Vor Weihnachten ein paar Tage in Washington. Hier sind antike Chiffren und Symbole zahlreich zu finden. Die bekannten – das Capitol und der Obelisk des Washington-Memorials (s. Bild unten), die Tempelarchitektur des Lincoln-Memorials und das Jefferson-Memorial müssen hier nicht erwähnt werden. Was ich noch nicht kannte, war eine Sitzstatue George Washingtons im Museum of American History. Geschaffen hat sie der Bildhauer Horatio Greenough (1805-1852) im Auftrag des Kongresses. Greenough hatte die 1841 fertiggestellte Statue der berühmten Zeus-Statue des Phidias in Olympia nachempfunden. Neu war der Gestus des linken Arms: Washington, der General des Unabhängigkeitskrieges und Präsident, gibt mit dem Schwert die Gewalt zurück an die Nation, wie einst der römische Feldherr Cincinnatus, auf den er sich gern berief.
Die Statue sollte in der Rotunde des Capitols stehen, aber die Darstellung als halbnackter Quasi-Gott rief so massive Kritik hervor, daß sie an einem weniger auffälligen Ort, der Smithsonian Institution, Nucleus der großen nationalen Museen in Washington, aufgestellt wurde. Ein Fall also von nicht konsensfähigem Klassizismus.
Vom Niedergang des amerikanischen Buchhandels ist gelegentlich zu hören: Konzentration, Schwund der kleinen Geschäfte, in den großen nur noch Massenware. Das alles mag richtig sein. Aber der Besuch bei Borders Books and Music in der K Street, Ecke 18., ist ein Fest. Ich meine natürlich nicht das große Regal mit Obama-Haßliteratur, das auch in kleineren Buchhandlungen zu finden ist und gut zwei Dutzend Titel umfaßt, die den Präsidenten und die Administration mit absurden Verschwörungstheorien und Behauptungen zu diskreditieren suchen, in einem Ton, der hierzulande einen Sturm der Entrüstung auslösen würde und den Staatsanwalt auf den Plan riefe. Aber die Meinungsfreiheit gilt in den Vereinigten Staaten eben sehr viel, selbst wenn es sich um schmähende Herabsetzung des Staatsoberhauptes handelt. Wie viele Menschen solche Bücher lesen, weiß ich nicht, aber sie liefern das Gift, das dann im Netz und von lokalen Radiomoderatoren verspritzt wird, in Gallonenflaschen. Dagegen erscheinen die präsidialen Memoiren von George W. Bush, die übrigens rasch verpufft sind, und das Bekenntnisbuch von Sarah Palin geradezu gemäßigt.
Mit Fest meine ich die Abteilung Classics und Ancient History, mehrere Regalmeter Bücher, Populäres neben wissenschaftlichen Titeln. Es überrascht nicht, daß ‘The Ancient Near East‘ viel Raum einnimmt. Dann bemerkenswert viele Übersetzungen antiker Autoren, Sammelbände, gelehrte Monographien, Ancient Rome for Dummies, aber auch ein Klassiker wie Gibbons Decline and Fall of the Roman Empire in mehreren Ausgaben, komplett oder abridged. Vieles kenne ich. Aber es gibt auch Glücksfunde unter den Neuerscheinungen. Ins Auge sticht ein massiver Band: The Classical Tradition, herausgegeben von Anthony Grafton, Glenn Most und Salvatore Settis, gebunden, fast 1100 Seiten, drei Tafelblöcke mit 131 Fotos, für unfaßbare 49,95 Dollar (bei amazon aktuell sogar unter 30 Dollar!). Das Buch ist eine echte Enzyklopädie, im Zweispaltendruck und mit einem internationalen Herausgeberkreis, zu dem auch Wilfried Nippel (HU Berlin) gehört. Das Werk bietet einen breiten und verläßlichen Überblick zu allen Dimensionen der Antikerezeption, ohne natürlich einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Mit Recht wird im Vorwort darauf hingewiesen, daß zutreffende und falsche Lesarten der griechischen und römischen Literatur, Philosophie, Kunst, Architektur, Geschichte, Politik, Religion und Wissenschaft wesentlich zur Ausgestaltung des mittelalterlichen und modernen Europa und der davon abgeleiteten Kulturen beigetragen haben und daß sie auch für die Formung der islamischen und jüdischen kulturellen Tradition wichtig waren: „Every domain of post-classical life and thought has been profoundly influenced by ancient models. True, these models have not always been interpreted in ways that a sober modern scholarship would consider correct. On the contrary: it has often been creative misunderstandings that have preserved the ancient heritage and made it useful for later needs. All too often a pedantically restrictive determination of the truth of the matter concerning some nebulous ancient mystery has emptied it not only of its mistakes and distortions, but also of every trace of its once fascinating aura. The history of the reception of classical antiquity, as of any work of the human spirit, must balance, delicately and not unproblematically, between an unwavering commitment to uncovering as far as possible the truth of both ancient and modern cultural formations on the one hand and an undogmatic appreciation of the endless resourcefulness and inventiveness of human error on the other.“
Die knapp 600 klar geschriebenen Artikel sind von den Autoren gezeichnet und mit der wichtigsten Literatur versehen. Man liest sich rasch fest oder schwelgt in den gut ausgewählten Abbildungen der drei Tafeleinschübe. Ein Register führt zu Namen und Begriffen unterhalb der Ebene eigener Lemmata.
Im Artikel ‘Education‘ findet sich eine bemerkenswerte These: „At the university level, Latin is likely to be saved not by forcing many to learn it badly (…), but by having a few learn it well.“ Doch nur eine Doppelstrategie erhält den Pool eines breiten Interesses, aus dem allein eine kritische Masse für die Spezialisierung erwachsen kann: Eine kleine Zahl betreibt gründlich Classics, eine größere Zahl wird durch Übersetzungen und anderen Medien mit der antiken Welt vertraut gemacht. Das scheint in den USA und England Früchte zu tragen, indem die Zahl der Latein- und sogar der Griechischstudenten zuletzt wieder gestiegen ist. „The classics are still regularly brought into discussions of what makes a good humanistic education, and this has led to the bracing efforts to reconcile the traditional elitism of the Latin schools with the egalitarian values of a democratic society. As long as these discussions continue, the classical tradition will retain a place, though undoubtley an attenuated one, in education.“
Erstes und letztes Photo: privat
p.s. Die besten Hamburger in Washington gibt es bei Busboys und Poets, 2021 14. Straße NW, samt angeschlossener linksorientierter Buchhandlung und jeder Menge Atmosphäre.
Die Buchhandlungen zeigen, was...
Die Buchhandlungen zeigen, was sich gerade verkauft in den USA. Gegen Obama gibt es manche Verschwörungstheorie, die größte aller Verschwörungstheorien war jedoch, dass Bush alles falsch gemacht habe und Obama nun den „Change“ bringen würde. In diesem Sinne lohnt es sich darüber nachzudenken, wer noch schlechter informiert ist: Die amerikanischen Obama-Hasser oder die deutsche Öffentlichkeit? Und vor allem: Wer maßt sich an, das zu entscheiden? Warum kommen die Staatsanwälte nicht in deutsche Buchhandlungen und räumen ab? Ach, dort läge eben auch keine Hass-Literatur? Tja, es ist alles eine Frage der Perspektive! Uns in Deutschland täte eine Meinungsfreiheit wie in den USA auch mal ganz gut. Bei uns gibt es zwar auch verschiedene Meinungen – aber immer nur nacheinander: Erst sind alle alternativlos dagegen, dann sind alle alternativlos dafür und preisen ihren kollektiven Meinungsumschwung als weise Tat. In den USA gibt es verschiedene Meinungen auch nebeneinander. Das ist bewunderswert und echt demokratisch. Und am Ende können die Bürger sogar direkt und ungefiltert darüber abstimmen, wer Politiker sein darf.
.
Vielleicht hängt es mit der Antikenrezeption zusammen, die dort in USA völlig direkt als Saat aufgegangen ist? Wer Dan Browns Verlorenes Symbol gelesen hat, weiß, was ich meine. Dem Autor dieses Blogs sei dieses Buch nach seinem Washington-Aufenthalt ebenfalls dringend empfohlen! Jetzt oder nie, Herr Walter, das Abenteuer wartet! Rutschen Sie mit dem Symbolologen Robert Langdon über die Förderbänder der Kongressbibliothek, klettern Sie in die Keller des Kapitols, steigen Sie auf den Obelisken auf Ihrem Foto und entdecken Sie die Geheimkammer! Die Antike wird Sie auf Schritt und Tritt begleiten.
.
Der Buchtipp ist gut, hab’s schon vorgemerkt, danke.