Antike und Abendland

Die zwei Flüsse um Troia und die ewig junge griechische Mythologie

Troia ist wieder da. Sie werden fragen: Wieso, war es denn je weg? Nein, natürlich nicht. Aber es gab Konjunkturen. Die publizistische Dynamik des früheren Streites zwischen Manfred Korfmann und Frank Kolb wird inzwischen schon in einer Studienabschlußarbeit untersucht, und die Debatte um Raoul Schrotts Umsiedlung Homers nach Kilikien begann Ende 2007 mit einem mehrseitigen Artikel in der FAZ. 2010 kommen die beiden Stränge wieder zusammen, wenn auch nur zeitlich und äußerlich. In Kürze erscheint bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft der Band „Lag Troia in Kilikien? Der aktuelle Streit um Homers Ilias“, herausgegeben von Christoph Ulf und Robert Rollinger. Wer die zugrundeliegende Tagung in Innsbruck verfolgen konnte, hatte Grund, über die Diskussionskultur erfreut zu sein; das war bei der großangelegten Tübinger Tagung 2002 ganz anderes. Dementsprechend, so möchte man beinahe sagen, wird das später erscheinende Troia-Buch von Frank Kolb, so ist zu hören, viel und heftige Polemik enthalten.

Warum entfaltet die Schrott ausgelöste Debatte so viel mehr Charme als der erste Gelehrtenstreit um die berühmte Stadt vor bald zehn Jahren? Grabungsbefunde am Hisarlik-Hügel und hethitische Zeugnisse waren damals vom Ausgräber Manfred Korfmann (Tübingen) als Belege für einen bedeutsamen Platz im politischen und ökonomischen System der anatolischen Hethiter gedeutet worden, und der Altphilologe Joachim Latacz sekundierte mit der These, in der Ilias habe sich durch eine ununterbrochene Kette mündlich tradierter Hexameterdichtung die Erinnerung an einen historischen Krieg um Troia in der Bronzezeit bewahrt. Der Streit eskalierte rasch ins Persönliche, und während Kritiker wie der Althistoriker Frank Kolb (ebenfalls Tübingen) und der Archäologie Dieter Hertel Wunschdenken und kumulativ hypothetische Kombinationen am Werk sahen, bediente die Gegenseite durch die Rhetorik der sensationellen Entdeckung und das vervollständigte Bild einer vermeintlich großen Vergangenheit, wie sie zumal in den von Korfmann und Latacz geprägten Ausstellungen inszeniert wurde, die tief verwurzelten Bedürfnisse eines breiteren Publikums. Kolbs Zorn mag auch dadurch mit bedingt sein: In der öffentlichen Wahrnehmung hat sich die Korfmann-These mit ihrem Zauber der Vollständigkeit, Größe und Bedeutung längst durchgesetzt; wo immer Troia von Nicht-Fachleuten für ein breites Publikum „übersetzt“ wird, in TV-Dokumentationen, Illustrierten und Schulbüchern, überall ist das suggestive Modell der 10000-Einwohner-Stadt zu sehen. Ein einschlägig gestimmter Geist könnte hier von einer Verschwörung sprechen. Hinzu kommt die Pseudo-Evidenz der ergrabenden Befunde und naturwissenschaftlich-technischer Empirie, gegenüber der die zum Skeptizismus neigende und die eigenen Orientierungsinteressen immer wieder reflektierenden Hermeneutik des Historikers verblaßt.

Demgegenüber hat Raoul Schrotts Vorschlag, „Homers Heimat“ und damit die Welt, in der die Ilias entstand, nach Kilikien an die südöstliche Küste Kleinasiens zu verlegen und das Vorbild für den Schauplatz des Krieges nicht in der bronzezeitlichen Troas, sondern mehrere hundert Jahre später in der Stadt Karatepe zu suchen, kaum Kriegsgeschrei ausgelöst. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Schrott stellt sich primär als Dichter vor, und so sieht man seine Ilias-Übertragung (oder Nachdichtung) im Zentrum stehend. Die ist zwar auch heftig kritisiert worden, aber primär deshalb, weil Schrott den Anspruch erhob, besser und treffender übersetzt zu haben als Wolfgang Schadewaldt. Als poetische, sensible und zugleich kühne Neuschöpfung im Gewand einer Übertragung hingegen ist der Rang des neuen Werkes weit anerkannter; Schrott hat die Ilias kräftig entstaubt, ohne sie bloß modisch zu aktualisieren. Die historische Kilikien-These dagegen hat – und dazu trägt auch das Auftreten ihres Proponenten bei – immer etwas Spielerisches gehabt. Spielerisch meint nicht unernst oder oberflächlich: Schrott hat mit großer Akribie gesammelt und kombiniert, und das Resultat ist ganz das seine. Aber der Kern seiner Existenz und alles dessen, wofür er steht, ist nicht so eng und untrennbar mit dieser Sache verbunden, wie das beim (verstorbenen) Korfmann der Fall war, der durch Troia vom wenig beachteten Prähistoriker zu einem der bekanntesten Wissenschaftler Deutschland wurde, oder bei Frank Kolb, der durch die kombinatorischen Kapriolen der anderen Seite die methodischen und ethischen Grundfesten der historischen Altertumswissenschaften erschüttert sah und sieht. Durch die im Vergleich dazu ganz andere Konstellation wurde Schrott in Innsbruck und auch sonst weder zum „Gegner“ noch sogar zum der Unwissenschaftlichkeit geziehenen Outcast – obwohl seiner These niemand zustimmen wollte und viele entschieden widersprachen (s. FAZ Nr. 271 v. 19.11.2008, N 5), und obwohl seine Homer-Übertragung unter Leuten, die gut Griechisch können, weit skeptischer beurteilt wird als von Lesern, die gar kein Griechisch verstehen.

Eine politische Dimension kam hinzu. Der erste Troia-Streit enthielt einen interessegeleiteten Grundakkord in Form eines geographischen Syllogismus: Wenn Troia, Homer und die Ilias in einen anatolischen Kontext gehörten, zugleich aber für Europa Gedächtnisort, Gründungsdichter beziehungsweise Anfang der Literaturgeschichte bleiben, dann ist, so der essentialistische Schluß, die Türkei zwangsläufig ein genuiner Teil Europas. Kaum zufällig erhielt Manfred Korfmann nicht lange vor seinem Tod die türkische Staatsbürgerschaft und den zweiten Vornamen Osman. Demgegenüber lassen sich Schrotts Rekonstruktion die Züge einer fruchtbaren Globalisierung entnehmen. Zwar waren die Assyrer als regionale Supermacht jener Zeit gefürchtete Schlagetots und stand Homer nach Schrotts Vermutung in ihren Diensten, jedoch als friedlicher Schreiber, der zahllose Bilder und Geschichten von wandernden Assyrern, Phöniziern, Mesopotamiern, Hethitern und Proto-Griechen empfing, um sie vernetzend und ungemein kreativ zu einer neuen Großerzählung zu formen. Mit Identitätsstiftung hat das eher wenig zu tun, und Schrotts komplexe Rekonstruktion lässt sich nur gewaltsam auf die Fanfare reduzieren, Europa habe nunmehr seine Wurzeln im Orient zu suchen. Eher stellt sich die Frage, wie eine uns so einzigartig erscheinen Kultur wie die griechische auf einem so mobilen und multikulturellen Umfeld entstehen konnte, in dem Figurationen von creolité viel wahrscheinlicher waren.

Von Mythen ist in all diesen Debatten viel die Rede, von antiken wie aktuellen. Man wird es also begrüßen, seit kurzem eine neue Einführung in die antike Mythologie konsultieren zu können, in der die vielfältigen Theorien und Deutungsmuster gut aufbereitet, aber auch eigenen Akzente gesetzt sind. Barry Powell stellt mit Recht in Frage, den Mythos nur als traditionelle, anonyme Erzählung mit sinngebender Bedeutung für die jeweilige Gemeinschaft zu betrachten. Zum einen sind die Mythen seit Homer von Autoren immer wieder neu erzählt, erweitert und umgedeutet worden. „Vielleicht kannten ja viele die Geschichte des Mannes, der seine Mutter heiratete – sicher eine traditionelle Erzählung -, aber Sophokles scheint die Blendung hinzugefügt zu haben. Ist die berühmte Selbstblendung des Ödipus also kein Teil des Mythos, und damit nicht mytisch?“ Zum anderen wurde in der Antike schon sehr früh, seit Pindar im frühen 5. Jahrhundert v.Chr., und dann immer wieder die Frage nach der Glaubwürdigkeit der mythischen Erzählungen aufgeworfen – was dann zu bestimmten Formen der antiken Mythendeutung geführt, etwa der Allegorese (Mythos steht für etwas Anderes) oder der Euhemerismus (Mythos ist Überhöhung und Verfremdung historischer Personen und Handlungen). Am Beispiel Platons skizziert Powell sehr schön, wie das mythische nicht einfach vom rationalen Denken abgelöst wurde; vielmehr konnte sich nun gerade die rationale Begründung etwa der politischen Sphäre im Protagoras einer mythischen Erzählung bedienen. „Mythos als Weg zum Verständnis der Wirklichkeit kann, anders als ein logos, durch Bildhaftigkeit und Handlung unterhalten und beeindrucken.“

Powell, der selbst einem kontextuellen Ansatz zuneigt, durchmustert die Definitionen und Theorien zupackend und ohne falsche Scheu vor großen Namen wie Freud, Lévi-Strauss oder Jane Harrison. „Während die Aufklärung Mythen als Produkt eines primitiven geistigen und emotionalen Zustandes zurückwiesen, entdeckten die Romantiker sie wieder als Mittel für die Wiedergewinnung verlorener Wahrheiten“, so eine schöne Zuspitzung.

Ein weiteres Kapitel widmet sich der Entstehung des Mythos in Griechenland, während der Hauptteil des Buches – gut 140 Seiten – die Themen des Mythos behandelt. Auch zu Troia finden sich einige höchst erhellende Seiten. So versuchte Thukydides in doppelter Absicht, aus der homerischen Erzählung vom Kampf um die große Stadt Geschichte zu machen: Er suchte den Troianischen Krieg mit Hilfe von Informationen aus Homer als relativ klein und unbedeutend zu erweisen, unbedeutender jedenfalls als der große Krieg zwischen Athenern und Peloponnesiern, den Thukydides selbst sich vorgenommen hatte. Und er bemühte sich, die mythischen Erklärung zu berichtigen: Daß Agamemnon so viele Achaier um sich scharen konnte, hatte nichts mit sentimentalen Geschichten um Bräute und Freier zu tun, sondern mit seiner schlichten Macht:

»Auch Agamemnon hat, meine ich, das Heer als der größte Machthaber seiner Zeit zusammengebracht und nicht, weil die Freier der Helena dem Tyndareos Heeresfolge zugeschworen hatten. So sagen auch manche Peloponnesier, bei denen sich aus der Vorzeit die sicherste Überlieferung findet, Pelops habe zuerst durch eine Menge Geld, mit dem er aus Asien zu bedürftigem Volk gekommen, sich eine Macht geschaffen und so dem Land, er, der Fremdling, seinen Namen verleihen können; und später sei seinen Nachkommen noch Größeres widerfahren: […] Als Erbe dieses Reiches, glaube ich, hat Agamemnon, und weil er auch zur See stärker geworden war als die anderen, durch Furcht, nicht durch Freundschaft, das Heer zu dem Zug zusammengebracht. Wir sehen ihn nämlich mit der größten Zahl von Schiffen kommen und dazu noch den Arkadern welche leihen, nach den Angaben Homers, wenn jemand auf dessen Zeugnis geben will.« (Thuk. 1,9,1ff., Übers. Landmann)

Da hat nicht nur Wolfgang Petersen für seinen Film, der Agamemnon als frühgriechischen George W. Bush vorstellt, genau zugehört. Auch Korfmann/Latacz folgen implizit der Vorstellung, ein großer Troianischer Krieg sei nur möglich gewesen, wenn die Stadt ein bedeutendes, reiches und strategisch wichtiges Zentrum mit Strahlkraft weit über die Region hinaus war. Insofern trifft Powell lakonisch ins Schwarze: „Thukydides ‘historisierte‘ Mythen, wie es auch heute noch vielfach geschieht.“

Ein sehr empfehlenswertes Buch, würdig, in eine Reihe mit den bewährten Einführungen von Geoffrey Kirk und Fritz Graf gestellt zu werden. Powell hat übrigens vor einiger Zeit auch eine Anthologie zum Thema publkiziert.

Barry B. Powell, Einführung in die klassische Mythologie. Übersetzt und bearbeitet von Bettina Reitz. Mit 26 Abbildungen und Grafiken. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2009, 236 S., € 24,95.

 

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