Antike und Abendland

Homers Sprache – zuendegebracht

Gelegentlich war an dieser Stelle Gelegenheit, über den Fortgang oder Abschluß wissenschaftlicher Großprojekte zu berichten. Zuletzt konnten deren zwei zuendegebracht werden: das Reallexikon der Germanischen Altertumskunde – darüber berichtet Timo Stickler im nächsten Heft der Historischen Zeitschrift (292.1, 2011) – und das Lexikon des frühgriechischen Epos.

Das Unternehmen erwuchs aus einem alten Bestreben und neuen Hindernissen. Das alte Bestreben: ein vollständiges altgriechisches Wörterbuch zu erstellen, einen Thesaurus Linguae Graecae, der das gesamte Wortmaterial nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten bearbeitet bereitstellt, d.h. mit Belegstellen, Angaben zur Wortbildung und Etymologie, zu den verschiedenen Bedeutungen und grammatischen Verbindungen, zur Positionierung in Satz und Vers sowie mit Hinweisen auf antike Erklärungen. Die Hindernisse: Längst war die philologische Forschung so angewachsen und zugleich so anspruchsvoll geworden, daß die seit der Humanistenzeit erstellten Werke, allen voran der Thesaurus Linguae Graecae des Stephanus aus dem 16. Jahrhundert, nicht mehr als ausreichend, als veraltet und vorwissenschaftlich betrachtet wurden. Seitdem sich die Altphilologie im 19. Jahrhundert als Leitdisziplin der Geisteswissenschaften etabliert hatte, genügte, so die verbreitete Ansicht, nur noch ein vollständiges und zugleich wissenschaftlich umfassend durchgearbeitetes Werk den Ansprüchen.

Immer wieder hat es seitdem Pläne gegeben, einen solchen Thesaurus anzugehen. Doch der Umfang der erhaltenen griechischen Texte übertrifft den der lateinischen – je nach dem, wo man eine zeitliche Grenze setzt – um etwa das Zehnfache. Und jeder konnte sehen, wie langsam der 1893 begonnene Thesaurus Linguae Latinae vorankam – er ist nach mehr als 110 Jahren inzwischen beim Buchstaben R angelangt. Um die schiere Masse handhabbar zu machen, unterteilte man in Werkgruppen, die sich sprachlich und historisch einigermaßen geschlossen darstellen und daher sinnvoll zu bearbeiten sind.

Als der Hamburger Gräzist Bruno Snell (1896-1986) im Jahr 1944 unter dem Titel Archiv für griechische Lexikographie den Plan entwickelte, lag darin auch ein subtiler Gegenentwurf zur katastrophischen Beschleunigung der Zeitläufte, und noch mehr vielleicht ein Stück Zuversicht in eine ansonsten verhangene Zukunft. Das Gesamtunternehmen blieb Fragment. 1989 erschien ein Index Hippocraticus. Kernstück war aber von Anfang an ein Lexikon, das alle Texte der frühen griechischen Epik erschließen sollte, also in erster Linie Homer und Hesiod. Es begann 1955 zu erscheinen. Die Trägerschaft wechselte, zuletzt lag das Unternehmen in der Verantwortung der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Auch die Arbeitsweise mußte im Verlauf der Erarbeitung geändert werden, als deutlich wurde, daß die anfangs gepflegte, sehr ausführliche Darbietung des Materials die Vollendung bis zu den sprichwörtlichen Griechischen Kalenden verzögert hätte – nach fast zwanzig Jahren und sechs Lieferungen steckt die Bearbeitung immer noch im Buchstaben Alpha; weitere fünfundzwanzig Jahre später, 1999, war man immerhin schon bei Buchstaben Omikron angelangt. Am Ende konnte das LfrgE in vier sorgfältig redigierten gedruckten Bänden unlängst abgeschlossen werden.

Die intellektuellen Wurzeln des Unternehmens liegen in der Erforschung der Begriffe, durch die man dem antiken Geist auf die Spur kommen wollte. Die lateinische Philologie setzte dabei auf ‘Wertbegriffe‘; sie zu durchdringen sollte helfen, den ‘Geist des Römertums‘ zu erkennen. Auf gräzistischer Seite konzentrierte man sich ebenfalls auf einzelne Begriffe, die im Fall von Werner Jaegers Paideia (1933ff.) zu eine ganze Kultur tragenden Konzepten stilisiert wurden. Das erbrachte eine fulminante Gesamtschau, war aber auch hochgradig ideologieanfällig. Snell benannte in einer kritischen Rezension des ersten Bandes die Probleme sehr klar. Sein eigenes Anliegen war elementarer: Um verstehen zu können, wie die Griechen zum Bewußtsein ihrer selbst und der Welt insgesamt gelangten, mußten einschlägige Begriffe wie ‘Geist‘, ‘Seele‘, ‘Mut‘, ‘Verstand‘, aber auch Metaphern wie ‘Licht‘ in ihren Zusammenhängen analysiert werden und war ihre Semantik zu klären. Das konnte sinnvoll aber nur im Kontext der Lexik, also der Gesamtheit aller Wörter einer Sprache, gelingen. Für Snell, dessen bekanntestes Hauptwerk den sprechenden Titel Die Entdeckung des Geistes trägt, verband sich mit der Analyse des altgriechischen Wortschatzes der genuin idealistische Hoffnung, an der Sprache der frühesten europäischen Dichtung beobachten zu können, wie der Mensch allmählich und zunehmend sicherer die Fähigkeit zur Bildung von Begriffen entwickelte, die ihm ein Verständnis der Welt ermöglichten. Schon die Göttinger Dissertation von 1923 hatte „Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie“ zum Thema.

Das Lexikon bietet auch Material zur Diskussion von Grundsätzlichem, etwa der von Raoul Schrott im Kontext seiner Ilias-Übersetzung formulierten Ansicht, die berühmten Epitheta Homers müßten situations- und kontextabhängig wiedergegeben werden, nicht etwa stereotyp.

Zum Abschluß des LfrgE fand im Oktober in Hamburg eine Tagung statt, unter der Leitung des Marburger Gräzisten Arbogast Schmitt, in dessen Händen die Verantwortung gegenüber der Göttinger Akademie lag, und des Redaktors, des Schweizer Sprachwissenschafters Michael Meier-Brügger. Bei amazon kann man in den letzten Band blättern, der auch über die Geschichte des Lexikons informiert.

 

William A. Beck, Dieter Irmer, Fünfzig Jahre Thesaurus 1944-1994. Aus den Archivschränken des Thesaurus herausgegeben. Hamburg, Selbstverlag des Thesaurus Linguae Graecae 1996.

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