Mary Beard verweist in ihrem Parthenon-Büchlein (s. Blogeintrag gestern) auf Goethe, der die Entscheidung der britischen Regierung, Lord Elgin die Skulpturen abzukaufen, als Beginn einer neuen Epoche der Einsicht in die höhere Bildenden Kunst pries. Was Goethe über antike griechische Kunstwerke dachte und schrieb, war mir eingestandenermaßen leider kaum bekannt. Aber dem abzuhelfen fällt leicht. Ich besitze seit kurzem die komplette Münchener Ausgabe der Werke, kartoniert in drei Schubern, 21 Bände im Dünndruck, durch Teilungen insgesamt 33 Bände, zu erwerben für unfaßbare 99 Euro. Die Originalausgabe (1985-1998) hatte ihrerzeit noch gut 2700 Mark gekostet.
Die Recherche erweist vor allem, wie unentbehrlich eine kommentierende Erschließung von Goethes knappen Niederschriften ist. Die beiden kurzen Schriften „Elgin Marbles“ und „Elginische Marmore“ umfassen jeweils nur eine knappe Seite und blieben zunächst unveröffentlicht. Der Kommentar zu ihnen im Band 11.2 zählt volle fünfzehn Seiten. Den Grund nennt der Herausgeber Johannes John gleich zu Beginn: Die beiden Texte vermitteln in ihrem trockenen, halbamtlichen Ton kaum einen Eindruck davon, „daß Goethe hier von einem der entscheidendsten künstlerischen Erlebnisse spricht, die er gegen Ende des 2. Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts erfahren hatte“, hierin vergleichbar den beiden Artikeln zum Blücher-Denkmal in Rostock, „aus denen ebenfalls nur schwer ersichtlich wird, wieviel Aufmerksamkeit, Zeit und Zuwendung Goethe jenem Gegenstand seit 1815 gewidmet hatte“. Die Kommentierung macht auch deutlich, daß sich Goethe – wie die meisten anderen Liebhaber – nur Schritt für Schritt aus Beschreibungen, Zeichnungen und Tafelwerken buchstäblich ein Bild von den geretteten Stücken machen konnte; der Kommentar dokumentiert in diesem Sinne, welche Bücher Goethe aus der Weimarer Hofbibliothek ausgeliehen hat. In einem Brief beklagt er den Mangel an Autopsie und äußert sich sehr viel emphatischer als in den Notizen zu den neuerworbenen Büchern: „Was mich aber, wenn ich einigermaßen mobil wäre, gewiß vom Platze ziehen würde, wären die Elginischen Marmore und Consorten, denn hier ist doch allein Gesetz und Evangelium beisammen; alles Übrige könnte man allenfalls missen. Das vorläufige deshalb herausgegebene Werk läßt freilich noch Mehreres hoffen.“
Ein kurzer Exkurs im Kommentar informiert über die Geschichte des Parthenon und zitiert (leider nur in Übersetzung) Byrons The Curse of Minerva, das Elgin zum schlimmsten aller Barbaren erklärt. – Goethes Text war zum einen ein im Mai 1817 verfaßtes Gutachten über die Neuanschaffung eines Bandes mit 61 Bildtafeln im Folioformat (s.u.). Zuvor hatte er lediglich während seines römischen Aufenthaltes ein paar Zeichnungen eines englischen Reisenden zu Gesicht bekommen und 1814 in Darmstadt einige Gipsabgüsse betrachten können. Ausführlich erläutert der Kommentar ferner, wie Goethe die Elgin-Marbles zusammen mit Relief- und Skulpturfunden vom Aphaia-Tempel auf Aegina und vom Apollon-Tempel in Phigalia als Bestätigung seines klassizistischen Kunstgeschmacks in Stellung brachte gegen die romantische, neu-deutsch und religiös-patriotisch begeisterte Schule. Der andere Text stellt einen Auftrag an den Weimarer Korrespondenten in London dar, weitere Abbildungen zu beschaffen. Schon Ende Oktober war so viel Material beisammen, daß Goethe (etwas übertreibend) feststellte, die Elgin Marbles seien ihm inzwischen „beinah so bekannt als wenn wir sie gesehen hätten“. Nach zähen Preisverhandlungen trafen schließlich im Januar 1819 die „englischen Zeichnungen“ in Weimar ein, und Goethe vermerkte in den Tag- und Jahresheften: „Aus der Schule des Londoner Malers Haydon sandte man uns die Kopien in schwarzer Kreide, gleich groß mit den Marmoren, da uns denn der Hercules und die im Schoß einer ändern ruhende Figur, auch die dritte dazu gehörige Sitzende, im kleineren Maßstab, in ein würdiges Erstaunen versetzte. Einige Weimarische Kunstfreunde hatten auch die Gypsabgüsse wiederholt gesehen, und bekräftigten, daß man hier die höchste Stufe der aufstrebenden Kunst im Altertum gewahr werde.“
Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe). Hrsg. von Karl Richter in Zusammenarbeit mit Herbert G. Göpfert, Norbert Miller, Gerhard Sauder u. Edith Zehm. 21 Bände in 33 Teilen, München/Wien 1985-1998, Taschenbuchausgabe 2006, z.Zt. für € 99,00.
ELGIN MARBLES
Ein Werk von großer Bedeutung. Der Katalog dessen was diese Sammlung enthält ist wichtig und erfreulich, und daß dabei die schon in England vorhandenen Sammlungen, die Kunstreste von Phigalia, und Aegina zur Sprache kommen, und von ihrem sämtlichen Kunstgehalt und allenfallsigen Geldeswert die Rede ist gibt sehr schöne Einsichten.
Die Verhöre nun über Kunst- und Geldeswert der Elginischen Sammlung, besonders, wie auch über die Art wie solche acquiriert worden, sind höchst merkwürdig. In der Überzeugung der höchsten Vortrefflichkeit dieser Werke stimmen die Herren alle überein, doch sind die Motive ihres Urteils und besonders die Vergleichungsweise mit ändern berühmten und trefflichen Kunstwerken höchst seltsam und unsicher. Hätte jemand einen kurzen Abriß der Kunstgeschichte und ihrer verschiedenen auf einander folgenden Epochen gegeben; so war die Sache klar, alles und jedes stand an seinem Platz, und wurde da nach Würden geschätzt. Freilich würde alsdann sogleich hervorgesprungen sein die Albernheit der Frage, ob diese Kunstwerke so vortrefflich seien, als der Apoll von Belvedere? Indessen ist es höchst intressant zu lesen, was Flachsmann und West bei dieser Gelegenheit sagen. Henry Bankes, Esq. in the Chair versteht freilich gar nichts von der Sache, er müßte sich denn sehr verstellt haben. Denn wenn er, mit Bewußtsein, die ironischen Antworten einiger Befragten ruhig einsteckte, und immer fortfuhr, ungehörige Fragen zu tun, so muß man ihn als Meister der Verstellungskunst rühmen.
[BILD wg. Urheberrecht entfernt]
Charles Landseer: Aphrodite im Schöße ihrer Mutter Dione, irrtümlich auch als »Tauschwestern« oder »Parzen« bezeichnet (1818). Kreidezeichnung, weiß gehöht auf bräunlichem Papier nach einer Marmorskulptur vom Ostgiebel des Parthenon auf der Akropolis in Athen, signiert: »Ths. Landseer, Pupil of B. R. Haydon 1818 «. – Weimar, GNM, Goethes Wohnhaus
Endlich einmal eine...
Endlich einmal eine Empfehlung, bei der ich einfach ins Regal greifen kann. Der Kommentar zu den beiden Briefentwürfen (denn darum handelt es sich) ist wirklich überaus instruktiv. Erstaunlich, welcher Apparat vom Herzog über den „Kunscht-Meyer“ bis zum weimarischen Korrespondenten in London sofort in Bewegung gesetzt wurde, um an die Abbildungen zu gelangen. „Esquire of the Chair“ war mir völlig unverständlich, klingt aber besser als „Ausschußvorsitzender“.
Es bleibt noch nachzutragen, daß Goethe 1816/17 an der Buchfassung der „Italienischen Reise“ arbeitete und sicher auch deshalb für dieses Thema so sensibilisiert war.