Vor einiger Zeit stellte die WBG, die nicht mehr „Wissenschaftliche Buchgesellschaft“ genannt werden möchte, eine Neuausgabe von Theodor Mommsens Römischer Geschichte zur Subskription, in zwei Hardcoverbänden auf der Basis der blauen Taschenbuchkassette, die dtv 1976 in acht Bänden und mit einer umfangreichen Einleitung von Karl Christ versehen herausgebracht hatte. Subskriptionen sind im Buchhandel ein altes Geschäftsmodell, das aber nur noch selten gebraucht wird, von der WBG und gelegentlich noch bei Zweitausendeins (zuletzt bei der vollständigen Ausgabe der Tagebücher von Samuel Pepys). Meyers Konversationslexikon definierte vor gut hundert Jahren: „die Verpflichtung durch Namensunterschrift zur Teilnahme an einem Unternehmen oder zur Annahme einer Ware, besonders einer literarischen Arbeit oder eines Kunstwerkes, aber auch zur Übernahme von Aktien oder zur Beteiligung an einer Anleihe (…). Die S. ist ein Kaufvertrag und bewirkt für den Subskribenten rechtliche Verbindlichkeit, wenn auch vom andern Teil alle Versprechungen sowohl hinsichtlich der Zeit der Lieferung als auch der Beschaffenheit des zu liefernden Gegenstandes eingehalten werden. Der Subskriptionspreis ist oft niedriger gestellt als der spätere Kaufpreis. Das Sammeln von Subskribenten durch Buchhandlungsreisende wird nicht als Hausiergewerbe behandelt.“
Das Modell verbindet einige Vorteile. Dem Verlag sichert es einen bestimmten Mindestabsatz, zugleich stellt eine Subskription eine Werbung dar, die das Buch ins Gespräch bringt, bevor es überhaupt in der Welt ist. Außerdem erhält der Subskribent das gute Gefühl, an einer kulturellen Aufgabe beteiligt zu sein: Er kauft nicht einfach ein Produkt, sondern hilft, ein wertvolles Projekt überhaupt erst zu verwirklichen.
Ich war überzeugt, daß aus diesem Projekt nichts werden könnte. Mommsens RG erschien in der dtv-Ausgabe seinerzeit in einer fünfstelligen Auflage; antiquarische Suchmaschinen erlauben es, die ursprünglichen drei (oder mit den „Provinzen von Caesar bis Diocletian“ [1885] vier) Bände gebunden zu fairen Preisen zu erwerben; in elektronischer Form gibt es sie umsonst bei Projekt Gutenberg oder für kleines Geld zusammen mit anderen Werken auf einer CD der Digitalen Bibliothek. Das WWW fördert auch Skurriles zutage, so eine Lesung des kompletten Werkes durch einen Amerikaner, die durch dessen konzentrierte, langsame und monotone Artikulation hervorragend als Einschlafhilfe geeignet ist – was in einem markanten Kontrast zum mitreißenden Text steht.
Doch ich war im Irrtum: In relativ kurzer Zeit war die Mindestzahl an Subskriptionen erfüllt, und die Neuausgabe, versehen mit einem zusätzlichen Essay aus der Feder des besten Mommsen-Kenners unserer Zeit, erreichte die erforderliche Mindestzahl. Das freut den Liebhaber dieses Werkes natürlich, auch wenn die Zweibändigkeit gewöhnungsbedürftig ist.
Bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft standen früher viele Werke zur Subskription, die nie erschienen, doch lag das meines Wissens nicht an zu geringem Interesse, sondern daran, daß das angekündigte Buch nie geschrieben wurde, weil der Autor andere Aufgaben und Pläne vorzog und dann irgendwann wegstarb – legendär ist das über mindestens zwei Jahrzehnte hinweg immer wieder tapfer angekündigte „Mittellateinische Handwörterbuch“ von Karl Langosch. Der Katalogtext lautete stets: „Über den Gang der Verzettelung teilt Prof. Langosch mit: … .“
Der umgekehrte Fall Texte werden geschrieben, aber nicht gedruckt – kommt dagegen im Zeitungswesen gelegentlich vor. So schrieb Alfred Heuß (1909-1995), der zu seiner Zeit beste Mommsen-Kenner, zum 150. Geburtstag des Historikers am 30.11.1967 einen langen Artikel für „Die Zeit“, der aber aus mir unbekannten Gründen seinerzeit nicht erschien. Das kann nun hier nachgeholt werden. Der Text stammt aus dem Nachlaß von Heuß (freundliche Genehmigung von Dr. Annette Fabian, geb. Heuß). Wer dessen Buch Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert (Kiel 1956, Nachdr. Stuttgart 1996) und die zugehörigen Aufsätze kennt, erfährt nichts Neues. Doch erstens kann eines solche Kenntnis nicht allgemein vorausgesetzt werden, und zweitens steht die Heuß’sche Skizze auf ganz und gar eigenen Füßen und kann zugleich als sozusagen doppeltes Porträt Interesse verlangen.
Es folgt der erste, vorwiegend den Gelehrten und Geschichtsschreiber Mommsen betreffende Teil des Artikels. Der zweite Teil wird im nächsten Blog-Eintrag zu finden sein; dort ist dann vom Bürger und politischen Menschen die Rede.
Alfred Heuß
Theodor Mommsen
zur 150. Wiederkehr seines Geburtstages am 30.11.1967
Mommsen dürfte heute zu denjenigen historischen Erscheinungen gehören, deren Namen mehr einen vagen Klang als präzise Vorstellungen hervorruft. Zuviel trennt den Nachfahren der beiden Weltkriege von jener Welt des 19. Jahrhunderts, in der Theodor Mommsen eine beherrschende Figur war, als daß er noch mit ihm als einer selbstverständlichen Größe umgehen könnte. In seinem Todesjahr 1903 war das anders: Da wußte in Berlin, wo er seit bald einem halben Jahrhundert lebte, wer der stadtbekannte, mehr kleine als große, hagere Greis mit den langen weißen Haaren und den scharfen blitzenden Augen war, und für den Gebildeten ganz Europas war der römische Altertumsforscher und berühmte Autor der Römischen Geschichte der geläufigste Begriff von der Welt. An solche leibhaftigen Eindrücke können wir heute nicht mehr anknüpfen. Wir bedürfen der Vermittlung des sachlichen Berichtes und müssen das Rühmen der historischen Wahrheit überlassen.
Man kann die Erscheinung Theodor Mommsens in dreifacher Weise konzipieren. Die drei Aspekte sind Mommsen als Gelehrter, Mommsen als Verfasser der Römischen Geschichte und Mommsen als politisches Phänomen. Was dieses letztere angeht, wurde Mommsen eigentlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckt, auf Grund besonderer Umstände. Vorher, d.h. zu seinen Lebzeiten, und auch noch in der Generation nach seinem Tode, also etwa bis zur Weimarer Republik hin, pries man Mommsen ausschließlich als den Gelehrten und als den Autor der Römischen Geschichte.
Beides ist, das muß man betonen, merkwürdigerweise nicht identisch. Schon für Mommsen selber hat zwischen diesen beiden Manifestationen seines Daseins ein erheblicher Unterschied bestanden. Wenn man ihn gefragt hätte, worin seine Lebensarbeit bestünde, hätte er nie gesagt, daß er ein Historiker gewesen wäre. Er hätte in erster Linie auf die gelehrte Arbeit verwiesen und dies mit einem guten Recht, denn seine monumentale Hinterlassenschaft der ausgesprochenen Gelehrsamkeit erhebt nicht im geringsten den Anspruch, ein Publikum außerhalb der wissenschaftlichen Welt zu finden. Es handelt sich also um Gegenstände esoterischen Charakters, und infolgedessen ist es nicht leicht, mit wenigen Worten dem Laien davon einen Begriff zu vermitteln. Wenn man den Zeitaufwand, den Mommsen jeweils seinen Arbeiten widmete, mit der Elle mißt und danach die Gewichte verteilt, würde das Ergebnis noch eigentümlicher werden. Ausgerechnet diejenigen Gegenstände, die uns heute wahrscheinlich sehr abseitig vorkommen, beanspruchten den größten Teil seiner Lebenskraft. Darunter vor allem die Herausgabe der lateinischen Inschriften.
Dies ist eine Edition unzähliger Urkunden zur römischen Geschichte, ausgestöbert und gefunden im Bereich der gesamten lateinischen Reichshälfte, also in Afrika, in Spanien, Frankreich, in Italien, in Deutschland, in den Balkanländern usw. Die Aufgabe, die Mommsen sich und der Berliner Akademie hier gestellt hatte, war gigantisch und dazu bestimmt, mehrere Generationen auszufüllen. Mommsen brachte es fertig, daß das Werk zu seinen eigenen Lebenszeiten so gut wie vollendet vorlag, in etwa zwanzig bis dreißig großen und dicken Foliobänden, von denen er acht selbst bearbeitet hat. Auch methodisch wurde die lateinischen Inschriften das Vorbild für ähnliche Unternehmungen in der ganzen wissenschaftlichen Welt, und die preußische Akademie erhielt hierdurch den Rang einer der ersten geisteswissenschaftlichen Forschungsstätten Europas. Man kann hieran allerhand mehr oder weniger geistreiche Betrachtungen anknüpfen, positive und in gewissem Sinne auch negative. Mommsen war mit diesen Intentionen seiner Bemühungen ein geradezu hypermoderner Mensch, als Organisator wissenschaftlicher Arbeit, in der Vereinigung zahlreicher Köpfe zu einem bestimmten Vorhaben. Heute würde man ihn als einen Meister des sog. team-works feiern. Das wäre sogar ziemlich lehrreich, denn dabei käme heraus, daß dergleichen ohne überragende Autorität in der Mitte nicht gelingen kann, was man bekanntlich jetzt weniger gerne hört. Mommsen besaß die hierfür notwendige Autorität bzw. gewann sie im Fortgang dieser Arbeiten. Er hatte viele Widerstände am Anfang zu überwinden. Soweit die wissenschaftliche Biographie Mommsens eine Dynamik enthält (sie tut es im allgemeinen wenig, denn Mommsen war eine statische Natur), betrifft sie die Erringung der Position, von der aus Mommsen seine methodischen Grundsätze verwirklichen konnte, ein Vorgang, der etwa anderthalb Jahrzehnte gedauert hat, von seinen Stipendiatenjahren an, die er als junger Doktor in Italien zubrachte, bis zu seiner Berufung an die Berliner Akademie der Wissenschaften 1857/58. Mit dieser Aufgabe wurde Mommsen auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Berliner Professor schlechthin, d.h. das Symbol für die zentrale Stellung, die sich die Berliner Universität und Akademie in der gesamten Welt während dieser Zeit erwarb. Es war die Generation nach ihm, die in Männern wie Harnack, Wilamowitz, Ed. Meyer, Dilthey den Glanz dieser Institution weithin verbreiteten, jeder von ihnen in der Lage, eine eigene Flamme der Wissenschaft zu nähren, aber alle feierten Mommsen als ihren unerreichbaren Meister. Wenn Mommsen im Jahr 1902 den soeben gestifteten Nobelpreis erhielt, dann hatte er das dieser eigentümlichen Konstellation zu verdanken.
Zweifellos handelt es sich um Eindrücke, die heute als vergangen gelten müssen und deshalb der Geschichte angehören. In der Wissenschaft haben sie freilich von ihrer Aktualität wenig eingebüßt, aber die Wissenschaft ist nicht die Welt. Ähnliches wäre von der immensen gelehrten Schriftstellerei Mommsens überhaupt zu sagen. Sie ist, von außen betrachtet, ein beinahe unfaßbares Phänomen. Viel zu schreiben ist gewiß keine Kunst. Aber viel zu schreiben und jedes Wort durch den Atem intensiven Wissens zu beleben, das muß unbestreitbar als etwas Ungewöhnliches betrachtet werden. Mommsen war ein Forscher in dem Sinn, daß er immer unmittelbar am primären Material arbeitete, jedenfalls soweit er einen Gegenstand einer spezifischen Untersuchung für wert hielt. Das Ergebnis sind immerhin zehn stattliche Bände, welche die Regale jeder wissenschaftlichen Bibliothek heute zieren. Seine Werke der wissenschaftlichen Synthese waren besonderer Art. Hier trat Mommsen als Jurist in Erscheinung. Die Rechtswissenschaft war sein Ausgangspunkt gewesen und das Römische Recht diejenige Wissenschaft, die er zunftmäßig in seiner Jugend gelernt hatte. Er hat auch nie aufgehört, sich in diesem Bereich nicht nur heimisch zu fühlen, sondern in ihm seine ursprünglichste Begabung verankert zu sehen. Soweit dieselbe die wissenschaftliche Synthese betraf, hat er möglicherweise gar recht. Es ergeben sich hieraus für die wissenschaftstheoretische Einordnung Mommsens nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Selbst der sog. Fachwelt ist es nicht leicht klar zu machen, was es mit seinem monumentalen fünfbändigen ‘Römischen Staatsrecht‘ und dem ‘Römsichen Strafrecht‘ im Grunde auf sich hat. Noch weniger kann das größere Publikum zu diesen Fragen einen leichten Zutritt gewinnen. Im Grunde bleibt einem nichts anderes übrig, ähnlich wie bei dem übrigen wissenschaftlichen Tätigkeitsfeld Mommsens, die Bedeutung dem Umfang und dem Arbeitsaufwand abzulesen.
Es wäre eine interessante Überlegung, danach zu fragen, ob der eben skizzierte Mommsen ein berühmter Mann, schon zu seiner Zeit und noch heute, geworden wäre. Man könnte gewiß dieses und jenes herbeibringen, es wäre jedoch schwer, wie meistens bei solchen Hypothesen, ein schlüssiges Resultat zu erzielen. Würde man den Tatbestand einfacher formulieren, dann würde er schlicht dahin zu benennen sein, ob Mommsen ohne seine Römische Geschichte, nur auf Grund seiner gigantischen Forschungsarbeit, sich in das allgemeine Bewußtsein eingelassen hätte. Denn diese Römische Geschichte, auf Grund deren Mommsen mit Recht als Historiker gilt, ist in gewissem Sinn in seinem Gesamtwerk ein erratischer Block. Mommsen hat nie beansprucht, als Historiker zu gelten und hatte sogar gewisse Vorbehalte gegenüber der professionell betriebenen Geschichte. Er selber hat sich ihr in dieser Weise gar nicht gewidmet, und als er die Römische Geschichte schrieb, dispensierte er sich mehr oder weniger ausdrücklich von seinem Tageswerk. Es handelt sich bei ihr um einen Verlegerauftrag, einen Auftrag, den er wahrscheinlich, wenn ihn nicht bestimmte äußere Verhältnisse dazu angehalten hätten, gar nicht übernommen haben würde. Er entledigte sich auch dieser Aufgabe, so wie immer, in erstaunlich kurzer Zeit. In ein paar Jahren war die drei großen Bände, die diese Römische Geschichte einfassen, geschrieben. Das ursprünglich ins Auge gefaßte Pensum war damit freilich nicht erledigt. Aber es wurde auch später nicht zu Ende geführt, und das war kein Zufall. Die Römische Geschichte lag eben nicht an dem breiten Weg von Mommsens Lebensarbeit. Man hat dann zu fragen, wie sie denn zu verstehen sei. Ich möchte meinen, sie war für Mommsen ein Experiment, und als eines der bedeutendsten und interessantesten Experimente der großen Historiographie des 19. Jahrhunderts muß sie auch heute noch, wo wir ihre Grundauffassungen wohl allesamt nicht mehr teilen, betrachtet werden. Mommsen hat die moderne Erkenntnis der Römischen Geschichte nicht begründet. Das ist vielmehr das Verdienst des vierzig Jahre älteren B. G. Niebuhr. Niebuhr war eine viel facettenreichere geistige Persönlichkeit als Mommsen, in vielen Dingen ein merkwürdiger und ganz ungewöhnlicher Mann. Er war verhältnismäßig früh gestorben, im Jahr 1831, aber entsandte, ohne eigentlich akademischer Lehrer gewesen zu sein, eine eminente Wirkung. Wer nach ihm römische Geschichte trieb, mußte sich zu seiner Nachfolge bekennen. Auch Mommsen tat das bis zu einem gewissen Grad. Aber Mommsen erkannte die Schwächen Niebuhrs und vor allem seiner Schüler. Er merkte, daß zwischen dem Ideal, das Niebuhr aufgestellt hatte, und der wissenschaftlichen Praxis, wie er sie selbst und seine Schule durchführte, ein ungeheurer Abstand war. Wenn Niebuhr die Forderung aufstellte, die Geschichte so zu verlebendigen, daß man sie mit den Augen eines Zeitgenossen sah, so mochte das für ihn subjektiv wohl gelten. Aber die Buchstaben, die die Welt bei ihm und seinen Schülern las, waren trocken und stumm. Mommsen wollte zeigen, was für einen Menschen der Jahrhundertmitte gegenüber jemanden, der sich gerade dem ancien regime entwandte, wie Niebuhr, jetzt möglich war. Dadurch wurde Mommsens Römische Geschichte faszinierend „modern“ und rief Gegnerschaft und Zustimmung in gleicher Weise auf breiter Front hervor. Das Buch wurde, in der heutigen Sprache gesprochen, zu einem Bestseller. Auch noch am Ende des Jahrhunderts und am Anfang des neuen dürfte es die erfolgreichste historische Darstellung gewesen sein. Und das will etwas heißen auf einem Hintergrund, auf dem Ranke und andere stehen. Natürlich ist das wiederum kein Indiz für den absoluten Wert. Man muß deshalb hinzusetzen, daß er hier, im Gegensatz zu manchen anderen Erfahrungen, sich analog zu dem buchhändlerischen Erfolg verhält, denn Mommsen hat die Römische Geschichte der Republik nicht nur verlebendigt, sondern ihm gelang auch, sie in einer bis dahin nicht erreichbaren Präzision zu erfassen. Der Fachmann ist auch heute noch immer wieder erstaunt, wie zuverlässig Mommsen in jeder Zeile, die er schrieb, gearbeitet hat, auch in der Römischen Geschichte, die in Windeseile entstanden war und an der er späterhin kaum mehr änderte.
Doch ist die Lebendigkeit der Vorstellung nur eine Seite der Römischen Geschichte, diejenige, die auch heute noch zu gelten hat. Eine besondere Rangordnung nimmt die Art seiner Synthese ein. Diese verbindet Mommsen mit der geschichtlichen Logik, wie sie seine Zeit durch Hegel kennenlernte. Mommsen selbst hatte gar kein Verhältnis zur Schulphilosophie und hat bestimmt Hegel auch gar nicht studiert. Aber in seine geistigen Poren drang das Fluidum ein, in das die geschichtliche Welt durch Hegel getaucht worden war. Es ist unbestreitbar, daß damit Möglichkeiten erfahren wurden, von denen man bislang noch keine Ahnung hatte. Es gibt kein Geschichtswerk, in dem man diesen Vorgang so deutlich studieren konnte wie in Mommsens Römischer Geschichte. Damit ist gesagt, daß notwendigerweise hierin auch die Grenzen liegen mußten. Wenn die Geschichtswissenschaft Mommsens Römische Geschichte heute nicht mehr voll und ganz akzeptiert, so liegt das in erster Linie an diesem ihrem Element, welches an sich das wertvollste war, und nicht, wie der Alltagsverstand wohl gerne betont, an der modernen Instrumentierung.
All‘ dies hätte freilich wenig genützt, wenn Mommsen nicht ein begnadeter Schriftsteller gewesen wäre. Das verrät auch jede Zeile seiner wissenschaftlichen Prosa. Aber das Feld der Bewährung konnte für diese Gabe doch erst die historische Darstellung sein. Gerade diese Fähigkeit war Niebuhr völlig abgegangen, und es war deshalb eine eigentümliche Fügung, daß sein Antipode über die Gabe künstlerischer Gestaltungskraft verfügte. Man kann sich auch heute noch beeindrucken lassen durch die Souveränität, welche Mommsen über die Sprache besaß.
Wenn man heute im deutschen Sprachraum nach einer ausführlicheren Geschichte der Römischen Republik gefragt wird, welche sowohl geistiges Niveau hat, auf unmittelbarem Quellenstudium aufgebaut ist und sich nicht langweilig liest, bleibt einem immer noch nichts anderes übrig, als auf die Römische Geschichte Mommsens hinzuweisen. Ich glaube auch nicht, daß sich daran so schnell etwas ändert. Vielleicht steht es mit anderen Werken ähnlich. Geschichtswissenschaft ist heute nicht mehr identisch mit Historiographie, und das merkt man unseren Büchern an. Man muß zu den Werken des 19. Jahrhunderts zurückgreifen, kann sie freilich nicht mehr naiv lesen wie einst, sondern muß auch die Vermittlung der geschichtlichen Ereignisse mit historischer Einstellung verfolgen. Tut man dies bei Mommsens Römischer Geschichte, so bedeutet sie auch heute nicht nur eine legitime, sondern notwendige Lektüre.
(Der abschließende Teil demnächst hier)