Vorab sei klargestellt: Die Klagen über die Unterfinanzierung der deutschen Universitäten und über die wissenschaftsfremden Anreizsysteme durch Exzellenzinitiativen etc. sind (fast) alle berechtigt. Es könnte aber durchaus noch schlimmer sein. So berichtet Mary Beard in ihrem TLS-Blog, für die englischen Universitäten werde ‘Autonomie‘ – hierzulande ‘hergestellt‘ u.a. durch aparte Steuerungsinstrumente wie ein ‘Hochschulfreiheitsgesetz‘ – nur ein Euphemismus sein für „find your own money – no more from the government, not even the next one.“ Es laufe auf Entlassungen hinaus, und für Randgebiete sei kein Platz mehr. Für das King’s College in London ist die Streichung von bis zu 22 Dozentenstellen im Gespräch. (Was Beard nicht sagt: Natürlich werden solche Zahlen gestreut, damit beide Seiten am Ende die Streichung der halben Zahl als Erfolg verkaufen können.) Das interne Papier, auf das sie sich bezieht, folgt einer ökonomischen Logik: Es seien finanziell lebensfähige Einheiten zu schaffen, indem man Bereiche mit unterkritischer Masse und „no realistic prospect of extra investment“ aufgebe. Die Leitgrößen, um solche „Forschungsschlüsselfelder“ abzustecken, sind Mitteleinwerbung, studentische Nachfrage und Paßförmigkeit zu Plänen eines britischen ‘Wissenschaftsrates‘ (Research Council agendas). Für das King’s College bedeutet das u.a. den Verlust von vier Dozenturen für Deutsch, Spanisch und Neugriechisch und die kompltte Streichung der frühmittelalterlichen Handschriftenkunde (Paläographie).
Paläographen sind wahrscheinlich nach den Maßgaben des neuen Regimes und der neuen Sprache der Forschungsförderung keine begnadeten Selbstdarsteller; Beard nennt sie eine „schrullige Truppe“ (quirky crowd). Aber King’s besitzt landesweit den einzigen Lehrstuhl auf diesem Gebiet. Dabei geht es nicht nur um das Lesen von alten Handschriften (schwierig genug!), sondern darum, deren Eigenarten und die dahinterstehenden Entwicklungen und Individualitäten zu verstehen. „It is the underpinning of history and pre-modern English literature and has crucial links with Classics and the transmission of classical texts.“
Beards Aufruf, massenhaft an den Principal des King’s College zu schreiben, wirkt konventionell und etwas hilflos. Was sie abschließend feststellt, bleibt gleichwohl zutreffend: „Once these skills disappear, you never get them back.“
Die Leserreaktionen: überwältigend zahlreich und vielfältig. Es wird dargelegt, welche Folgen das Abschneiden dieser Forschung für andere Disziplinen hätte, es wird aber auch nach der jährlichen Einsparung gefragt oder nach Möglichkeiten, eine externe Zwischenfinanzierung zu finden, um eine längerfristige Strategie zu entwickeln („sich neu aufzustellen“, wie das hierzulande jetzt meist genannt wird). Eine Leserin verweist listig darauf, welch enorme Preise Handschriften, die bald niemand mehr werde lesen können, bei Auktionen erzielen. Verwiesen wird auf die Praxis an der University of California, lineare Gehaltskürzung von vier bis zehn Prozent vorzunehmen. Das tue jedem weh, vergrößere den Protestdruck (kein St. Florians-Prinzip!) und könne in besseren Zeiten rückgängig gemacht werden, anders als die Abwicklung einer kompletten Abteilung.
Mary Beard selbst hat vor acht Jahren ein Buch über den Parthenon veröffentlicht, das jetzt in deutscher Übersetzung erschienen ist, in der Startgruppe der neuen Reihe „Reclam Sachbuch“, also zu einem sehr günstigen Preis. Daß die Abbildungen dem Buchformat geschuldet klein sind – geschenkt, man kann ja eine griechische Kunstgeschichte oder einen archäologischen Reiseführer danebenlegen.
Die Autorin sieht das beinahe zu Tode gepriesene, beschworene, abgebildete (deshalb hier keine Bilder!) Bauwerk zunächst durch die Augen seiner namhaften Besucher an, beginnend in der Neuzeit, mit Freud und dem geistigen Vater des Dritten Humanismus, Werner Jaeger, der vor dem Aufstieg zurückschreckte aus Sorge, das Bauwerk könnte seinen Erwartungen nicht entsprechen – ein Idealismus der besonderen Art. Auch die Nachempfindungen werden ins Gedächtnis gerufen, darunter die in Nashville/Tennessee, dem „Athen des Südens“.
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In der römischen Kaiserzeit hat man sich offenbar weit mehr für die Goldelfenbeinstatue aus der Werkstatt des Phildias interessiert als für den Bau selbst. Ein weiterer Schritt führt für einen Moment zurück ins imperiale Athen des späteren 5. Jahrhunderts, als der Parthenon entstand. Wie er sich fertiggestellt den Athenern und Jahrhunderte später dem Pausanias darstellte, darüber wissen wir nur „verschwindend wenig“. Mit entwaffnender Offenheit macht Beard eine Bilanz von fast zweihundert Jahren Forschung zum Exempel für die Altertumswissenschaften: „Bei der Erkundung des Parthenons wird man mit genau der Brüchigkeit unserer Bemühungen um die griechische und römische Welt sowie den Herausforderungen (oder Frustrationen, je nach Stimmung) konfrontiert, die selbst mit den einfachsten Versuchen, den Tempel zu beschreiben – geschweige denn, ihn zu erklären oder zu verstehen -, verbunden sind. Mit anderen Worten: Der Parthenon liefert ein Paradebeispiel für jene quälenden Prozesse von Recherche, Deduktion, Empathie, Rekonstruktion und reinem Rätselraten, die für jedes Studium der Altphilologie und die Erforschung des klassischen Altertums kennzeichnend sein dürften.“
Zum Glück bleibt es dabei nicht. Höchst kundig zeichnet Beard die Geschichte des Parthenon nach, mit seiner Umwidmung in eine Kirche im Mittelalter bis zur verheerenden Explosion des im Inneren gelagerten Schießpulvers im Jahr 1687. Damit begann die Geschichte der Ruine und verlor der Parthenon den Schutz, den seine Nutzung als Tempel, Kirche und Moschee ihm so lange geboten hatte. Ziemlich genau in der Mitte des Büchleins tritt dann auch Lord Elgin in Erscheinung, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts einen großen Teil des noch vorhandenen Friesschmuckes rettete, indem er ihn nach England schaffte, sehr zum Zorn von Lord Byron: „Cold is the heart, fair Greece! That looks on thee, / Nor feels as lovers o’er the dust they lov’d: / Dull is the eye that will not weep to see / Thy walls defac’d, thy mouldering shrines remov’d / By British hands … .“ Die Autorin hält sich mit einer Bewertung sehr zurück, aber die 530 Marmorblöcke, die während des Unabhängigkeitskrieges zerschlagen wurden, um eine provisorische Verteidigungsanlage zu errichten oder aus dem Blei der Dübel Gewehrkugeln zu gießen, sprechen doch eine deutliche Sprache, ebenso die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an den verbliebenen Stücken entstandenen umweltbedingten Schäden.
Wie sehr die Faszination durch den Parthenon eine Faszination durch das Bild von der griechischen Klassik war (s. Blogeintrag vom 27. Juli 2009), illustriert eine wenig bekannte Geschichte, die Beard skizziert:
Eugene Andrews war als Student von der Cornell University zur American School of Classical Studies in Athen gekommen. Zu seinem Studienprogramm gehörte es, die samstägliche Vorträge zu hören, die direkt auf der Akropolis gehalten wurden. Am 7. Dezember 1895 konzentrierte sich der Dozent auf die Ostseite des Parthenons. Er zeigte den Studenten etliche Markierungen und Kerben unmittelbar unter den Metopen, wo irgendwann im Laufe der Geschichte des Bauwerks eine Reihe von Schilden quer über der Fassade angebracht worden waren (man hielt diese Schilde, wohl zu Recht, für eine Stiftung Alexanders des Großen). Zwischen den Spuren der Schilde machte er weitere Kerben aus, die darauf schließen ließen, daß hier einst Buchstaben aus Bronze befestigt waren. Es muß also über dem Tempeleingang einmal eine Inschrift gegeben haben, die aber noch von niemandem rekonstruiert werden konnte. Andrews nahm die Herausforderung an. Er erhielt die Erlaubnis, eine bewegliche Plattform mit einer Strickleiter zu montieren (auf Fotos wirkt sie äußerst wackelig), und machte von jeder der Wortgruppen sorgfältige Abdrücke, indem er die Kerben mit weichem nassem Papier bedeckte und dieses am Bauwerk trocknen ließ. Diese sog. Abklatsche nahm es mit in sein Arbeitszimmer, um aufgrund dieser Befestigungslöcher die ursprünglichen Buchstaben zu rekonstruieren. (Zuletzt hat G. Alföldy dieses Verfahren sehr erfolgreich am Colosseum in Rom angewendet.) Das Ergebnis war eine böse Überraschung. Letztlich hatte Andrews erwartet, der Text, wenn er schon nicht aus dem 5. Jahrhundert stammte, würde zumindest Alexander und seine Schilde erwähnen. Tatsächlich aber, so Andrewes in einem Brief, „hat sich herausgestellt, daß die Inschrift Nero gewidmet war, was mich sehr anwidert“. Das paßte gar nicht zu dem perikleischen Athen, zu dessen Symbol das Bauwerk mittlerweile geworden war. Die „servilen“ Untertanen des Römischen Reiches im 1. Jahrhundert n.Chr., müssen den nachmals berüchtigten Kaiser bei seiner Ankunft in Griechenland im Jahre 61 dadurch gefeiert haben, daß sie den Eingang ihres berühmtesten und heiligsten Gebäudes mit seinem Namen, in Bronze gegossen, schmückten. Zu ihrer Entschuldigung kann man allenfalls vorbringen, daß ihnen die Verschandelung „später leid tat“ und daß sie den anstößigen Text rasch wieder entfernten (das schloß Andrews aus der Tatsache, daß um die Buchstaben herum keinerlei Verwitterungsspuren zu erkennen waren). Andrews hat diese brillante Entdeckung eigentlich nie richtig veröffentlicht. „Ich empfand kein Hochgefühl“, schrieb er in den 1950erJahren im Rückblick, „als ich dem Parthenon sein beschämendes Geheimnis entriss“.
Das längste Kapitel – 45 Seiten – führt dann noch einmal ins 5. Jahrhundert v.Chr. Beard stellt auch hier dem Leser, der durch den Einstieg über die Rezeptionsgeschichte schon einige Lektionen in Konstruktivismus erhalten hat, kein ‘So war es!‘ hin. Denn trotz der kompletten Neuaufnahme des Bau- und Steinebestandes bleiben sehr viele Fragen offen – das gilt auch für die Debatte über die Elgin-Marbles, auf die das abschließende Kapitel nochmals ausführlich eingeht. Ein Anhang gibt Hinweise für eine Besichtigung in Athen – auch schon im 2009 eröffneten neuen Akropolismuseum – und in London. Nimm und lies!
Mary Beard, Der Parthenon (Reclam Sachbuch), Stuttgart 2009. 240 S., Abb., kommentierte Literaturhinweise, Register, € 6,80
Luciana Gallo, Lord Elgin and Ancient Greek Architecture. The Elgin drawings at the Britisch Museum, Cambridge 2009