Von den altertumskundlichen Projekten und ‘Dienstleistungen‘, über die an dieser Stelle gelegentlich berichtet wird, liegen die meisten in vielen fleißigen, kundigen, institutionell organisierten und drittmittelgeförderten Händen. Es gibt aber auch Einzelkämpfer. Zu ihnen gehörte Otto Veh. Seiner ist Erwähnung zu tun, weil seine letzte große Übersetzung eines griechischen Autors nunmehr vollständig vorliegt: die „Griechische Weltgeschichte“ Diodors.
Diodor, ein Grieche aus Sizilien, verfaßte zwischen etwa 50 und 20 v.Chr. eine Weltgeschichte von den Uranfängen bis zum ersten Konsulat Caesars unter dem Titel Bibliothéke (scil. historiké), die in Teilen erhalten ist. Dem Autor haftete lange der Ruf eines unselbständigen Kompilators an (Mommsen sprach von einer „unglaublichen Einfalt und noch unglaublicheren Gewissenlosigkeit dieses elendsten aller Scribenten“), weswegen er meist nur wegen der von ihm zugrundegelegten älteren, heute verlorenen Geschichtswerke benutzt wird; wichtig sind in diesem Sinne besonders die Abschnitte über Philipp II. von Makedonien, Alexander und die Diadochen, aber auch über die Zeit nach den Perserkriegen (die ‘Lücke‘ zwischen Herodot und Thukydides), über die Geschichte Siziliens sowie über die frühe römische Repu-blik. Diodors Werk ist freilich auch für sich interessant, weil es ein universalhistorisches Programm umsetzt, das die Weltgeschichte teils als Abfolge von Hochkulturen, teils mit Hilfe eines annalistischen Schemas (Olympiadenjahre / römische Konsuln) synchron zur Darstellung bringt und dabei den Mythos einzubeziehen versucht.
Ein scharfsinniger Denker wie Herder jedenfalls sah die antiken Weltgeschichten gleichsam als das Erwachsenenalter der griechischen Historiographie an; nachdem beinahe die ganze Welt unter Roms Herrschaft zu einer realen Einheit geworden war, konnte und mußte diese Einheit auch einmal konsequent gedacht und literarisch umgesetzt werden:
„Die Philosophie der Geschichte sieht also Griechenland für ihre Geburtsstätte an; sie hat in ihm auch eine schöne Jugend durchlebet. Schon der fabelnde Homer beschreibt die Sitten mehrerer Völker, soweit seine Kenntnis reichte; die Sänger der Argonauten, deren Nachhall übrig ist, erstrecken sich in eine andre, merkwürdige Gegend. Als späterhin die eigentliche Geschichte sich von der Poesie loswand, bereisete Herodot mehrere Länder und trug mit löblich kindischer Neugierde zusammen, was er sah und hörte. Die spätern Geschichtschreiber der Griechen, ob sie sich gleich eigentlich auf ihr Land einschränkten, mußten dennoch auch manches von andern Ländern melden, mit denen ihr Volk in Verbindung kam; so erweiterte sich endlich, insonderheit durch Alexanders Züge, allmählich die Welt. Mit Rom, dem die Griechen nicht nur zu Führern in der Geschichte, sondern auch selbst zu Geschichtschrei-bern dienten, erweitert sie sich noch mehr, so daß Diodor von Sizilien, ein Grieche, und Trogus, ein Römer, ihre Materialien bereits zu einer Art von Weltgeschichte zusammenzutragen wagten.“ [Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1782-88), hg. von Heinz Stolpe, Berlin/Weimar 1965, Bd. 2, 95-96]
In Diodors Einleitung verbindet sich ein stoisch inspiriertes Weltkonzept mit dem handfesten pädagogischen Pragmatismus der Formel historia magistra vitae:
„Darüber hinaus aber haben sich die Geschichtsschreiber Mühe gegeben, alle Menschen als die Mitglieder einer großen Familie zueinander zu bringen, getrennt nur durch Raum und Zeit, und sie unter eine gemeinsame Ordnung zu stellen und sind darin gleichsam Gehilfen der göttlichen Vorsehung geworden: Wie diese nämlich den Reigen der sichtbaren Gestirne zusammen mit den Kräften der menschlichen Natur in ein einheitliches Verhältnis zusammenfaßt, auf diese Weise den Ablauf des Weltgeschehens in einen unaufhörlichen Kreislauf bringt und im einzelnen jedem das zuweist, was ihm vom Schicksal her zukommt, so zeichnen die Historiker die Geschehnisse des ganzen Erdkreises gleichsam als die eines einzigen Gemeinwesens. Ihren Lesern aber vermitteln sie dadurch in einer einzigen Darstellung dennoch einen allgemeingültigen Bericht durch ihr Werk von dem, was sich jemals ereignet hat. Denn es ist von Vorteil, die Fehler anderer als Beispiel zur Orientierung benutzen zu können, und dann, wenn im Leben die verschiedenen Situationen auftreten, nicht erst suchen zu müssen, was zu tun sei, sondern sich gleich danach richten zu können, was schon einmal zum Erfolg führte.“
Die Mühen des Autors, der es besser machen möchte als seine Vorgänger (aha, dieser Anspruch ist also alt!), bringen dem Leser Nutzen:
„So habe auch ich, als ich sah, wie die, welche sich mit ihr befaßten, gebührende Anerkennung fanden, mich mit ähnlichem Eifer diesem Gegenstand gewidmet. Indem ich mein Augenmerk auf die vor mir lebenden Schriftsteller richtete, konnte ich zwar deren Vorsatz weitgehend loben, hatte aber auch den Eindruck, daß ihre Werke keineswegs so ausgearbeitet waren, wie es nützlich und wie es möglich wäre. Denn während für den Leser der Nutzen darin liegt, eine möglichst große Zahl mannigfacher historischer Begebenheiten kennen zu lernen, haben die meisten dieser Autoren die Kriege einzelner Völker oder gar nur eines einzigen Staates beschrieben, und zwar als ein in sich geschlossenes Ganzes, einige wenige fingen bei den ältesten Zeiten an und suchten den allgemeinen Ablauf der Geschichte bis zur eigenen Gegenwart aufzuzeichnen: Von ihnen versäumten es die einen, den Zeitpunkt der einzelnen Ereignisse anzugeben, andere wiederum ließen aus, was sich bei den Barbaren zugetragen hatte. Wieder andere verzichteten auf die Wiedergabe des Inhalts älterer Sagen wegen der Schwierigkeit, derartige Stoffe zu behandeln, andere konnten nicht vollenden, was sie sich vorgenommen hatten, weil sie das Schicksal mitten aus der Arbeit heraus abrief. Von allen, die das Ziel ihrer Mühen erreichten, hat keiner doch seine Darstellung über die makedonische Zeit hinaus fortgesetzt, die einen hörten mit Philipp, die anderen mit Alexander auf, andere beendeten ihre Arbeit mit den Diadochen oder den Epigonen. Und obwohl seit dieser Zeit bis auf unsere Tage noch viele bedeutende Ereignisse zu berichten gewesen wären, hat keiner der Historiographen sich daran gewagt, diese in einem einzigen Werk abzuhandeln. Die Aufgabe war zu gewaltig. Und da aus diesem Grunde chronologische Angaben und Darstellung der Ereignisse, von verschiedenen Autoren bearbeitet, in einer Vielzahl von Werken verstreut sind, wird es in der Tat schwer, die Dinge zusammenfassend zu überblicken und sich einzuprägen. Nachdem ich so die Arbeiten eines jeden von diesen geprüft hatte, entschloß ich mich, ein Geschichtswerk zu gestalten, das bei einem Höchstmaß an Nutzen dem Leser ein Mindestmaß an Belastung versprach: Denn wer es unternimmt, möglichst alle überlieferten historischen Ereignisse der ganzen Welt so wie die einer einzelnen Stadt beginnend mit den ältesten Zeiten soweit als möglich bis auf die eigene Gegenwart niederzuschreiben, der nimmt zweifellos ein großes Stück Arbeit auf sich. Er gibt zugleich aber damit denen ein Werk von allergrößtem Nutzen an die Hand, die für derartige Lektüre besondere Vorliebe hegen.“
Otto Veh, ein „1909er“, studierte die damals verbreitete ‘schulhumanistische‘ Fächerkombination Latein, Griechisch, Geschichte und Germanistik und wurde 1935 in München mit einer Arbeit über Bayern und die Einigungsbestrebungen im deutschen Postwesen in den Jahren 1847-1850 promoviert. Er überstand den Krieg; lehrte an verschiedenen bayerischen Gymnasien und wirkte seit 1953 als Schulleiter in Fürth, seit 1960 in der gleichen Funktion am Riemenschneider-Gymnasium in Würzburg.
Vehs Name verbindet sich jedoch in erster Linie mit Übersetzungen antiker Geschichtsschreiber in einem schier unfaßlichen Umfang. Noch an seinem Todestag (5. Dez. 1992) arbeitete er an einer Übertragung. Die Frucht: fünf Bände Prokop (Anekdota, Gotenkriege, Perserkriege, Vandalenkriege, Bauten), ein dicker Band Ammianus Marcellinus, Das Römische Weltreich vor dem Untergang, fünf Bände Cassius Dio, Römische Geschichte, zwei Bände Appian, ein Band Zosimos, Neue Geschichte, und zuletzt der Diodor (insg. zehn Bände; die Bücher I-III und XX ff. übersetzte Gerhard Wirth). Zugegeben: Die letzten Übersetzungen lagen bei Vehs Tod nur in Rohfassungen vor, die noch viel Arbeit erforderten und durch erklärende Anmerkungen sowie Einleitungen zu ergänzen waren; beim Diodor haben sich hier Wolfgang Will, Gerhard Wirth, Thomas Nothers, Thomas Frigo, Moritz Böhme und Michael Rathmann verdient gemacht. Ferner zugegeben: Veh hat zuletzt, als die Kräfte schwanden, ältere Übersetzungen großzügig herangezogen und wohl auch bisweilen aus dem Englischen (der Loeb-Ausgabe) übersetzt. Doch bei Werken dieses Umfangs mit ihren oft entlegenen Sachverhalten gilt: Jeder des Griechischen gut kundige Kritiker kann ein Stück genauer, besser übersetzen, als Veh das getan hat, aber kaum jemand wird willens und in der Lage sein, auch nur ein Gesamtwerk dieses Umfangs ins Deutsche zu bringen. Die tatsächliche Alternative zu einer redaktionell verbesserungsfähigen Übersetzung heißt also in der Praxis: keine Übersetzung.
Ein Dank gebührt auch dem Hiersemann-Verlag: Da Reclam – aus naheliegenden Gründen – sich eher um gängigere Autoren kümmert und Artemis/Patmos überwiegend vom Ruhm früherer Zeiten lebt, was Übersetzungen antiker Autoren angeht (schöne Ausnahme: die dreibändigen Vorsokratiker von Laura Gemelli Marciano), füllt das kleine Stuttgarter Haus eine Lücke. Allerdings sind die Bände arg teuer, sie kosten im Schnitt einen halben Euro pro Druckseite.
Gleichwohl: Die andauernde Debatte um Welt- und Globalgeschichte wird die früheren Ansätze nur zu ihrem eigenen Schaden ignorieren dürfen. Otto Veh, seine Helfer und der Verlag haben es ein Stück leichter gemacht, die historische Dimension der Debatte zur Kenntnis zu nehmen.
Diodoros: Griechische Weltgeschichte. Buch XVII. Alexander der Große. Übersetzt von Otto Veh, überarbeitet, eingeleitet und kommentiert von Moritz Bohme. Stuttgart 2009. VI, 211 S., Ln., € 139,- (Bibliothek der griechischen Literatur, Bd. 63/2).
Wer alle zehn Bände geschlossen kauft, zahlt € 980,- (statt einzeln € 1210,-).
Die Geschichte(n) des Diodorus...
Die Geschichte(n) des Diodorus Siculus spielen in der Atlantisforschung eine interessante Rolle. Seine Darstellung des Kampfes zwischen Amazonen und Atlantiern in Nordafrika haben zahllose Atlantisforscher auf die Fährte von Atlasgebirge und Tritonsee gelockt, und die Hypothesen, die sich daraus ergeben haben, zählen mit zu den besten Atlantishypothesen. Aber leider … werden die Atlantier des Diodor mit den Altantern des Platon kaum etwas zu tun haben. Vielleicht kann Diodorus Siculus der Atlantisforschung aber dennoch helfen. Wenn Atlantis etwas mit Sizilien zu tun haben sollte, könnte er doch noch nützliche Hinweise geben …