Wieder einmal liegt die Antike auf der windabgewandten Seite. In den inzwischen erschienenen Besprechungen von Egon Flaigs Weltgeschichte der Sklaverei ist von dem großen Kapitel zur Antike kaum die Rede, was wohl so zu verstehen ist, daß dieser Teil die Rezensenten nicht interessiert oder von ihnen für intakt gehalten wird (zumal Flaig Althistoriker ist). Schäumende Wut haben die späteren Kapitel hervorgerufen, die von der islamischen Sklaverei und der allein durch den Westen, maßgeblich durch Kolonialismus errungenen Zerstörung der sklavistischen Systeme in Afrika und den Amerikas handeln. Hier scheint eine neue Debatte losgetreten, die noch viel empirische Arbeit erfordert und überdies im Trend liegt, ist Sklaverei doch eines der klassischen globalhistorischen Themen neuerer Prägung. Nicht verstanden haben Flaigs Kritiker jedoch, daß Globalhistorie und politisch-moralischer Universalismus nicht so leicht zu trennen sind.
Was die antike Sklaverei betrifft, so stehen die Zeichen auf Bilanz, nicht auf neue Debatten. Das hier schon einmal kurz angezeigte Handwörterbuch der antiken Sklaverei steht kurz vor seiner Vollendung, und das Mainzer Akademieprojekt Forschungen zur antiken Sklaverei, das vor sechzig Jahren ins Leben gerufen wurde, hat sein Programm weitgehend abgearbeitet; das Handwörterbuch stellt so etwas wie einen Schlußstein dar. Das gibt Anlaß, Bilanz zu ziehen und erste Schritte zu unternehmen, das Projekt zu historisieren. Diese Historisierung selbst einzuleiten und damit eine gewisse Deutung vorzugeben muß den Verantwortlichen besonders deshalb am Herzen liegen, weil das Mainzer Projekt über Jahrzehnte zumal in der englischsprachigen Welt entweder ignoriert wurde oder unter dem von Moses Finleys inspirierten Verdikt (oder Vorurteil) stand, ein methodisch antiquiertes, im Geiste des Antimarxismus geborenes und erstarrtes, wesentliche Phänomene systematisch ignorierendes Unternehmen zu sein. In der Tat nahm fast die gesamte englischsprachige Forschung die allein schon empirisch gewichtigen Ergebnisse der Mainzer über lange Zeit kaum zur Kenntnis.
Wichtige Bausteine zur Selbsthistorisierung bietet ein eben erschienener, gehaltvoller Tagungsband. Fünf Aufsätze befassen sich mit der Forschungsgeschichte. Die beiden Stücke aus der Feder englischer Autoren (Keith Bradley und Niall McKeown) akzentuieren Aspekte, die im Mainzer Projekt eine geringere Rolle spielten, darunter die vergleichende Untersuchung von Sklavereisystemen von der Antike bis in die Moderne. McKeown hält dem Mainzer Projekt nicht gerade eine Verharmlosung der antiken Sklaverei vor, „but there was a greater willingness to discuss areas other than conflict and abuse“. Andererseits seien die quellenkundlichen Kenntnisse und Kompetenzen deutscher Forscher in der Regel denen ihrer angelsächsischen Kollegen überlegen; aus den intensiver untersuchten Inschriften aber ergebe sich möglicherweise ein positiveres Bild der Sklaverei, weil diese Dokumente Aufstiegserfolge und innige Beziehungen zwischen Herren und Sklaven (etwa in Grabinschriften) herausstellten. Hinzu kommt – diesen Punkt macht v.a. Joachim Deißler in seinem Aufsatz über Finleys Kritik an Joseph Vogt, dem ersten langjährigen Leiter des Mainzer Unternehmens, mit Recht stark -, daß Sklaverei im Grunde kein Teil der deutschen Geschichte ist, anders als dies für England, Frankreich und die USA gilt. Forschern aus diesen Ländern wuchsen die Fragen aus der eigenen, gut dokumentierten Vergangenheit von Sklavenhaltung zu: sexuelle Ausbeutung etwa, oder die Idee, ein ‘gutes‘ Verhältnis zwischen Herren und Sklaven nicht als Ausdruck von ‘Humanität‘, sondern als Resultat eines mehrseitigen Konditionierungssystems zu deuten. Dagegen stand hierzulande immer auch das Bemühen im Hintergrund, die antike Sklaverei – über deren Charakter sich niemand grundsätzlich täuschen konnte – mit den durch die Antike repräsentierten Wertideen des Neuhumanismus gleichsam zu verrechnen.
In der wohlwollenden Rückschau kommt eine wissenschaftstheoretische Unbefangenheit zutage, die für 1950 noch hingehen mag, als von einer führenden Kennerin der antiken Sklaverei 2010 nach wie vor behauptete Bastion deutscher Wissenschaftstradition aber durchaus irritiert:
»JOSEPH VOGT hatte bereits zu Beginn die Grundforderung erhoben: „den gesamten Quellenbereich der Sklaverei bei Griechen und Römern zu erfassen und ohne jede Voreingenommenheit methodisch zu interpretieren“. Die Objektivität der Forschung, die ohne eine vorgefasste Ideologie oder im Voraus festgelegte typologische Kategorien (! daß das nicht geht, wissen wir seit Kant, Droysen und Weber) in induktiver Weise (!) sich ihrem Gegenstand zu nähern versucht, und oft auch zu überraschenden Ergebnissen gelangt, sollte das einigende Band zwischen den vielen aus unterschiedlichen Forschungsgebieten herkommenden Mitarbeitern sein. Diese Vorgehensweise ist auf das Engste mit der philologisch-historischen Methode verbunden, der sich das Projekt in hohem Maße damals verpflichtet fühlte, eine Methode, die wissenschaftsgeschichtlich ins 19. Jh. bis BOECKH und DROYSEN (! s.o.) zurückreicht. Diese Methode aber gilt als einer der Hauptkritikpunkte, die gegen JOSEPH VOGT erhoben wurden. Dem unvoreingenommenen Blick wurde der Mangel an einer leitenden Fragestellung unterstellt.«
Um nicht mißverstanden zu werden: Die hier präsentierten Aufarbeitungen zur Geschichte des Mainzer Akademieprojekts – auch und gerade in Wechselwirkung mit der sowjetischen Forschung, von deren wichtigsten Arbeiten einige von den Mainzern übersetzt und damit der breiteren Diskussion zugänglich gemacht wurden, und mit der von Finley so stark geprägten englischen Tradition – sind hochwillkommen. Wenn die antike Sklaverei doch noch kein Cold Case sein sollte, ist das maßgeblich den in sechzig Jahren erarbeiteten Materialien, Wissensspeichern und Forschungsbeiträgen zu verdanken.