Antike und Abendland

Varusschlacht und Hellenismus – ein mißglückter Rückblick auf 2009

Am Anfang die Zahlen zu dem antikebezogenen Großereignis des vergangenen Jahres: 450.000 Besucher zählten die drei Ausstellungen im Varusschlachtjahr laut „presse-pool niedersachsen“. 155.000 fanden den Weg nach Haltern zu „Imperium“, immerhin 100.000 ins Detmolder Landesmuseum, um den „Mythos“ zu studieren. Daß Kalkriese als familientauglichste Ausstellung und mit einem umfangreichen ‘Event‘-Programm die meisten Eintrittskarten verkaufen würde, stand schon vor der Eröffnung fest; am Ende waren es gut 200.000.

Die Ereignisse und Buchpublikationen eines Jahres zu überschauen und einen Trend abzulesen ist ein schwieriges Unterfangen. Berthold Seewald hat in der WELT und in WELT-Online auch 2009 immer wieder ausführlich und kenntnisreich antike Themen aufbereitet; seine Beiträge, mit erkennbarer Lust an der Sache geschrieben, möchte man nicht missen. Doch sein kurz vor Weihnachten publizierter ‘Jahresrückblick‚ (Auf den Spuren Alexanders. Modern und global: Die Archäologie erforscht die Verschmelzung zwischen Orient und Okzident im Altertum) fordert energischen Widerspruch heraus.
Zutreffend gewiß sein erster Befund aus dem Varusschlachtjahr: Archäologie hat viel mit der Deutung der Gegenwart zu tun. Seewald blickt in diesem Sinne zurück auf die beiden Troia-Kontroversen (Korfmann vs. Kolb bzw. Schrott gegen den Rest der Welt). Aber gewann die Archäologie dadurch einen „Rang als neue Leitwissenschaft“? Gerade die Kontroverse um den Rang Troias in der anatolisch-ostmediterranen Bronzezeit hat doch gezeigt, daß genau das nicht der Fall war. Mochte der Tübinger Prähistoriker Manfred O. Korfmann auch in der öffentlichen Wahrnehmung ‘gesiegt‘ haben – die Deutungen der Befunde, auf deren Grundlage er die Stadt zu einem bedeutenden Zentrum von überregionaler Strahlkraft machen wollte, sind allesamt widerlegt, und die Nachfolger haben sich mit Recht anderen Fragen zugewandt. Und für die Schrott’sche These vom assyrischen Schreiber Homer spielten archäologische Funde von vornherein eine sehr geringe Rolle. In den beiden Troia-Debatten hat sich auch bestätigt, was seriöse Forscher aller altertumswissenschaftlichen Fachrichtungen als Grundlage ihrer Arbeit ansehen: Keine Disziplin, auch nicht die naturwissenschaftlich aufgerüstete Archäologie, vermag aus sich heraus, sozusagen mit der Evidenz des Haptischen und Vermessenen, triftige Antworten auf die wesentlichen Fragen zu geben. Aus der Hermeneutik gibt es kein Entkommen. Und dort, wo literarische Quellen vorliegen, deren Sachhaltigkeit sich erweisen läßt, geben sie den Rahmen der historischen Rekonstruktion vor, oder, wie Dieter Timpe es vor über zehn Jahren mit Blick auf Varus bündig formulierte: „Die moderne Kenntnis der Varusschlacht und ihres historischen Zusammenhangs beruht allein auf der antiken Überlieferung, denn auch die aktuellen archäologischen Befunde blieben ohne sie stumm.“ Mit Recht hat Peter Kehne (Universität Hannover) in einem umfangreichen, breit dokumentierten, gewohnt pointierten Aufsatz dies noch einmal in Erinnerung gerufen (Peter Kehne, Lokalisierung der Varuschlacht? Vieles spricht gegen Mommsen – alles gegen Kalkriese, Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 78, 2009, 135-180).

Leider tischt Seewald auch wieder die alte Mär vom „Verwaltungsfachmann und militärischen Stümper Varus“ auf, obwohl Werner Eck und andere längst gezeigt haben, daß diese Unterscheidung anachronistisch ist. Varus, den Augustus immerhin in seine Familie aufgenommen hatte, übte im Namen Roms schlicht Herrschaft aus, dazu gehörten das Kommando über Truppen, die Administration von Finanzen und Rechtsprechung und die Kommunikation mit den Untertanen. Das war eine ganzheitliche Aufgabe, und Varus hatte sich ihr mehrfach gewachsen gezeigt, auch in der schwierigen Provinz Syrien. Eine militärische Fehlentscheidung während des höchst schwierigen Transformationsprozesses in Germanien stempelt ihn noch nicht zu Versager – das taten erst die kaiserliche Propaganda und ihre historiographischen Büchsenspanner, damals wie heute. Davon war hier schon ausführlich die Rede (Blog v. 12. Juni 2009).

Im Kern von Seewalds Fokussierung stehen jedoch Alexander der Große und die erste Globalisierung der antiken Welt in der Epoche des Hellenismus. Ob freilich die jüngste, enzyklopädisch angelegte Biographie des Makedonenkönigs aus der Feder von Alexander Demandt in diesem Zusammenhang besonderes Interesse beanspruchen kann, mag man bezweifeln (s. F.A.Z. vom 14. Dezember 2009).
Unanzweifelbar sind die Verdienste des Deutschen Archäologischen Instituts mit seinen zahlreichen regionalen Dependancen. Die Forschungen deutscher Archäologen haben jüngst Reste der Festung Kurgansol im südlichen Usbekistan zutage gefördert, vielleicht, so Seewald, eines der Sperrwerke, mit denen die Makedonen das Land befriedeten. Allerdings wird wieder einmal als bahnbrechende Neuausrichtung verkauft, was so ganz neu nicht ist: die „archäologische Erforschung der asiatischen Steppen“, ein Paradigmenwechsel „weg von der Konzentration auf die griechische und römische Antike des Mittelmeerraums, hin zu der kulturgeschichtlichen Erfassung jenes ungeheuren Zivilisationsbandes, das sich in der Antike von der Straße von Gibraltar bis vor die Tore Chinas erstreckte“. Zu erinnern ist hier demgegenüber an das rastlose (und in der Sache problematische) Bemühen des Berliner Althistorikers Franz Altheim (1898-1976), eben diesen welthistorischen Zusammenhang zwischen den beiden Großregionen immer wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Zu seinen zahlreichen Büchern gehört eine zweibändige Weltgeschichte Asiens im griechischen Zeitalter (1947/48), die Weite seines Horizontes erschließt beispielshalber das kurze Kapitel Erste Beziehungen zwischen West und Ost im zweiten Band der Propyläen-Weltgeschichte (deren bislang letzte Ausgabe 1960, also vor fünfzig Jahren zu erscheinen begann).

Unerfindlich bleibt, was Seewald geritten hat, über dieses Werk ein geradezu groteskes Fehlurteil abzugeben („schrieben Experten ihres Fachs Essays, die zwischen hegelschem Geschichtsdenken und gelehrt-süffigem Diskurs changierten“), um ausgerechnet die gedankenlos zusammengebundene neue WBG-Weltgeschichte zu loben (s. Blog vom 23. Nov. 2009), weil dort angeblich im zweiten Band „die zeitgleichen Zivilisationen der antiken Welt parallel und in gleichem Umfang behandelt werden“; diese „brachiale Bündelung“ biete „besseres Gegengift gegen eurozentrische Ignoranz als alle gutmenschelnden Appelle“. Doch das Nebeneinander macht noch keine Weltgeschichte, und Seewald selbst bezeichnet die gleichzeitige Entstehung des Imperium Romanum und des Reiches, das „10.000 Kilometer weiter östlich die chinesische Oikumene zur Einheit gezwungen“ habe, als das, was es war: ein Zufall. Und von der Seidenstraße haben wir schon gehört, ebenso von den mit der Alten Welt eng verbundenen Steppennomaden, von denen 2009 (wieder einmal, diesmal in Mannheim) die Skythen ausgestellt wurden (Das Gold der Steppe. Fürstenschätze jenseits des Alexanderreichs).

Und am Ende wieder der sattsam bekannte antihumanistische Furor – ohne die politischen Prämissen zu benennen, mit denen die Idee einer europäischen Leitkultur, die Inhalte und Werte kanonisch macht und damit erst eine Integration ermöglicht, auf den Kehricht geworfen wird zugunsten vager „Begegnungen“. Originalton Seewald: „Und es wird klar, dass nicht die Epochen hehrer Klassik die Welt nachhaltig veränderten, sondern eine Weltzivilisation, in der Orient und Okzident über Jahrhunderte hinweg zusammenfanden.“ Zusammenfanden zu was? Gewiß, „arabische Gelehrsamkeit und islamischer Glaube sind ohne diesen Humus nicht denkbar“, und Alexander lebt „auch in persischen Traditionen weiter, wie in weiten Teilen Nordindiens der Buddhismus der Gandhara-Zeit Zeugnisse des hellenischen Menschenbildes hinterlassen hat“. Aber das sind so viele Hellenismen, wie es ‘Völker‘ gab (so übrigens schon Droysen), und die Gandhara-Buddhas sind eben nicht Zeugnisse eines hellenischen Menschenbildes, sondern eines nordindisch-buddhistischen Menschenbildes, das sich griechischer Bildformeln bedient. Man kann all diese Ausprägungen interessant finden und muß sie erforschen, aber das ändert nichts daran, daß für uns eine ganz bestimmte Lesart der Griechen und Römer verbindlich und in den immer wieder neuen Humanismen und Renaissancen zum Teil unserer selbst geworden ist. Wohin soll es führen, sie aktiv zu vergessen?
Und dann noch ein Paradigmenwechsel, diesmal nicht räumlich ins Weite, sondern methodisch ins Nirwana: weg von der Antike als der „nächsten Fremden“ (Chr. Meier), hin zum Hellenismus, den Seewald allen Ernstes als „moderne Gegenwart“ preist, als „eine Epoche des intellektuellen Aufbruchs, urbanen Umbruchs, der Entdeckungen, der Wissenschaften und der rumorenden sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen, von Eliten, die Träumen von globaler Allmacht anhingen, und Philosophen, die den einen Gott im Pantheon der Menschheit suchten und Halt in der allgegenwärtigen Beschleunigung“. So burschikos hatten selbst im 19. Jahrhundert nicht viele die Antike aktualisiert und damit banalisiert. Denn was geht es uns an, wenn es all das, was angeblich, die Gegenwart beherrscht, so oder so ähnlich vor gut zweitausend Jahren schon einmal gab? Wenn die Antike wie eine ferne, exotische Kopie des modernen Originals vorgestellt wird?

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