Einer der „1910er“ unter den Altertumswissenschaftlern war der Klassische Philologe Viktor Pöschl, der heute vor einhundert Jahren in Graz geboren wurde. Pöschl wurde 1936 in Heidelberg mit der Dissertation Römischer Staat und griechisches Staatsdenken bei Cicero promoviert ab und habilitierte sich 1940 mit der Studie Grundwerte römischer Staatsgesinnung in den Geschichtswerken des Sallust. Seit 1940 war er Universitätsdozent, zunächst in München, später in Prag. Erst 1950 gelangte er eine Professur in Heidelberg, die er bis zu seiner Entpflichtung innehatte. 1974-1978 war er Präsident der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Pöschl starb weniger Tage nach seinem 87. Geburtstag in Heidelberg.
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Der Autor einer grundlegenden Studie zur Dichtkunst Vergils (1950) gehörte zu den führenden Latinisten in Deutschlands. Zu diesem Status gelangte man in dieser Zeit am ehesten durch feinsinnige Interpretationen der ‘klassischen‘, auch an der Schule gelesenen Autoren: Vergil (den er wie Friedrich Klingner immer Virgil schrieb), Horaz, Ovid; Caesar, Cicero, Sallust, Tacitus. Über die hohe Kunst der hermeneutischen Interpretation und die humanistischen Studien hat Pöschl auch mehrfach gesondert nachgedacht; diese Texte sind zu Selbstzeugnissen geworden, aus denen sich die Größe wie die Grenzen dieses Typs von Philologie erkennen lassen. Die Größe: Pöschl studierte u.a. bei Jaspers, Gundolf, Ernst Robert Curtius, Karl Hampe und Eugen Täubler, bei Voßler und Buschor, bei Eduard Norden und Wilamowitz. Glückliche Jahre, weil „bei mir nie eine Grenze war zwischen Wissenschaft und Leben, zwischen Wissenschaft und Freude“. Drei Dinge, so bekannte Pöschl einmal, müsse der Philologe lieben: die Antike, die Gegenwart und die Jugend. Interpretieren verstand er als Vergegenwärtigen; das setzte ein Wissen um die Distanz zwischen Antike und Moderne voraus, aber diese Distanz war eher gering, weil Gelehrte dieser Generation und dieses Zuschnittes durch ihre unfaßliche sprachliche und literarische Sensibilität und Bildung viel enger mit den antiken Texten ‘zusammenlebten‘, als das heute normalerweise der Fall ist. Diese Intimität schärfte den Blick für das Detail, die Wirkabsicht, die Schönheit. Aber blinde Flecke konnten nicht ausbleiben, wenn die Maxime lautete: „Die feine, oft schwer erkennbare Grenze zwischen Kritik und Überheblichkeit (wird) leicht überschritten. Das ist nicht die Haltung, die geeignet ist, die geschichtlichen Erscheinungen wirklich in den Blick zu bekommen, sie zu bewahren, (…). Wahre wissenschaftliche Haltung verlangt vielmehr Demut, Ehrfurcht, Geduld und auch ein wenig Liebe. Es gibt kein wahres Verständnis ohne Liebe.“
Besonders nah fühlte sich Pöschl den Römern, und er bemühte sich, „die Grundwerte und Grundlagen der menschlichen, staatlichen, politischen, gesellschaftlichen Gemeinschaft zu analysieren, wie die Römer sie verstanden und entwickelt haben“. 1990 zeigte er sich überzeugt, „daß der römische Beitrag zu der Art, wie Menschen miteinander leben können und glücklich werden können in einer Gemeinschaft, für unseren Kulturkreis ganz entscheidend gewesen ist. Und wenn wir heute noch das Glück haben, daß einige Teile unserer Welt, zu denen auch glücklicherweise der unsere gehört, besser dran sind als andere, so ist das nicht zuletzt auf diese ferne Wirkung zurückzuführen.“ Darüber ließe sich ja diskutieren, aber Pöschl stellte sich den Zusammenhang vermutlich schlichter vor, als man ihn wohl rekonstruieren muß. Die römischen Werte, die sich in Schlüsselwörtern der lateinischen Sprache kristallisierten, verstand er nicht nur im Jahrtausendehorizont als konstant und überzeitlich, sondern auch innerhalb der römischen Welt.
In dieser Loslösung von den je besonderen Konstellationen, in denen Begriffe wie virtus, religio, dignitas oder pietas Bedeutung erlangen und tragen, lag ein Grundproblem der ganzen sog. Wertbegriffeforschung nach 1945. An der radikalisierten Instrumentalisierung der Römerwerte in den tausend Jahren davor hat sich Pöschl, soweit ich sehe, nicht exponiert beteiligt; vielmehr griff er auf Paradigmen zurück, die bereits im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik von Latinisten gegen den Sinnverlust des positivistischen und spezialisierten Forschungsbetriebs etabliert worden waren, sozusagen als latinistische Gegenstücke zum Dritten Humanismus eines Werner Jaeger. Deshalb und weil man den Gegenwartsfragen, zumal dem Staat und der soziokulturellen Ordnung näherkommen wollte, hatte damals Richard Heinze nach den „Ursachen der Größe Roms“ gefragt, um die Römer dann als politische Menschen bzw. als Machtmenschen anzusprechen. Das war natürlich ein Zirkelschluß, aber Heinzes Ansatz machte Schule. Die rationale, juristisch fundierte Institutionenkunde von Mommsens Staatsrecht erschien der Schüler- und Enkelgeneration nicht mehr angemessen. „Institutionen“, so Heinze 1921, „mögen sie noch so wichtig und folgenreich sein, können doch niemals als primäre Ursachen politischer Entwicklungen gelten; hinter ihnen stehen die Menschen, die sie geschaffen, erhalten und getragen haben.“ Das leuchtete zunächst ein und ließ Spielraum für Pathos unterschiedlicher Dicke. Außerdem schien der von Mommsen geschaffene Großbetrieb der Altertumswissenschaft mit seiner eher technisch-industriellen Hermeneutik nichts mehr mit dem Leben zu tun zu haben. Gesucht wurde nach der verlorengegangenen Einheit, gesucht wurde auch nach Wegen, das Sollen wieder aus dem Sein begründen zu können – dies war das gemeinsame Moment von Wertphilosophie, Lebensphilosophie, Drittem Humanismus und Erforschung römischer Wertbegriffe. Die deutsche Latinistik und die Althistorie versuchten, durch das Studium einzelner Wertbegriffe dem Phänomen des Römertums näherzukommen und betrieben die idealisierende Rückschau und Überhöhung des römischen Wertesystems. Generell war man bemüht, „Andacht und Bewunderung für die Größe alles dessen zu erzeugen, was historisch mit dem Namen Roms verbunden war“ (M. Fuhrmann).
Nach 1945 haben namhafte Latinisten die ‘römischen Wertbegriffe‘ weitergetragen, ohne die braunen Einfärbungen, aber auch ohne jede Reflexion auf die wissenschaftstheoretischen Hintergründe. Im Licht von Wertewandel und Wertepluralität in der Demokratie ließ sich den ewigen römischen Werten, zentriert um die Gemeinschaft und die sittliche Normen, natürlich auch neue Aktualität zuschreiben. Abschied vom Machtstaat, gewiß, aber mehr denn je ‘formierte Gesellschaft‘, das war noch 1980 die Botschaft Pöschls: „Das Geheimnis der politischen Begabung der Römer und, wie ich glaube, der politischen Begabung überhaupt, besteht also nicht in erster Linie im Machtmenschentum, sondern in der Bewahrung sozialer Bindungen, in der Bewahrung von Zügen einer kollektiven Moral auch noch in entwickelteren Lebensverhältnissen. Den Römern ist es gelungen, das Solidaritätsgefühl einer primitiven Gemeinschaftsordnung in höhere Lebenszustände hinüberzuretten.“ Wenig reflektiert reproduzierte Pöschl ferner die der Wertbegriffeforschung zugrundeliegende Periodisierung der römischen Geschichte: urtümlich-unverdorbenes Bauernrom, dessen Fortleben in der Aristokratie, Erosion durch griechischen Einfluß, Restauration durch Augustus: „So wurde es möglich, daß bei ihnen (den Römern) die Sicherheit und Rechtlichkeit eines bäuerlich-patriarchalischen Daseins auch noch in der späteren, von der römischen Adelsgesellschaft geprägten Lebensordnung erhalten blieb und so in die Sphäre der hohen Politik übertragen wurde. Durch die Restauration des Augustus neu gestärkt konnte diese Ordnung das innere Gerüst des Weltreichs auf Jahrhunderte bilden. Wie die römischen Großbauern Adlige wurden und doch bäuerlich blieben, so wurde Rom aus einem Bauernstaat eine Weltmacht, die die Grundzüge der urtümlichen Lebensordnung nicht völlig preisgab, sondern auch dann noch zu bewahren wußte, als sie mit den auflösenden Kräften der griechischen Spätkultur in Berührung trat, ja von ihr ganz durchdrungen und weitgehend zerstört wurde.“ Man ersetze „griechische Spätkultur“ durch „amerikanische Massenkultur“, und der kulturelle Kontext der sich unter veränderten Rahmenbedingungen noch lange fortschleppenden Wertbegriffsforschung liegt offen.
Dennoch: Jaspers, Gundolf und Wilamowitz hätte ich gern gehört. Und könnte ich doch so gut, das heißt so sensibel und mit tausend anderen Texten im Kopf Latein lesen und leben!
Die kleinen Schriften Pöschls sind in drei Bänden im Verlag Carl Winter, Heidelberg erschienen (1979, 1984, 1995). Nachruf: Antonie Wlosok, Gnomon 73, 2001, 369-378. – Zu den ‘römischen Werten‘ s. die beiden kritischen Aufsätze von Peter Lebrecht Schmidt und Stefan Rebenich in: Andreas Haltenhoff u.a. (Hgg.), Römische Werte als Gegenstand der Altertumswissenschaft. München/Leipzig (K.G. Saur) 2005.
Graphik: Kontexte der Wertbegriffeforschung in den 1920er /1930er Jahren (Urheberrecht: Vf.)
Daß Sie Gundolf und...
Daß Sie Gundolf und Wilamowitz gern gehört hätten, kann ich gut verstehen. Es geht mir ähnlich. Mögen die Vorlesungsmitschriften von Mommsens Kaiserzeit-Vorlesungen nun exakt sein oder nicht, man gewinnt doch einen Abglanz seiner rhetorischen Leistungen. Gleichermaßen Jacob Burckhardts „Griechische Kulturgeschichte“, die ja wohl auch auf Vorlesungsskripten beruht. Ich bin durchaus nicht der Meinung, daß früher alles besser war. Strukturgeschichtliche Fragestellungen waren beiden fremd und wie produktiv hat sich doch der Ansatz der Annales-Schule erwiesen. In Fragen von Sprachkultur und Sprachbeherrschung verzeichne ich als Leser aber trotzdem einen eklatanten Rückschritt. Mir ist nicht kenntlich, woran das liegen mag. Aber es ist ein Fakt, daß ein stilistisch brillanter Autor wie Christian Meier heute die Ausnahme und nicht die Regel ist. Als Leser bedauere ich das außerordentlich. Mir steht es frei, ohne akademische Interessen einem gewissen Leser-Snobismus zu frönen. Das heißt, es geht mir nicht nur um erkenntnisgeleitetes Interesse allein, sondern auch um Lesevergnügen. Das darf ruhig auch auf hohem Abstraktionsniveau sein. Ich bin bereit und gewillt Texte, die mit Entsagung geschrieben wurden auch mit Entsagung zu lesen. Was mich allerdings vergnatzt ist eine Lieblosigkeit dem Leser gegenüber und stilistische Ignoranz. Ein schlimmes Beispiel ist Frank Kolbs „Rom. Die Geschichte der Stadt in der Antike“. Das Buch hält nicht im Mindesten was der Titel postuliert und es ist eine Quälerei, es zu lesen. Nach vielen Anläufen habe ich irgendwo jenseits der Seite 150 kapituliert. Da lobe ich mir doch, wie Sie mit Fabius Pictor et.al. umgegangen sind. So eine fein kommentierte Ausgabe wünschte ich mir für den Homer.