Woher gewinnen Gedanken und Worte ihre das Handeln leitende Autorität? Die Griechen haben diese Frage seit dem fünften Jahrhundert v.Chr. in einen fruchtbaren Wettstreit gekleidet, den Wettstreit zwischen Philosophie und Rhetorik. Doch eine dritte, ältere Form darf nicht in Vergessenheit geraten: die Spruchweisheit, gekleidet in einfache Sätze und Sprüche von ehrwürdiger Evidenz. Sie findet sich schon bei Hesiod um 700 v.Chr., und Winfried Schmitz hat gezeigt, daß das bäuerliche Leben in hohem Maße von solchen Sprüchen geregelt wurde. Daneben steht die Überlieferung von den Sieben Weisen.
Eduard Meyer hat sie in seiner Geschichte des Altertums, der Überlieferung wie dem Zug seiner eigenen Zeit (um 1900) geschuldet, mit der Formierung der Staatlichkeit in Hellas verbunden und zugleich die Quellenkritik in den Vordergrund gerückt: „Die Volkstradition faßt die hervorragendsten unter den Staatsmännern, welche in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts an der Spitze der Griechenstädte des Mutterlandes und Kleinasiens gestanden haben, unter dem Namen der sieben Weisen zusammen: es sind diejenigen Männer, welche den tiefsten Einblick getan haben in den Gang der irdischen Dinge, welche mit fester Hand das Staatsschiff zu lenken wissen und in jeder Lage im Rat wie im Gericht die treffende Entscheidung finden. Periander von Korinth, Solon von Athen, Cheilon von Sparta, Pittakos von Mytilene, Thales von Milet, Bias von Priene, Kleobulos von Lindos bilden den Kreis der Sieben. (…) In kurzen Kernsprüchen, so glaubt man, haben sie die Summe ihrer Lebenserfahrung – denn das ist ihre »Weisheit« – niedergelegt. Mehrere derselben waren im delphischen Tempel eingegraben. Es sind Sprüche wie »Erkenne dich selbst« oder »Die Übung macht alles«, die eine Autorität als Stütze bekommen sollten; doch enthalten manche in der Tat eine treffliche Charakteristik des Mannes, dem sie zugeschrieben werden: so »alles mit Maß« (richtiger »nichts übertreiben«) für Solon, »es ist schwer tugendhaft zu sein« für Pittakos, den lesbischen Staatsmann, der allen Versuchungen widerstand und in den schwierigsten Lagen dennoch sein hohes Ziel nie aus den Augen verlor. (…) Frühzeitig hat die Legende ihre Ranken um die Sieben gewoben; man denkt sie in persönlichem Verkehr, beim Gastmahl vereinigt, man setzt sie in Verbindung mit den mächtigsten der ausländischen Herrscher, mit Amasis von Ägypten und Krösos von Lydien.“
Einen recht unkonventionellen Prominenzbegriff bemühte zuvor Jacob Burckhardt (Griechische Kulturgeschichte, Bd. 4): „In diesem Zeitalter begegnen uns nun allmählich auch Zelebritäten, d.h. Menschen von allgemein hellenischer Notorietät, durch welche die Agonalsieger etwas auf die Seite gedrängt werden, und zwar sind dies vor allem die Tyrannen, dann die Dichter und Künstler und schließlich besonders die wunderlichen Heiligen und die Sieben Weisen.“ Bekanntlich sind die Griechen über diese Art von gnomischer, letztlich beschränkter Weisheit, vielfältig hinausgekommen, doch ein Interesse an den Sprüchen und ihren Trägern bestand immer, auch unter Gebildeten; das führte zur wuchernden Legendenbildung.
Über Leben und Meinungen der Sieben Weisen kann man sich seit über siebzig Jahren in Bruno Snells Tusculum-Band informieren; 2006 kamen Die Worte der Sieben Weisen, ediert von J. Althoff und D. Zeller, hinzu. Dort findet sich auch ein gut begründetes Argument für den sozialen Sinn der Sprüche: Nicht als Ausdruck einer Allgemeinethik seien diese zu verstehen, sondern als das Bemühen eines extrem wettbewerbsorientierten und individualistischen Adels in archaischer Zeit (7./6. Jahrhundert), den Machtdrang von Einzelnen sozusagen weisheitlich zu domestizieren, Grenzüberschreitungen als sozialen Verstoß zu indizieren. Da die Sprüche inhaltlich allgemein waren, überdies autorlose, ‘offene‘ Texte, konnten sie auch dann noch weitergetragen und vermehrt werden, als dieser ursprüngliche soziale Sinn längst erledigt war.
Nun hat der Kölner Althistoriker Johannes Engels in der bewährten Beck-Wissen Reihe eine stoffreiche und konzentrierte Einführung vorgelegt. Dabei vermittelt er, dem Gegenstand gemäß, weniger festes Wissen oder eine bestimmte Interpretation; im Zentrum steht vielmehr die höchst komplexe Überlieferungssituation, was das Alter und die Zusammensetzung der zahlreichen Zusammenstellungen von Namen und Sprüchen angeht. Immer wieder bemühte man sich, einen Kanon zu definieren, aber das gelang nie definitiv. Heuristik und Methodik werden von Engels gut dargestellt, und der Leser versteht, was Altertumswissenschaftler tun und wo die über lange Zeit erworbenen Stärken ihrer Disziplinen liegen.
DEMETRIOS VON PHALERON: DIE SPRÜCHE DER SIEBEN WEISEN (ca. 300 v.Chr., Übers.: Snell)
I. Kleobulos, Sohn des Euagoras, aus Lindos sagte:
1. Maß ist das Beste. 2. Seinen Vater soll man ehren. 3. Gesund sein an Leib und Seele. 4. Viel hören und nicht viel reden. 9. Den Bürgern das Beste raten. 10. Die Lust beherrschen. 11. Nichts gewaltsam tun. 15. Den Gegner des Volks als Feind ansehen. 16. Mit der Frau nicht streiten und nicht allzu stolz sein, wenn andere dabei sind; das eine läßt dich für einen Toren, das andere für einen Verrückten gelten. 17. Sklaven beim Wein nicht prügeln; sonst hält man dich für betrunken. 18. Aus gleichem Stande heiraten; aus besserem Stand gewinnst du Herren, keine Verwandten. 19. Nicht mit dem Spötter lachen; denn du wirst den Verspotteten verhaßt sein. 20. Im Glück nicht stolz, im Unglück nicht niedrig sein.
II. Solon, Sohn des Exekestides, aus Athen sagte:
1. Nichts zu sehr. 2. Sitze nicht zu Gericht, sonst wirst du dem Beklagten ein Feind sein. 3. Fliehe die Lust, die Unlust gebiert. 4. Wahre deine Anständigkeit treuer als einen Eid. 5. Siegle deine Worte mit Schweigen, dein Schweigen mit dem rechten Augenblick. 6. Lüge nicht, sondern sprich die Wahrheit. 7. Um Ernstes bemüh dich. 8. Hab nicht mehr Recht als deine Eltern. 9. Freunde erwirb nicht rasch; die du aber hast, verwirf nicht rasch. 10. Wenn du gehorchen gelernt hast, wirst du zu herrschen wissen. 11. Wenn du von anderen Rechenschaft forderst, gib sie auch selbst. 12. Rate nicht das Angenehme, sondern das Beste den Bürgern. 14. Meide schlechte Gesellschaft. 17. Sag nicht, was du nicht gesehen hast. 18. Wisse und schweige. 19. Den Deinen sei milde. 20. Das Unsichtbare erschließe aus dem Sichtbaren.
Θαρρεῖτε γῆν...
Θαρρεῖτε γῆν ὁρῶ.
Tharreite, gēn horō.
„Fasst Mut! Ich sehe Land.“
Diiogenes von Sinope, Cyniker
Grossartig, dass wir uns wieder auf das antike Erbe Europas rückbesinnen. Obiges passt vieleicht zur heutigen Lage Deutschlands?