Nur noch diese Woche ist im Alten Museum in Berlin der sogenannte Brutus zu sehen. Der Samstagnachmittag war ideal für den Besuch. Das schöne Wetter lockte viele Menschen in den angrenzenden Lustgarten oder auf eines der flachen Spree-Ausflugsboote; im Museum war es ruhig. Der ‘Brutus‘, eigens bewacht von einem der Wärter, bei denen man sich bisweilen fragt, was sie in den Stunden ihres Dienstes so denken, zog nur wenig Aufmerksamkeit auf sich. Ein vorbeieilender Asiate schießt ihn rasch mit seiner Kamera ab. Aber zwei ungepflegt aussehende junge Männer stehen etwa 15 Minuten lang mit ihrem Skizzenbuch vor der Figur und halten sie fest, der eine mit feinem Strich, der andere mit fettem Graphitstift. Einer der Momente, in denen ich mich hadernd frage, warum die Talente unter den Menschen im allgemeinen so ungleich verteilt sind und warum ich im besonderen so gar keine Anlagen haben, die einen fördernden Unterricht vielleicht gerechtfertigt hätten.
Die Sonderschau entschädigt für die Schließung der Rotunde, die im Moment renoviert wird. Daß der Brutus aus den Kapitolinischen Museen nach Berlin kam, ist dem italienischen Botschafter zu verdanken. Der Kopf selbst, eingelassen in eine nichtantike hohle Gewandbüste und so frei aufgestellt, daß man herumgehen kann, hat eine auratische, ja beinahe magische Qualität, das heißt, er vermag auch Betrachter in ihren Bann zu schlagen, die nicht wissen, daß es sich um „das bedeutendste Porträt der italischen Kunst“ und „eine der größten Leistungen der Porträtkunst aller Zeiten“ handelt (Guido von Kaschnitz-Weinberg). Es war sicher eine gute Entscheidung, daß die kleine Ausstellung den Akzent auf die Rezeptionsgeschichte legt. Denn die kunstarchäologische Diskussion verstehen zu wollen würde voraussetzen, sich tief in die Fragen von Stil und Struktur sowie in das „Lesen“ von Porträts einzugraben. Auch hier hat lange das hermeneutische Problem bestanden, die „Bedeutung“ des Objekts aus dem herauszulesen, was man über „den Römer“ generell zu wissen glaubt oder über den angeblichen Gegensatz zwischen griechisch-hellenistischer und italisch-römischer Form. Die Schwierigkeiten erhellt ein Auszug aus den Vorlesungen von Kaschnitz-Weinbergs:
«Überall stoßen diese Flächen recht hart aufeinander in plastisch unbelebten, aber großen Zügen, fast wie die Flächen eines Kristalls. Daher enthält dieser Kopf keine Spannung, denn woher sollte er sie auch haben? Nirgends wächst ja das Plastische hier aus einem Ringen formender Kräfte mit der Materie. Nirgends ist die plastische Oberfläche Resultat einer solchen inneren Durchwirkung wie bei dem hellenistischen Porträt. Alles ist zusammengesetzt und gefügt und muß daher die Spannung entbehren, die allein einem Gegensatz von Masse und formendem Willen entspringen kann. Aber der merkwürdig harten und kristallinischen Struktur dieses Kopfes entspringt anderseits auch jene unerhörte Ruhe und hoheitsvolle Strenge, die aus ihm spricht. Das Gefühl der Abgeschlossenheit eines starken Charakters, der viel gelitten hat und sich hinter den Panzer einer tiefen Resignation zurückzieht, ist nicht zuletzt auf die Wirkung dieser starren und unbewegten Struktur zurückzuführen. Die tiefliegenden Augen mit den schief gegen die Nasenwurzel gestellten Augenbrauen, die tiefen Falten, die von den Nasenflügeln zum Munde herabstreichen, der scharfe Mund selbst mit den herabgezogenen Mundwinkeln, all das verleiht dem etwas bäuerlich anmutenden Antlitz einen Ausdruck von tiefer Menschenverachtung und Bitterkeit. Eine Stimmung, die durch die wirr in die Stirne hereingestrichenen Haarsträhnen noch weiter betont wird. Das Leben dieses unheimlichen Kopfes wird noch verstärkt durch den seltenen Umstand, daß die Augenfüllung aus Elfenbein und dunklem Smalt (dunkelblaues Kaliglas) noch erhalten ist, daß also dort, wo uns sonst bei antiken Köpfen meist die leeren Augenhöhlen anstarren, der lebendige und tiefe Ausdruck des Auges dem ganzen Kopf eine ungemeine Beseeltheit verleiht, die fast penetrant wirkt Über die Persönlichkeit des Dargestellten wissen wir natürlich nichts. Daß es ein Römer war, ist, wie schon erwähnt, sehr gut möglich, ja, sogar wahrscheinlich. Jedenfalls müssen wir uns die Statuen der römischen Staatsmänner und Feldherren, die in den späteren Zeiten der Republik das Forum in Rom erfüllten, nach diesem leider ganz einzig dastehenden Beispiel vorstellen.»
Der bedeutende Strukturforscher Kaschnitz-Weinberg (1890-1958) datierte den Kopf ins 4. oder 3. Jh. v.Chr. Heute ist man sich ziemlich sicher, daß es sich um ein klassizistisches Stück aus dem ausgehenden 1. Jh. v.Chr. handelt, das nur vorgibt, alt und italisch zu sein. Im Katalog spricht Claudio Parisi Presicce von einem „gezielt entworfenen, ‘rekonstruierten‘ Porträt“, in dem sich jeder Teil des Bildes einer bewußten Zusammenstellung bedeutungsträchtiger Elemente verdanke. „Ganz offensichtlich hatte der Künstler zuerst die ethischen Codes im Auge, die er ausdrücken wollte, und diese verbunden mit der Bekräftigung eines starken Willens und Durchsetzungsvermögens.“ Die Frisur weise ferner starke Ähnlichkeiten mit einem bestimmten Typ des Augustus-Porträts auf, weswegen der ‘Brutus‘ durchaus in den Kontext der augusteischen Kunst gehören könne und vielleicht sogar ein frühes Mitglied der Familie der Octavii oder der Iulii darstelle, geschaffen für eine Statuengalerie im ‘Neuen Rom‘ des Augustus oder eines der zahlreichen Begräbnisse in der iulischen Familie.
Diese versuchsweise Rekontextualisierung birgt eine Pointe. Denn seit der Renaissancezeit wird der Kopf, der sehr rasch ikonischen Rang erlangen sollte, aufgrund von Ähnlichkeiten mit spätrepublikanischen Münzporträts als ‘Brutus‘ gedeutet, genauer als Lucius Iunius Brutus, der in der römischen Tradition den Sturz des tyrannischen letzten Königs Tarquinius Superbus herbeiführte. Marcus Brutus stilisierte sich zu einem Nachkommen dieses Erzrepublikaners und war in dieser Tradition zunächst ein Gegner des Pompeius. Als er später in Caesar den Tyrannen zu sehen begann, wurde die selbstgewählte familiale Verpflichtung übermächtig, und Brutus führte an den Iden des März 44 v.Chr. die Schar der Verschwörer gegen seinen Förderer und Freund an. Als Rom durch Caesars Adoptivsohn Oktavian/Augustus erneut Monarchie geworden war, konnte die Erinnerung an beide Bruti als Ausdruck einer widerstrebenden Haltung betrachtet werden.
Im schönen kleinen Katalog (nur die Münzabbildungen sind allzu winzig ausgefallen) wird die Rezeptionsgeschichte ausführlich gewürdigt; sie fand ihren Höhepunkt in Davids Gemälde „Die Liktoren bringen Brutus die Leichen seiner Söhne“ (1789) – diese hatten sich an einer royalistischen Verschwörung beteiligt und waren dafür hingerichtet worden – und in der Brutus-Begeisterung in der anschließenden Französischen Revolution. Für das Jahr II nach dem neuen Revolutionskalender, das am 22. Sept. 1793 nach dem alten, gregorianischen Kalender begann, weisen die Geburtsregister der Stadt Montpellier fünfundzwanzig Knaben namens Brutus, siebzehn Cornelie, acht Scaevola, sieben Cesar, vier Scipion und drei Publicola auf: eine stattliche Schar kleiner Römer. Auch in den USA gab es Träger des Namens. So hieß der Vater des Mörders von Abraham Lincoln, ebenfalls ein Schauspieler, Junius Brutus Booth. Das mag den Sohn inspiriert haben: John Wilkes Booth rief, so wird berichtet, bei dem Attentat im Ford’s-Theatre ein „Sic semper tyrannis!“ Derartiges Vorbildnehmen hat Nietzsche wenige Jahre später karikiert (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben): „Die monumentale Historie täuscht durch Analogien: sie reizt mit verführerischen Aehnlichkeiten den Muthigen zur Verwegenheit, den Begeisterten zum Fanatismus, und denkt man sich gar diese Historie in den Händen und Köpfen der begabten Egoisten und der schwärmerischen Bösewichter, so werden Reiche zerstört, Fürsten ermordet, Kriege und Revolutionen angestiftet und die Zahl der geschichtlichen ‘Effecte an sich‘, das heisst der Wirkungen ohne zureichende Ursachen, von Neuem vermehrt.“
(Bilder: Werbeflyer. Der Eintritt kostet € 8,-, der kleine Katalog in der Austellung € 15,-.)