Alltagsarbeit ausgelöst.
Mit einer listigen Historisierung unternimmt jetzt Thomas A. Schmitz, Professor für Griechische Philologie in Bonn, einen Befreiungsschlag, um der fundierten Beschäftigung mit dem Altertum wieder mehr Autonomie zu geben. Sein Argument ist beachtlich, greift aber in einem wichtigen Punkt m.E. zu kurz (Thomas A. Schmitz, Die Krise der klassischen Bildung während des Ersten Weltkriegs, in: Angelos Chaniotis u.a. [Hgg.], Applied Classics. Comparisons, Constructs, Controversies, Stuttgart 2009, 151-166).
Mit knappen Strichen und gruseligen Zitaten skizziert Schmitz zunächst die Bemühungen von Altphilologen während des Ersten Weltkrieges, aus ihrem Fach heraus zur Gesinnungsstärke der kämpfenden Nation beizutragen und umgekehrt unter Hinweis auf die Orientierungsbedürfnisse der Zeit nachzuweisen, wie unentbehrlich gerade jetzt die intime Vertrautheit mit den Zeugnissen der klassischen Antike sei. Die Belege beginnen mit dem bekannten „Aufruf an die Kulturwelt„, den deutsche Gelehrte Anfang Oktober 1914 veröffentlichten und den der Praeceptor der damaligen Altertumswissenschaft, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, mit unterzeichnete; darin wird den Ententemächten vorgeworfen, „Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzten“. Weniger bekannt ist der ‘Kriegseinsatz‘ der Schulhumanisten in ihren Fachblättern. Neben konventionellen Vergleichen mit antiken Kriegen finden sich hier Aktionen wie der Aufruf der Zeitschrift „Das humanistische Gymnasium“, Feldpostbriefe zu sammeln und zur Verfügung zu stellen, welche den Nutzen des einschlägigen Unterrichts dokumentieren. So schrieb ein Schüler Anfang 1917 tatsächlich an seinen ehemaligen Lehrer: „Werter Herr Geheimrat! Eben Bauchschuß bekommen, habe noch das Bedürfnis, Ihnen zu danken. Für das griech. humanist. Bildungsideal, das so herrlich ist! Das mich auch jetzt noch ruhig sein läßt!“ (Wer denkt hier nicht an die Eingangsszene von „Im Westen nichts Neues“, die Schulstube, in der zum Marschtritt der vorbeiziehenden Pickelhaubenträger ein bärtiger Geheimrat vor ungeduldigen Primanern dulce et decorum traktiert?)
Schmitz schlägt den ideologiekritischen Bogen bis in der Gegenwart: Wie die Altphilologen der Wilhelminischen Zeit im Nachgang der für sie bedrohlichen Schul- und Abiturkonflikte hemmungslos die Nützlichkeit, den Gebrauchswert ihrer Fächer zu belegen suchten, so tun sie das im Grunde heute auch noch, nur heißen die Leitbilder nunmehr Lernziele, Kritikfähigkeit, Schlüsselqualifikationen oder europäische Kommunikationskompetenz:

„Aber im Zweifel findet sich dann doch jemand, der solche Qualifikationen schneller und direkter bieten kann. Wenn die Altertumskunde ihr geistiges Kapital in der Münze des Patriotismus, des Ökonomismus, der Drittmittelfähigkeit oder der Verwendbarkeit bemisst, dann wird sie immer als arm dastehen. Wir sollten m.E. vielmehr die Leistungen unseres Fachs aus seinem Inneren entwickeln: den Umgang mit der longue duree, mit den Traditionen, die das Fundament der europäischen Kultur bilden, das Weiterentwickeln der philologisch-kritischen Methoden, die in unserem Fach überhaupt erst erfunden und aufgrund der Natur der Gegenstände nirgendwo so intensiv gepflegt wurden; das Entschlüsseln von Texten und Kultur-monumenten, die aufgrund ihrer spezifischen Mischung von Fremdheit und Vertrautheit dem modernen Verständnis zwar Widerstände entgegenbringen, aber uns doch so nahe sind, dass sie nicht in den Zustand einer bloßen anthropo-logischen Kuriosität versinken, um nur einige wenige Beispiele solcher spezifischer Leistungen zu nennen, die nicht von anderen Fächern ebenso gut und ebenso fundiert erbracht werden können.“

So weit, so richtig. Und gewiß ist es auch richtig, nicht durch jeden medial hingehaltenen Reifen zu springen, also nicht in dreißig Sekunden erklären zu wollen, was uns Thukydides über den Irakkrieg sagt, oder Sophokles bei „Wetten dass“ vorstellen zu wollen – wer das wolle, werde es nur auf dem Niveau von „Wetten dass“ tun können. Ein solcher Verzicht bedeute wahrscheinlich langfristig auch Einbußen: in den Stundentafeln des Gymnasiums, an Planstellen und Instituten, Drittmitteln und Prestige. „Aber institutionellen Erhalt durch einen Substanzverlust in der Sache zu erkaufen, scheint mir ein zu hoher Preis.“
Für dieses Argument spricht viel. Allerdings scheint Schmitz die unausweichlichen Folgen einer Abkoppelung altertumswissenschaftlicher Forschung von institutionellen – sagen wir: Steuerungselementen zu unterschätzen. Gewiß spricht es nicht für die Alten Sprachen, an Gymnasien bei vielen Eltern immer noch als Prägestätten einer informellen Elite zu gelten („die Lateinklasse …!“). Gewiß waren sie viel zu lange „Bestandteil der formalen Bildung und damit Voraussetzung für den Zutritt zu den Bildungseliten, also zu gesellschaftlichem Prestige, Karriere und Teilhabe an der Macht“. Und natürlich kann man mit guten Gründen in Frage stellen, warum ein Latinum haben muß, wer am Gymnasium Mathematik unterrichten möchte – Schmitz tut auch das:

„Gerade weil sie ausschließlich auf gesellschaftlichem Konsens beruhen, unterliegen solche formalen Kriterien einem ständigen, zu gewissen politisch und sozial unruhigen Zeiten auch radikalen Wandel – eine Gesellschaft ist frei, statt einer Beherrschung des Lateinischen auch eine Beherrschung der Mathematik und der Naturwissenschaften zur Kontrolle des Zutritts zur gesellschaftlichen Elite zu nutzen oder gesellschaftliches Prestige aufgrund des Kriteriums zu vergeben, wer am schnellsten mit einem roten Auto im Kreis fahren kann. (…) Man kann nicht das Latinum als Pflicht gegen den Willen der Mehrheit in den betroffenen Fächern durchsetzen: Auf Dauer schadet ein Beharren und Festhalten an solchen instabilen, sich ständig verändernden Kriterien der Sache der Altertumskunde mehr, als es nützt.“

Doch die institutionell noch gegebenen Steuerungen schaffen auch Voraussetzungen, die aus einer intrinsischen Motivation und aus der Attraktivität der Wissenschaft als solcher heraus allein nicht zu gewährleisten wären. Es gibt nicht nur einen hinreichend großen Pool an jungen Menschen, die eine gewisse Vorbildung für die klassischen Studien mitbringen, es gibt auch eine kontinuierliche Nachfrage nach Lateinlehrern, die dafür sorgt, daß die Klassische Philologie lehrerbildendes Fach an den Universitäten einigermaßen breit vertreten ist und dann auch besonders begabte Studierende für eine wissenschaftliche Laufbahn zu gewinnen vermag, die dann nicht im Nirwana, sondern auf einem Lehrstuhl oder zumindest einer Ratsstelle ihr Ziel findet. Die wissenschaftliche Forschung kann sich auf dieser Basis in einer gewissen Breite entfalten und immer wieder auch Themen aufgreifen, die eine breitere Resonanz in der Öffentlichkeit finden. In den Zeitungen gibt es dann weiterhin Redakteure, die Alte Sprechen und Alte Geschichte studiert haben und deshalb ein Ohr für spannende Entwicklungen und Kontroversen in diesen Fächern haben. Anders gewendet: Ohne solche Rahmenbedingungen, die sich eben nicht aus der Wissenschaft selbst ableiten lassen, sondern die mit Traditionen, ‘Vorurteilen‘ und einigermaßen willkürlichen Setzungen zu tun haben, gäbe es nicht die kritische Masse, aus der sich eine forschende und bildende Wissenschaft speist. And en Rändern kann man schon sehen, was der Abbruch solcher ‘Zwänge‘ auch für die Weiterentwicklung, ja Existenz einzelner Disziplinen bedeutet. Ob es in einer Generation hierzulande noch eine nennenswerte Forschung in Antiker Rechtsgeschichte geben wird, steht jedenfalls dahin. Schon heute droht ganzen Literaturen der Frühen Neuzeit das faktische Vergessen, weil sie zwar vorhanden und auch konserviert sind, aber nicht mehr genügend Menschen bereitstehen, sich kompetent durch Tausende Seiten unübersetzter und unkommentierter neulateinischer Traktate zu wühlen.
Mit anderen Qualifikationen lernen wir, so Schmitz, „andere Fragen zu stellen, andere antike Dokumente anders zu lesen. Auch diese neuen Fragen sind wichtig, interessant und legitim, und von der Qualität dieser Fragen und unserer Antworten wird es abhängen, wie gut wir in dieser ewigen Legitimationsdebatte dastehen.“ Wenn „wir“ dann aber nur noch eine Handvoll sind (wie das in der Ägyptologie oder Assyriologie schon immer war), werden intrinsische Motivation und Autonomie der Wissenschaft kaum mehr ausreichen, auch nur das umfangreiche Erbe zu verwalten.

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