Antike und Abendland

Antike und Abendland

Tagesaktualität, wie sie sich mit einem Blog verbindet, und Antike – das scheint nicht zusammenzugehen. Dennoch soll hier der Versuch gewagt

Für Lateinlehrer/innen und -freunde: Erinnerung schafft Leben (Martial X 23)

| 0 Lesermeinungen

Alte Menschen, das Alter überhaupt und die bewußte Reflexion über den Tod spielen im Denk­horizont von Jugendlichen verständlicherweise nur eine kleine...

Alte Menschen, das Alter überhaupt und die bewußte Reflexion über den Tod spielen im Denk­horizont von Jugendlichen verständlicherweise nur eine kleine Rolle. Dies spiegelt sich auch im Schulunterricht der verschiedenen Fächer, in denen man dieses Thema behandeln könnte (Deutsch, Geschichte/Sozialkunde, Religion, Biologie). Im Lateinun­terricht ist das nicht anders. Obwohl das Alter in der antiken Literatur häufig und in sehr verschiedenen Kontexten thematisiert wurde, während Kindheit und Jugend ein auf­fallend geringes Interesse fanden (1), tauchen die ein­schlägigen, an sich ergie­bigen Texte, im Lektürekanon kaum auf; Ähnliches gilt für die Themen in den Lehrbü­chern. Ich erinnere mich an einen Lehrerkollegen, der sich darüber empörte, daß jemand im Lateinunterricht Ciceros Cato maior de senectute las. Es fiel mir schwer, ihm zu wider­sprechen. Dennoch wäre es vorschnell zu sagen, das Thema Alter gehe völlig an der Lebenswirk­lichkeit der Jugendlichen vorbei. Denn abgesehen davon, daß es kaum aus­reichen kann, Schüler immer nur „da abzuholen, wo sie gerade stehen“ und nur das in den Blick zu nehmen, was sie gerade interessiert und unmittelbar betrifft, ist das Alter, sind alte Menschen ja in vielfacher Weise im Leben auch der jungen Menschen präsent. Fast alle haben sie Großeltern oder Urgroßeltern, und die Probleme alter Menschen heute sind insofern viel­fach bekannt: Einsamkeit, Furcht vor Krankheit und Demenz, Sprachlosigkeit, z.B. zwischen der Generation, die Krieg und Nachkrieg noch erlebt hat, und denen, für die Wohlstand und Frieden selbstverständlich waren. Was „Alzheimer“ bedeutet, ist inzwischen den meisten Jugendlichen geläufig. Daß der Ton zwischen den Generatio­nen rauher wird, vor allem im Zusam­menhang der Rentendiskussion, ist kaum noch zu übersehen. Das Alter rückt also auch den Jungen näher, Unverständnis, Mißgunst und Furcht sind die vielleicht vorherrschen­den Gefühle.

Ob das Alter glücklich oder unglücklich wird, scheint ihnen weitgehend vom Geld und ansonsten vom Zufall abzu­hängen. Aber das Alter ist kein isolierter Lebensabschnitt, sondern das Resultat dessen, was davor war. Wie man sein Leben gestaltet, hat große Auswirkungen auf das Erge­hen im Alter (soweit die Erinnerung intakt bleibt). Die Gestaltung ihres Lebens aber, das begreifen zumindest einige Schüler mit 16, 17, 18 Jahren durchaus, beginnt hier und jetzt. Mit diesen Schülern sollte man, nein, nicht Ciceros Cato maior (2) oder die Schriften Senecas zur Überwindung der Todes­furcht lesen, sondern das folgende Epigramm Martials (X 23):

Iam numerat placido felix Antonius aevo

   quindecies actas Primus Olympiadas

praeteritosque dies et tutos respicit annos

   nec metuit Lethes iam propioris aquas.

nulla recordanti lux est ingrata gravisque;

   nulla fuit cuius non meminisse velit.

ampliat aetatis spatium sibi vir bonus: hoc est

   vivere bis, vita posse priore frui.

„Schon zählt Antonius Primus, vom Glück gesegnet mit einem friedlichen Alter, die fünfzehn Olympiaden, die er gelebt, und schaut zurück auf die vergangenen Tage und die Jahre, die kei­ner ihm nehmen kann, und er findet keinen Grund, die nahenden Schatten des Todes zu fürch­ten. Kein einziger Tag erscheint im Rückblick ihm überflüs­sig und lästig, keinen Tag gab es, den er nicht erinnern mag. Ein guter Mensch ver­mehrt so die Spanne seines Daseins: Freude zu haben an sei­nem vergangenen Leben, das bedeutet am Ende zweimal zu leben.“(3)

Während die gedanklich eng miteinander verknüpften Begriffe Alter, Tod und Erinnerung in dem Gedicht natürlich einen beherrschenden Rang beanspruchen (aevum, praeterire, respicere, Lethe, recordari, meminisse, aetas, vita prior), stehen alle finiten Verben, die das Handeln des Antonius Primus beschreiben, im Präsens. Das ist kein Zufall. Anto­nius ist ein aktiver Mensch, der jetzt und hier handelt, der aus seinem bisherigen Leben nicht nur etwas gemacht hat, son­dern immer noch etwas daraus macht. Zu Beginn noch nichts Auffälliges: Die Jahre zu zählen – es sind deren 75 (4) – und zurückzublicken, das scheint eine fast typische geistige Tätigkeit im hohen Alter zu sein. Im­merhin ist mit felix bereits im ersten Vers der Grundakkord gegeben. In Vers drei bekommt die anfängliche Beschaulichkeit eine plötzliche Dyna­mik. Der Tod ist in einem solchen Alter in der Tat schon nahe, aber Antonius fürchtet ihn nicht. Mit dieser Fest­stellung ist zugleich die Frage aufgeworfen: warum nicht? Im Vers zuvor hatte tutos den nun zu entfaltenden Gedankengang bereits vorbereitet: von Zeit ist die Rede, die einem keiner nehmen kann. (5) Dies wird nun genauer ausgeführt (Vers 5 ff.). Die poetische Umschreibung von „Tod“ mit Lethes aquas (6) ist sehr bewußt gewählt; von den Unterweltflüssen nennt Martial denjenigen, dessen Wasser, wenn der Verstor­bene es trinkt, das Vergessen des irdischen Lebens bewirkt. Gegen dieses Verges­sen stehen dezidiert recordanti und meminisse in den nächsten Versen, die durch das anaphorische nullanulla auch formal eng verbunden erscheinen. Der Tod steht also unentrinnbar bevor, aber seine ängstigende Kraft ist gebrochen, denn die Erinnerung an ein glückliches Leben steht gegen ihn.(7) Im Schlußdistichon mündet der Bericht über Antonius Primus in einen allgemeingültigen Rat für den vir bonus, seine Lebens­spanne zu verlängern. Gegenüber dem bloßen ampliat (vermehren) bildet vivere bis eine Steigerung und zugleich eine gedankliche Verschiebung: vivere bis meint ja nicht eine Ver­doppelung der Lebenszeit im numerischen Sinne, sondern will sagen, daß der vir bonus sein Le­ben zweimal leben kann, einmal als Handelnder und einmal als Erinnernder; aus bei­dem wächst ihm Kraft zu. Aber es muß eben auch ein gutes Leben gewesen sein. Wer Martial kennt, weiß, daß mit frui nicht die Genußsucht eines oberflächlichen Hedonis­mus gemeint sein kann, sondern das auf einem mittleren Maß ruhende Streben nach der vita beatior (vgl. Mart. X 47).

Nicht in erster Linie die anthropologischen Dimensio­nen des Alters allgemein oder damals oder heute gilt es aufzuzeigen; viel gewonnen wäre, wenn wenigstens einige der jungen Menschen, die sich mit Latein abmühen, aus dem kleinen Martial-Epigramm diesen Gedanken mitnehmen: Der Grundstein zu einem glücklichen Alter und damit zu einem abgerundeten Leben wird nicht allein mit Blick auf die Rentenversicherung hier und jetzt gelegt.

 

Anmerkungen

(1)       Vgl. Hartwin Brandt, „Wird auch silbern mein Haar“. Eine Geschichte des Alters in der Antike; München 2002; Marie-Luise Deißmann-Merten, Artikel „Alter“, in: Der neue Pauly 1 (1996) Sp. 556-59; aus der dort genannten Literatur seien der Artikel „Greisenalter“ von Chr. Gnilka im Reallexikon für Antike und Christentum 12 (1983) 995-1094 sowie der von Th. M. Falkner und J. De Luce herausgegebene Sammelband Old Age in Greek and Latin Literature (1989) hervorgehoben.

(2)       Obwohl sich in ihm auch Bemerkenswertes findet, z.B. die Beobachtung, daß alle Men­schen alt werden, aber niemand alt sein will: senectus quam ut adipiscantur omnes optant, eandem accusant adepti (§ 4), oder die Einsicht, daß Ansehen und Respekt einem alten Menschen nicht aus grauen Haaren und Runzeln, sondern nur aus einer ent­sprechenden Lebensleistung zuwachsen können: non cani nec rugae repente auctorita­tem arripere possunt, sed honeste acta superior aetas fructus capit auctoritatis extre­mae (§ 62).

(3)       Eine interpretierende Prosaübersetzung zur Entlastung der Einzelerklärungen.

Die Versübertragung von H. Swoboda (Römischer Witz. Ausgewählte Epi­gram­me. Mün­chen [Goldmann-TB] 1960, 128) liest sich gut, entfernt sich aber m.E. recht weit vom Text. Gelungen scheint mir die Wiedergabe des Schlußdistichons. Es bietet sich an, diese Version (einschließlich der den Sinn des Epigramms verfehlenden Über­schrift) nach der Übersetzung und Interpretation des lateinischen Textes den Schülern vorzulegen und mit ihnen zu diskutieren.

                                   Schöner Lebensabend

                        Schon steht, nach einem Leben reich an Glück,

                        Antonius Primus an des Sechzigers Wende.

                        Auf das Vergangene schaut er froh zurück,

                        Ihm ist nicht bange vor dem nahen Ende.

                        Kein einziger Tag, an den er nicht gern dächte,

                        Den er nicht freudig wieder leben möchte.

                        Ein Mensch, der so geraten ist,

                        Erweitert seines Daseins Frist.

                        Durch Freud an der Vergangenheit

                        Verdoppelt sich die Lebenszeit.

(4)       Mit inklusiver Zählung die Olympiade mit fünf Jahren zu rechnen (wie Pindar, Ol. III 21), so daß sie ein Synonym für lustrum wäre, liegt wegen Lethes iam propioris aquas nahe.

(5)       Vgl. Sen. benef. 3,4,2 Praesentia bona nondum tota in solido sunt, potest illa casus ali­quis incidere; futura pendent et incerta sunt; quod praeteriit, inter tuta sepositum est. (…) memoria gratum facit; memoriae minimus tribuit, quisquis spei plurimum; Cic. Cato 71 Fructus autem senectutis est, ut saepe dixi, ante partorum bonorum memoria et copia.

(6)       Die Junktur findet sich schon bei Ov. met. 11,603.

(7)       Natürlich gehört das Vergessen ebenso zum Leben wie das Erinnern, aber das ist ein ande­res Thema. Dazu glänzend Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. Mün­chen 1997.

 

Eine gediegene Interpretation mit eigener Übersetzung und weiteren Beobachtungen zu Semantik und Aufbau bietet Peter Prestel, Antonius Primus lebt zweimal, in: Marcus Valerius Martialis, Epigrammaton liber decimus. Das zehnte Epigrammbuch. Text, Übersetzung, Interpretationen. Mit einer Einleitung, Martial-Bibliographie und einem rezeptionsgeschichtlichen Anhang herausgegeben von Gregor Damschen und Andreas Heil. Frankfurt/M. u.a. 2004, 110-112.

Bei dieser Gelegenheit mit Nachdruck empfohlen sei die Tusculum-Ausgabe sämtlicher Martial-Epigramme: M. Valerius Martialis, Epigramme. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Paul Barié und Winfried Schindler, Düsseldorf/Zürich 1999, 2. Aufl. 2002. X 23 übersetzen sie:

 

Antonius Primus, der glückliche, zählt in seinem friedlichen Leben

schon volle fünfzehn Olympiaden;

auf die vergangenen Tage und auf sorgenfreie Jahre blickt er zurück

und fürchtet sich auch nicht vor dem Wasser der Lethe, die schon näher kommt.

Denkt er zurück, ist kein Tag für ihn unangenehm oder schwer;

keinen gab es für ihn, an den er sich nicht gerne erinnern möchte.

Ein guter Mann verlängert für sich die Spanne seiner Lebenszeit:

Das frühere Leben genießen zu können heißt, zweimal zu leben.


Hinterlasse eine Lesermeinung