Antike und Abendland

Vater eines Wörterbuchs

Ein Nachtrag zum Eintrag über das Lexikon des frühgriechischen Epos: Heute vor zweihundert Jahren wurde Henry George Liddell geboren, der Begründer des bis heute maßgeblichen griechischen Wörterbuchs, des „Liddell-Scott-Jones“ (LSJ) oder genauer: „Liddell-Scott-Jones-McKenzie“. Die aktuelle Auflage nennt noch weitere Namen: H.G. Liddell and R. Scott, A Greek – English Lexicon, rev. H.S. Jones and R. McKenzie, rev. supplement by P.G.W. Glare with the assistance of A.A. Thompson, Oxford 1996.

Wörterbücher der Alten Sprachen entstanden auf der Basis von tralatizischem Gut, verbanden sich aber immer wieder mit den Namen bedeutender Neubearbeiter; vom „Stowasser“ war hier schon einmal die Rede. Urvater aller griechischen Wörterbücher der Neuzeit ist der Thesaurus Linguae Graecae, den Henricus Stephanus (Henri Étienne) 1572 in Paris veröffentlichte. Das Werk in fünf Foliobänden ordnete das Wortmaterial nicht streng alphabetisch, sondern nach etymologischen Prinzipien. Erst eine von K.B. Hase und den Brüdern W. und L. Dindorf bearbeitete Neuausgabe in neun Foliobänden (1831-1865) führte die alphabetische Anordnung ein. Die verschiedenen Ausgaben des Stephanus und plagiatorische Kurzfassungen davon bildeten die Grundlage für handlichere Lexika. Hier ist zunächst Benjamin Hederich zu nennen – er ist eher als Verfasser eines von Goethe viel benutzten mythologischen Lexikons bekannt -, der 1722 eine Graecum lexicon manuale herausbrachte, dessen zweibändige Neuausgabe (1825/7) bereits der Breslauer Philologe Franz Passow mitbearbeitete. Dieser war auch an einer Bearbeitung des erstmals Ende des 18. Jahrhunderts erschienenen Griechisch-Deutschen Wörterbuchs von Johann Gottlob Schneider beteiligt, das sich seinerseits auf Hederich stützte. 1831 brachte er eine weitere Bearbeitung des griechisch-deutschen Lexikons heraus, nunmehr im eigenen Namen. Zwei Jahre später verstarb er. Die letzte, fünfte Ausgabe des Passow’schen Werkes, unter Leitung von Valentin Christian Friedrich Rost zwischen 1841 und 1857 in vier starken Bänden wiederum in Leipzig erschienen, stellt das bis heute umfangreichste griechisch-deutsche Wörterbuch dar. (Wer es erneuern möchte, bekommt dafür die in Göttingen aufgestellte Bibliothek des Philologen Wilhelm Crönert, dessen Neubearbeitung in drei Lieferungen kurz vor dem Ersten Weltkrieg nur bis zum Wort ana gelangte.)

Liddell und Scott waren gleichaltrige Kommilitonen in Oxford gewesen und hatten seit 1834 auf Anregung des Verlegers und Buchhändlers Talboys an ihrem Projekt gearbeitet. Die erste Auflage des Greek-English-Lexicon von Liddell und Scott erschien 1843 und stellte zunächst weitgehend eine Übersetzung und Bearbeitung des Passow dar. Das Werk umfaßte im Quartformat 1583 Seiten und kostete 42 Schillinge. Die 6000 Exemplare waren rasch verkauft, so daß 1845 eine verbesserte Neuauflage erscheinen konnte. Die Bearbeiter profitierten nunmehr auch von dem eben erscheinenden griechisch-deutschen Wörterbuch von Wilhelm Pape, das „jungen, strebsamen Leuten, Schülern der oberen Gymnasialclassen, Studirenden, Candidaten ein Handbuch, und ausgebildeten Gelehrten ein Hülfsmittel so für den ersten Anlauf“ sein sollte und in den deutschen Ländern den Passow rasch überflügeln sollte. Spätere Auflagen des GEL, wie es auch abgekürzt wurde, verselbständigten sich insgesamt rasch gegenüber den stagnierenden deutschen Vorbildern. Ab der dritten, stark bearbeiteten Auflage ihres Werkes verzichteten Liddell und Scott darauf, Passow auf dem Titelblatt zu nennen.

Als Tutor am Balliol College (1836-1845), Hauskaplan von Prinz Albert (seit 1846) und Dean of Christ Church, Oxford (1856-1891) hatte Liddell Zeit, das Werk weiter zu verbessern und daneben eine zweibändige History of Ancient Rome zu veröffentlichen (1855). In seinen späten Jahren scheint er die griechischen Inschriften lexikographisch ausgewertet zu haben, konnte diese Arbeit aber nicht zu Ende führen. Er starb am 18. Januar 1898, kurz nach Erscheinen der achten Auflage. Indirekt verewigt wurde er auch durch seine Tochter Alice: Lewis Carroll schrieb für sie Alice in Wonderland.

Spätestens seit der neunten, von Henry Stuart Jones redigierten Auflage (1925-1940) ist LSJ das wissenschaftliche maßgebliche Griechischlexikon unserer Zeit; es gibt ein digitale Ausgaben (s. hier) und verkürzte Fassungen für schlichtere Bedürfnisse (s.u.). Zwei Supplemente verzeichnen Neufunde v.a. aus Papyri und Inschriften. Ob das von Francisco Rodriguez Adrados dirigierte neue Diccionario griego-español (seit 1980) eine ähnlich weite Verbreitung finden wird, steht dahin.

 

Der erste Band (A-L) einer amerikanischen Bearbeitung der ersten Ausgabe ist bei Google Books zu finden, ein kompletter Scan der 7. Auflage hier; eine Ausgabe des Abridged LS ebenfalls bei Google Books. Porträts von Liddell und weitere Informationen bietet der englische Wikipedia-Artikel.

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