Vor längerer Zeit war an dieser Stelle im Zusammenhang mit Pseudo-Geschichte auch über Atlantis zu handeln. Dazu ist jetzt ein vortreffliches Büchlein erschienen. Der Eichstätter Althistoriker Andreas Hartmann legt auf 128 Seiten sehr klar das Wissenswerte dar. Disposition, Stil und Umfang des Buches sind dem Gegenstand völlig angemessen; Hartmann begeht nicht den Fehler, die Windungen und Varianten seines Themas mit einem mäandrierenden Essay abbilden zu wollen, wie das vor einigen Jahren Pierre Vidal-Naquet getan hatte. In knappen Kapiteln referiert er zunächst Platons Atlantiserzählung und erörtert die Intentionen und Authentifizierungsstrategien des athenischen Philosophen sowie mögliche Vorbilder, von der Odyssee bis zu Herodot. Offenkundig ging es Platon primär um eine Kritik an der seemächtigen Demokratie Athens seiner Zeit; die Schilderung von Atlantis enthält markante Elemente, die auf das zeitgenössische Athen verweisen, während das Gegenmodell, Ur-Athen, als blühender Agrarstaat und starke Landmacht erscheint, also eine idealisierte Version Spartas darstellt. Der im Peloponnesischen Krieg bestraften Hybris der Athener entsprach demnach der Untergang von Atlantis.
Den Reiz, den politischen Mythos Platons als im Kern historischen Bericht anzusehen und Atlantis zu lokalisieren, erklärt Hartmann auch psychologisch: Die ‘einfache‘ Annahme, die Erzählung von Atlantis und Ur-Athen sei eine Erfindung Platons, in die eine Reihe von Anregungen eingeflossen sind, bedeutet keine Herausforderung, sondern ist eine Art Sackgasse. Kombinationsgabe und Phantasie werden nur von der gegenteiligen Ausgangsvermutung angeregt: „Alle konkreten Lokalisierungstheorien müssen hingegen einzelne Teile des platonischen Berichts entweder einfach vernachlässigen oder durch komplizierte Hypothesen ‘korrigieren‘. Diese Komplexität hat natürlich ihre Faszination, die auch weiterhin ihre Anhänger finden wird.“
Umsichtig durchmißt Hartmann dann die Rezeptionsgeschichte, zunächst in der Antike. Entscheidend für Karriere von Atlantis seit dem 19. Jahrhundert war dann eine durchaus wichtige wissenschaftliche Frage: Wenn es Ähnlichkeiten zwischen weit auseinanderliegenden Kulturen des Altertums gab, etwa die Pyramiden in Ägypten und in Alt-Amerika, so konnten diese Resultate unabhängiger paralleler Entwicklungen sein – oder Derivate einer einzigen ‘Mutterkultur‘, von der alles ausging. Dieser Diffusionismus, der es nahelegte, zivilisatorische ‘Stammbäume‘ zu konstruieren, hatte als ein scheinbar genuin ‘historisches‘ Denkmodell viele Anhänger, während die gegenteilige Prämisse als ‘soziologisch‘ gelten konnte; die Soziologie war aber noch keine anerkannte akademische Disziplin. Auch theosophische und rassenkundliche Theorien sprangen leicht auf den ‘Mutterkultur-Zug‘ auf, um die ‘Bruderschaft aller Menschen‘ zu beweisen oder um den ‘Ariern‘ eine nicht-östliche Heimat zu geben. Den kruden Theorien folgen die kuriosen: die Lokalisierungsversuche. Hartmann skizziert die wichtigsten: Amerika, Atlantik, Uppsala, Spanien, Tunesien, Kreta, Helgoland oder Troja. Die Bilanz: „Ohnehin ist zu fragen, was damit gewonnen sein soll, jeden entfernt an die Angaben Platons erinnernden Ort als »Atlantis« zu identifizieren. Atlantis ist in diesem Fall nicht viel mehr als eine Chiffre, die jede rätselhafte prähistorische Kultur bezeichnen kann. In diesem Sinne kann die Suche nach Atlantis durchaus auch eine positive Triebkraft wissenschaftlicher Erkenntnis sein, wie die Erforschung der tartessischen Kultur Südspaniens und die Ausgrabungen auf Santorin zeigen. Mit Platon hat das freilich nicht mehr viel zu tun.“
Man kann das Büchlein an einem langen Winternachmittag und -abend durchlesen. Es lohnt sich.
Andreas Hartmann, Atlantis. Wissen, was stimmt. Freiburg u.a., Herder-Tb. 2010, 128 S., Abb., € 8,95.