Antike und Abendland

Antike und Abendland

Tagesaktualität, wie sie sich mit einem Blog verbindet, und Antike – das scheint nicht zusammenzugehen. Dennoch soll hier der Versuch gewagt

Nachgelesen (II): Sloterdijks stummer Aristoteles

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Vor knapp einem Jahr war an dieser Stelle von Peter Sloterdijks tänzelnder Idee die Rede, die moralisch unterfordernden und den Gemeinsinn aushöhlenden Zwangssteuern zumal für Reiche durch freiwillige Abgaben zu ersetzen. Das antike Modell eines solchen Gedankens, den sog. Euergetismus, habe ich seinerzeit an praktischen Beispielen aus dem städtischen Leben der römischen Kaiserzeit illustriert.

Vor knapp einem Jahr war an dieser Stelle von Peter Sloterdijks tänzelnder Idee die Rede, die moralisch unterfordernden und den Gemeinsinn aushöhlenden Zwangssteuern zumal für Reiche durch freiwillige Abgaben zu ersetzen. Das antike Modell eines solchen Gedankens, den sog. Euergetismus, habe ich seinerzeit an praktischen Beispielen aus dem städtischen Leben der römischen Kaiserzeit illustriert. Nun hat Wolfgang Kersting in einer brillanten Rezension gesammelter Anti-Sloterdijk-Pamphlete („Dokumente eines staatssozialistischen Welfarismus, dem wenig anderes einfällt als vor dem angeblichen und im Geheimen so erhofften Bürgerkrieg der Ausbeuter gegen die Ausgebeuteten zu warnen und die Erhöhung der Rotationsgeschwindigkeit und Umschlagmenge der Umverteilungsmaschine zu fordern“) auf die philosophische Wurzel in der Antike hingewiesen (F.A.Z. 16.8.2010). Befeuert wird der Grundsatzstreit durch die Ankündigung der amerikanischen Milliardäre, die Hälfte ihres Vermögens wohltätigen Zwecken zu spenden. Der Argwohn, den das hierzulande ausgelöst hat (‘Besser wäre es, der Staat schöpft diese Vermögen durch Steuern ab!‘), ruht auf einem fundamentalen doppelten Mißtrauen: gegen die Ungleichheit als einen produktivem Zustand und gegen die Gabe als eine ethische Entscheidung.

Das Geben als Einstellung und Praxis, in der Antike einer der Grundpfeiler des Sozialen, findet sich bei Aristoteles im vierten Buch der Nikomachischen Ethik auseinandergelegt und differenziert. Unterscheiden werden Freigebigkeit (eleutheriótês, wörtl.: die Haltung eines freien Menschen, latein. liberalitas) und ‘Hochherzigkeit‘ (megaloprépeia). Erstere steht zwischen Geiz – den Aristoteles für unheilbar hält – und Verschwendung (die durch gute Anleitung korrigiert werden kann). „Es ist auch die Weise des Freigebigen und Edelgesinnten, im Geben die Mitte so stark zu überschreiten, daß er für sich das Geringere behält, da es ihm eigen ist, nicht auf sich selbst zu sehen. Man schätzt die Freigebigkeit nach dem Vermögen. Denn sie beruht nicht auf der Größe der Gabe, sondern auf der Gesinnung des Gebers, und mit der steht es bei dem Frei­gebigen so, daß er nach dem Maße seines Vermögens gibt. Darum kann es gar wohl geschehen, daß die kleinere Gabe einer größeren Freigebigkeit entspringt, weil sie aus gerin­geren Mitteln verabreicht wird. Freigebiger scheinen die zu sein, die ihr Vermögen nicht erworben, sondern ererbt haben. Sie haben keine Erfahrung von der Not, und jedermann hängt mehr an dem, was von ihm selber kommt. So halten es ja auch die Eltern mit ihren Kindern und die Dichter mit ihren Werken.

Der Freigebige ist nicht leicht reich. Er legt es ja nicht darauf an, zu empfangen und zusammenzuhalten, sondern neigt eher zur Verschwendung, da er das Geld nicht seiner selbst, sondern des Gebens wegen schätzt“ (1120b4-18, Übers. Rolfes).

Megaloprépeia ist schwierig zu übersetzen. ‘Hochherzigkeit‘ ist die gängige Wendung, Dirlmeier trifft es mit ‘Großgeartetheit‘ besser, aber der Wortbildung nach gemeint ist eigentlich ein „im-Großen-das-richtige-Maß-Halten“. Aristoteles hat es nicht leicht, sie von der Freigebigkeit abzusetzen, was sich am stärksten in den beiden Verfehlungen ausdrückt, die den genannten sehr ähnlich sind: Protzerei und Engherzigkeit. Freigebigkeit bezeichnet sozusagen die alltäglichere, durch die Verbindung mit Geld auch dinglichere Haltung; megaloprépeia ihre distinkte, aristokratische Variante („Es kann kein Unbemittelter hochherzig, das heißt im großen Stil freigebig sein.“), in der Wert und Gegenwert gleichsam zum Verschwinden gebracht sind, hingegen das Werk und der Geber ganz im Mittelpunkt stehen:

Die Hochherzigkeit scheint „doch auch eine Tugend zu sein, die sich auf Hab und Gut bezieht. Sie erstreckt sich jedoch nicht wie die Freigebigkeit auf alle das Geld betreffenden Hand­lungen, sondern nur auf den Aufwand, und hier übertrifft sie die Freigebigkeit durch die Größe; denn sie ist, wie schon der Name einigermaßen anzeigt, der schickliche Auf­wand im Großen. Groß ist nun ein relativer Begriff; der Aufwand eines Mannes, der aus seinen Mitteln ein Kriegs­schiff stellt, ist ein anderer als der eines Mannes, der für die Kosten einer Festgesandtschaft aufkommt. So richtet sich denn die Schicklichkeit nach der Person und wechselt hier je nach der Sache und den Umständen. Wer im Kleinen oder Mittelmäßigen nach Gebühr ausgibt, heißt nicht hoch­herzig; also nicht, wer mit Odysseus sagen kann: ‘Oft gab ich dem Bettler‘; sondern, wer dies im Großen tut. Der Hoch­herzige ist edelgesinnt und freigebig; der Freigebige aber ist darum noch keineswegs hochherzig. (…)

Der Hochherzige gleicht einem Wissenden. Er weiß das Schickliche zu beurteilen und auf geziemende Weise großen Aufwand zu machen. Denn der Habitus wird, wie wir zu Anfang gesagt haben, durch die Akte sowie durch die Ob­jekte charakterisiert, worauf er sich bezieht. Und so sind die Aufwendungen des Hochherzigen groß und der Schicklich­keit und Würde entsprechend, nicht minder aber die Werke, denen der Aufwand gilt, und so wird denn der Aufwand, den er macht, ebenso groß wie für das Werk schicklich sein. Das Werk muß also des Aufwands, der Aufwand des Wer­kes würdig sein oder es noch übertreffen. Solchen Aufwand aber macht der Hochherzige aus sittlichem Beweggrunde, wie es ja jeder Tugend eigen ist, und auch gern und ohne Bedenken, da das genaue Rechnen engherzig ist. Und er sieht mehr darauf, daß die Ausführung auf das schönste und geziemendste geschieht, als was sie kostet, und wie sie am billigsten wird. Der Hochherzige nun muß auch frei­gebig sein, da auch der Freigebige aufwendet was er soll und wie er soll, aber gerade hierin, im Was und Wie, be­steht das ‘Große‘ unseres Mannes, besteht die Größe der Freigebigkeit, die es sonst mit denselben Dingen zu tun hat, und er wird mit dem gleichen Aufwand dasselbe Werk prächtiger und großartiger gestalten. Denn der Wert eines Besitzstückes und der eines Werkes ist nicht der gleiche. Bei einem Besitzstück, Gold z. B., entscheidet der höhere Preis über seinen Wert, bei einem Werk dagegen seine Größe und Schönheit. Der Anblick eines solchen Werkes ruft un­sere Bewunderung hervor, und Bewunderung zollen wir auch den Schöpfungen hochherzigen Sinnes. Der Wert des Werkes ist also seine überragende Pracht und Größe.

Zu den hochherzigen Aufwendungen gehören die soge­nannten Ehrenleistungen, einmal Weihegeschenke für die Götter, Tempelbauten und Opfer, dann Aufwendungen für alles, was zum Kult der Dämonen, der Halbgötter, gehört, endlich alles, was edler Wetteifer für das Gemeinwesen leistet, wie wenn man z.B. glaubt, einen Festchor glänzend ausstatten oder ein Kriegsschiff stellen oder auch der Stadt ein Gastmahl geben zu sollen“ (1122a21-1122b22).

Selbstverständlich muß der megaloprepês repräsentieren, etwa ein schönes Haus bewohnen. Doch Aristoteles wiederholt: Aufwand betreibt der so Gesinnte nicht für sein persönliches Behagen, sondern für die Allgemeinheit.

Wie sehr diese aristotelische Dimension des sittlich Guten vom hierzulande und heutzutage Üblichen entfernt ist, zeigt schlagend die Bestimmung der beiden Verfehlungen, von denen die eine unter dekadenten, innerlich haltlosen Reichen auszumachen ist, während sich die andere schon durch fast die gesamte Gesellschaft hindurchgefressen hat und wenn nicht zur Norm, so doch zur Normalität geworden ist:

„Wer aber hier zu viel tut und ein Protzer (hyperbállôn kai bánausos) ist, tut insofern zu viel, als er ungebührlichen Auf­wand macht. Er verwendet viel bei Anlässen, die nur einen bescheidenen Aufwand erfordern, indem er z. B. eine alltägliche Gesellschaft von guten Freun­den wie Hochzeitsgäste bewirtet oder, falls er die Kosten einer Komödie zu bestreiten hat, für den Aufzug des Cho­res Purpurdecken ausbreiten läßt, wie die Megarer. Und das alles wird er nicht aus sittlichen Beweggründen tun, sondern um seinen Reichtum zu zeigen, und in der Erwar­tung, dadurch die Bewunderung auf sich zu ziehen. Er macht wenig Aufwand wo viel, und viel Aufwand, wo wenig sich gehören würde.

Der Engherzige und Kleinliche (mikroprepês; Analogiebildung, meint nicht etwa ‘sich im kleinen angemessen verhalten‘!) wird es in allem fehlen lassen und bei den größten Aufwendungen durch Knausern im Kleinen das Ganze um seine Schönheit bringen. Bei allem, was er ausführt, bedenkt er sich und ist besorgt, wie es am billigsten abgemacht werden kann, und dabei klagt er beständig und meint überall mehr zu tun, als er soll.“


2 Lesermeinungen

  1. Ribozym sagt:

    Toll, toll, toll. Vielen Dank...
    Toll, toll, toll. Vielen Dank Herr Walter für Ihren tollen Blog!
    So oder so ähnlich hätte ich mir damals meinen Altgriechisch-Unterricht gewünscht!

  2. franket sagt:

    Am Ende dieser Ausführungen...
    Am Ende dieser Ausführungen vermisse ich ein wenig den Bogen zurück zu Sloterdijk. Außerdem wäre es interessant zu sehen, was Aristoteles über die Besteuerung der Bürger zu sagen hatte, überhaupt zur Finanzierung eines Staatswesens. Da ist noch Stoff für einige weitere Beiträge drin!

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