Vor bedeutsamen Wahlen erscheinen immer wieder einmal Artikel, in denen aktuelle Urnengänge mit dem suffragium ferre in der römischen Republik verglichen werden. Ein geschätzter Kollege hat im Oktober 1994 einen wissenschaftlichen Artikel (der gekürzt auch in der WELT erschien) mit dem Satz eröffnet: „In der römischen Republik war jedes Jahr ein Superwahljahr.“ Tatsächlich reduzieren sich die Ähnlichkeiten auf wenige Züge, etwa das Wort candidatus für den Bewerber (in Rom immer ein Amt, nie ein Mandat) oder die Art des Wahlkampfes, der Sachaussagen vermied und auf Händeschütteln setzte (vom Herzen von Kindern ist aus Rom aber nichts überliefert). Gleichwohl glaube ich, daß das alte Rom auch deshalb immer wieder zu faszinieren vermag, weil es dort so etwas eben gab: das Pulsieren des Wettbewerbs um Stimmen, die öffentlichen Auftritte der Kandidaten, eine Schrift über effizienten Wahlkampf und Cicero-Briefe aus der ‘heißen Phase‘, die gegenseitigen Vorwürfe, die lauteren und unlauteren Mittel, schließlich der Wahltag selbst, an dem die Entscheidung fiel, das ansonsten ganz diffuse Kollektiv sich aber auch einmal um einen Punkt versammelte, seine Macht spürte oder zu spüren vermeinte und so die gemeinsame Ordnung – dort die res publica der römischen Bürger, hier die Demokratie – erleben, sich selbst feiern konnte. Aus dem pharaonischen Ägypten ist derlei nicht bekannt.
Mary Beard hat in ihrem TLS-Blog vor den Unterhauswahlen in England noch eine wunderbare aktuelle Parallele gefunden: die Patzer der Kandidaten im Umgang den Wählern; ausgelöst natürlich durch die abfälligen Bemerkungen Gordon Browns über eine Petentin, die nicht für die Ohren der Öffentlichkeit bestimmt waren, diese aber peinlicherweise erreichten. Die von Beard genannten römischen Fälle lassen sich ebenso als kommunikative Desaster bezeichnen, wenn sie auch etwas anders gelagert sind. So ließ ein Publius Africanus eine öffentliche Bewirtung ausrichten, wohl i.J. 129 v.Chr. Der damit Beauftragte Aelius Tubero hielt es für eine gute Idee, die Genügsamkeit des Kandidaten herauszustellen; er legte rauhe Felle auf die Liegen und servierte auf Tongefäßen statt auf Silber. Aber die deformitas dieser Einladung, die „verdrehte Weisheit“ des Ausrichters stieß die Leute vor den Kopf, und obwohl Africanus einen tadellosen Ruf genoß und berühmte Verwandte aufbieten konnte, fiel er bei den anschließenden Wahlen durch. Es zeigte sich, was Cicero später so formulierte: Das römische Volk verabscheue privaten Luxus und liebe öffentliche Großzügigkeit – ein Argument auf der Linie von Sloterdijks freiwilliger Steuer der Reichen?
Näher an Gordon Brown ist eine andere Anekdote über Publius Scipio Nasica, nachmals eine der großen Leitfiguren des römischen Senats. Doch während seines Aufstiegs zum Hochplateau geriet Scipio ins Straucheln: Er schüttelte bei der Wahl zum kurulischen Ädilen einem Bauern die mit Schwielen bedeckte Hand und fragte im Scherz, ob dieser auf seinen Händen zu laufen pflege. Anwesende bekamen das mit, und das Wort machte im Volk die Runde. Scipio scheiterte bei der Wahl, weil alle ländlichen Stimmbezirke, so unser Gewährsmann, über die Verhöhnung ihrer Armut durch einen kultivierten Stadtbewohner erbost waren. Heute würde eine solche Bemerkung auf eine viel unübersichtlichere Diskurslage treffen – das prominenteste Beispiel bot Kurt Beck (vor gefühlten zwanzig Jahren), als er einem Langzeitarbeitslosen Körperpflege nahelege, dann werde es auch mit dem Job klappen: abgehobene Arroganz oder eine nüchterne Sicht auf das Prekariat?
Beide römische Anekdoten finden sich, mit vielen anderen, zu einem Kapitel von Valerius Maximus‘ Werk Bemerkenswerte Taten und Aussprüche (VII 5), verfaßt in der frühen Kaiserzeit als „Practical Ethics for Roman Gentlemen“ (so der Titel der Studie von C. Skidmore). Die Einleitung offenbart den pädagogischen Zweck des ganzen Unternehmens: Zu lesen, was alles auf dem Campus Martius – dort fanden jedes Jahr die Wahlen der wichtigsten Amtsträger statt – passieren kann, wird eine nützliche Vorbereitung für alle sein, die ein hohes öffentliches Amt anstreben. Sie werden Niederlagen tapferer hinnehmen, wenn sie sehen, wie viele bedeutende Leute vor ihnen schon alle gescheitert sind und daß die Welt nicht untergeht, wenn einem Politiker einmal etwas verweigert wird. (Da denkt man natürlich sofort an Heide Simonis mit ihrem fassungslosen „Und was wird dann aus mir?“, das damals viel zu wenige Bürger ihrerseits fassungslos gemacht hat). Und man muß einen langen Atem haben, Niederlagen hinnehmen und es erneut versuchen. Auch dafür neuere Beispiele: Willy Brandt hatte 1961 und 1965 als Kanzlerkandidat keinen Erfolg, wurde gleichwohl 1969 erneut aufgestellt (freilich immerhin als amtierender Minister), und Alfred Dregger zog sich erst aus der hessischen Landespolitik zurück, als er 1983 im vierten oder fünften Anlauf immer noch nicht Ministerpräsident geworden war (aber seine Partei immerhin aus einem Kümmerdasein in die Nähe der Macht gebracht hatte).
Valerius Maximus konnte als rückblickender Beobachter auch tun, was sich Politiker heute seltsamerweise fast stets verkneifen: die Wähler beschimpfen (sieht man einmal von Otto Schilys Banane am Abend der ersten und letzten freien Volkskammerwahl in der DDR ab – oder täuscht mich die Erinnerung? Ich schlage das jetzt nicht nach.). So verlor Cato der Jüngere, das eiserne Gewissen der Republik gegen Pompeius und Caesar, die Prätorenwahl gegen einen Vatinius – „diese Abstimmung grenzte an Schwachsinn“ (proxima dementiae suffragia). Immerhin, auch dieser Tiefpunkt war noch für einen starken Satz gut: Man verweigerte Cato nicht das Amt, sondern dem Amt wurde Cato vorenthalten.
Höchst bemerkenswert erneut: die zahlreichen Kommentare zu Mary Beards posting, meist wohlinformiert, oft meinungsstark, meist gut formuliert, nie unter der Gürtellinie. So steuert ein Leser den Hinweis auf Valerius Maximus‘ erzieherische Intention bei (mit lateinischem Zitat Val. Max. 7,5 praef. – o, tu felix Britannia …).
Hier eine kleine Auswahl:
In terms of misjudgments that led to electoral disaster, I’ve always been rather taken with the fate of Tiberius Gracchus – beaten to death and thrown into the Tiber. There are a few modern politicians …!
Ein Sprachsensibler:
It’s forty years or so since Nixon and Watergate. Over half the population wasn’t even born then. Why does the Press continue to refer to every gaffe or misdemeanour by an official or public figure as Thisgate or Thatgate? Bunch of cliche-mongers.
Sinn für historische Kontinuität:
James Wade’s question prompts one that has long troubled me: Has there ever been a time, since the dimmest antiquity, when Rome had no Senator?
In Gibbon you come across mention of Senators in Rome long after AD 476. One knows that eventually the office of Senator was held by only a single member the Papal curia, the last of whom passed it on to the Senators of the Kingdom of Italy, who removed from Florence to Rome in 1870. They were in turn succeeded by the Senate of the Republic of Italy in 1947. Has there been something like an unbroken line of descent, as with the office Pontifex Maximus?
Daran schließt sich eine lange Debatte, die mit den republikanischen Wahlen gar nichts mehr zu tun hat, gleichwohl spannend ist.
Valerius Maximus, Facta et dicta memorabilia. Denkwürdige Taten und Worte. Lateinisch/Deutsch von Ursula Blank-Sangmeister. Stuttgart (Reclam) 1991. – Leider nur eine Auswahl; das Kapitel über die Wahlniederlagen bietet lediglich die Nasica-Anekdote. Die letzte vollständige deutsche Übersetzung erschien vor 180 Jahren!
Schade, dass Sie, Herr Walter,...
Schade, dass Sie, Herr Walter, keine Links anbieten zu diesem Beitrag. Das möchte ich hier nachholen:
Mary Beards TLS Blog findet der Leser unter: https://timesonline.typepad.com/dons_life/
Den hier betreffenden Blog wird gefunden unter: https://timesonline.typepad.com/dons_life/2010/04/roman-election-gaffes.html#more
Und die dt. Komplettübersetzung des Valerius Maximus gibt es bei Google Books (oder als „clickable link“ in der: Wikipedia Deutschland [https://de.wikipedia.org/wiki/Valerius_Maximus])
https://books.google.com/books/download/Sammlung_merkw__rdiger_Reden_und_Thaten.pdf?id=0HcVAAAAYAAJ&hl=de&output=pdf&sig=ACfU3U1-_oMmGmXUObBR-6CRSjlxCW6qHQ
Finde ich einen treffenden...
Finde ich einen treffenden Vergleich der hier angestellt worden ist. Ich war vor ein paar Tagen in London und konnte mich selbst von der Stimmung überzeugen. Das TV-Duell war da wohl das Highlight – das Vorurteil der nüchternen Briten trifft es wohl.
Bleibt nur zu hoffen das Gordon Brown endlich abtritt und die Konservativen mit den Torys das Ruder übernehmen.
Besten Dank für den Hinweis...
Besten Dank für den Hinweis auf den Blog „A Don’s Life“ von Mary Beard. Jetzt habe ich wieder eine Seite mehr im Internet, die ich gerne besuche, was viel heißen will; denn die Nachrichtenseiten sind doch eher meist verdrießlich. Und ich habe auch gleich etwas gelernt: Ein „Don“ ist in Cambridge & Oxford einfach ein Dozent (in USA hingegen ist es die Bezeichung für einen Mafiaboss …)