Antike und Abendland

Antike und Abendland

Tagesaktualität, wie sie sich mit einem Blog verbindet, und Antike – das scheint nicht zusammenzugehen. Dennoch soll hier der Versuch gewagt

Antiken, von Ergänzungslügen befreit. Zum 100. Todestag des Archäologen Reinhard Kekulé von Stradonitz

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Heute vor hundert Jahren starb der Klassische Archäologe Heinrich Friedrich Reinhard Kekulé von Stradonitz, zweiundsiebzig Jahre alt. Der Sohn eines...

Heute vor hundert Jahren starb der Klassische Archäologe Heinrich Friedrich Reinhard Kekulé von Stradonitz, zweiundsiebzig Jahre alt. Der Sohn eines Hofgerichtsadvokaten in Darmstadt hatte ein altertumswissenschaftliches Studium in Erlangen, Göttingen und Berlin absolviert, arbeitete am Deutschen Archäologischen Institut in Rom und habilitierte sich 1868 in Bonn. Nach einer kurzen Tätigkeit am Museum für Nassauische Altertümer in Wiesbaden wurde er 1870 Professor für Klassische Archäologie an der Universität Bonn. 1889 ging Kekulé als Direktor der Sammlung antiker Skulpturen und Gipsabgüsse an die Königlichen Museen in Berlin. Ab 1896 war er zudem Leiter des Antiquariums und damit der vereinigten Antikensammlung Berlin. Schon 1890 war er zum Professor für Klassische Archäologie an der Berliner Universität ernannt, 1898 in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden. Hier der NDB-Artikel über ihn.

Kekulé publizierte vor allem zur griechischen Plastik (u.a. Die griechische Skulptur, Berlin 1906) und zu antiken Terracotten, deren erstes großes Corpus er in vier Bänden herausgab. Einen wichtigen, bis heute wirkenden Paradigmenwechsel leitete er jedoch als Sammlungsdirektor ein. Eine im Sommer erscheinende Dissertation rückt sein Wirken in ein helles Licht und einen größeren Zusammenhang: Astrid Fendt, Archäologie und Restaurierung. Die Skulpturenergänzungen in der Berliner Antikensammlung des 19. Jahrhunderts (Transformationen der Antike, de Gruyter, Berlin/New York 2011).

Die Könige von Preußen kauften seit Friedrich II. im italienischen Kunsthandel Antiken für ihre Schlösser und privaten Sammlungen auf. Die meist nur bruchstückhaft erhaltenen Stücke waren zuvor von italienischen Bildhauern ergänzt worden, da die Kunden vollständige, ästhetisch ansprechende Figuren erwerben wollten. Diese Ergänzungen basierten auf Quellenstudien und Vergleichsobjekten, erfolgten aber oft genug auch ziemlich freischwebend, dem Zeitgeschmack entsprechend im barocken Stil. Bewegung kam in das ganze System, als sich in Deutschland zunehmend ein klassizistischer Kunstgeschmack durchsetzte und die barocken Restaurierungen und Umgestaltungen in die Kritik gerieten. Der napoleonische Antikenraub blieb in restaurierungstechnischer Hinsicht folgenlos, gab aber Anstöße für die museale Präsentation nach der Rückkehr der Figuren nach Berlin. Den ersten großen Einschnitt stellten die Umrestaurierungen der 1820er Jahre dar, die für die Aufstellung im neuen Königlichen Museum (1830) vorgenommen wurden. Hierfür wurden auch grundlegende Fragen der Anordnung der Stücke – thematisch? ästhetisch? chronologisch? –  aufgeworfen. Auf die Konzeption der Ausstellung wirkten unter anderen Humboldt und Schinkel maßgeblich ein. Die vorgenommen Umrestaurierungen lagen in der Logik der Kritik an den Restauratoren des 18. Jahrhunderts, folgten jedoch zugleich pragmatischen Erwägungen. Gleichzeitig begann mit den ‘Elgin Marbles‘ eine auch für Deutschland später folgenreiche Debatte, ob bestimmte Antiken nicht ganz unverändert, als Fragmente belassen werden sollten. Der Diskurs begann der Praxis zu enteilen, zumal die Neuankäufe auf dem römischen Kunstmarkt in der 1820er Jahren auch einen empfindlichen Mangel an Geld und geeigneten Experten auswiesen. Andererseits verliehen Bildhauer wie Chr. D. Rauch und Chr. F. Tieck den Restaurierungen für die und in den Berliner Sammlungen nunmehr ein einheitlicheres Profil. Erstmals stellte ein Netzwerk von Verbindungen zu anderen Sammlungen die Ergänzungen auf ein breiteres Kenntnisfundament. Diese Ergänzungen waren nunmehr geprägt durch den Willen nach Richtigkeit im inhaltlich-antiquarischen Sinn, Eindeutigkeit der Benennung, formaler Anpassung an den vorhandenen antiken Bestand und stilistische Korrektheit im Sinne einer klassizistisch-überzeitlichen Vorstellung von antiken Formen.

Als eine lange Übergangsphase faßt Fendt die Periode von 1832 bis 1877. In dieser Zeit etablierte sich die Skulpturensammlung in Berlin als öffentliche und wissenschaftliche Institution. Erstmals blieb ein großer Teil der neuerworbenen Antiken nunmehr unverändert. In der Ära der Direktoren E. Gerhard und K. Bötticher zeigte sich ein sehr viel stärker historisches Verständnis: Nicht mehr das prachtvolle Einzelstück römischer Idealplastik zog alle Aufmerksamkeit auf sich, sondern andere Arten von kleinerformatigen Objekten als Überreste antiken Lebens kamen hinzu, und um die Entwicklungen der Form besser verstehbar zu machen, wurden den Originalen verstärkt Gipsabgüsse zur Seite gestellt. Gleichzeitig machte die Berliner Sammlung die Hinwendung zu neuen, durch Großgrabungen erschlossene Räume und Epochen nur verzögert mit, bis dann die Funde aus Pergamon ein freilich markantes zweites Zentrum des Museums bildeten.

Unter Alexander Conze reihten sich die Berliner Sammlung fast ganz in das nunmehr vorherrschende, nach der Reichsgründung auch von der Politik massiv unterstützte neue Paradigma der Klassischen Archäologie ein (Großgrabungen im östlichen Mittelmeerraum, Auswertung aller Funde unter primär historischen Gesichtspunkten). Die antike Plastik „wurde im Zuge der Verwissenschaftlichung der Archäologie zunehmend als Studienobjekt und weniger als ästhetisches Zeugnis der antiken Kunst aufgefasst. Dennoch sollte sie in einem repräsentativen und ansprechenden Zustand, der damaligen kunstästhetischen Empfindungen genügen musste, ausgestellt werden.“ Die Wissenschaft diente somit nicht nur sich selbst, sondern nach wie vor auch breiteren, nach wie vor humanistisch geprägten Öffentlichkeit. Fendt zeigt, wie der Brückenschlag vor allem durch Ergänzungen im Material Gips gesucht wurde. Gleichzeitig wurden unterschiedliche Objektklassen nun sehr unterschiedlich behandelt: Was schon mehr oder weniger stark ergänzt war, blieb so, was neu als Torso oder Fragment hinzukam, wurde nicht mehr ergänzt, sondern nur noch konservatorisch restauriert: „Es wurde nicht mehr nach vollständigen Figuren als allgemeingültigen Repräsentanten eines in sich geschlossenen Antikebildes gefragt, sondern nach vielen, sich in Form, Material und Inhalt ganz unterschiedlich darstellenden Bausteinen, aus denen ein Bild der Antike rekonstruiert werden sollte.“

Ganz im Zeichen von Fragmenten und Entrestaurierungen stand dann die Epoche von 1878 bis 1918. Der materielle Umgang mit der neuen Groß- und Reliefplastik aus den Grabungen zeigt, daß nunmehr Unverletztheit und die Aura des Originals einen sehr hohen Stellenwert erhalten hatten, auch wenn das bedeutete, Torsi und Fragmente ausstellen zu müssen.

Unter dem Direktor Kekulé von Stradonitz wurden auch noch Antiken gekauft, meist Originale aus bislang unterrepräsentierten Epochen und Räumen, aber ganz überwiegend nicht mehr ergänzt. Ältere, nunmehr als minderwertig oder wegen übergroßer Ergänzungen nicht mehr antik zu nennende Objekte wurden abgegeben oder magaziniert, auch um Platz zu machen für Neuerwerbungen und -funde. Doch sollte man in der Verdrängung einst hochgeschätzter Stücke nicht einen Sieg der Wissenschaft über das Publikum sehen, sondern eher einen Beleg für eine von der Wissenschaft beförderte Neuorientierung der interessierten Öffentlichkeit, die natürlich durch die spektakulären Neuzugänge aus Pergamon (weniger aus Olympia) befördert wurde. Anders als in Dresden erfolgte in Berlin auch keine umfassende Entrestaurierung; lediglich als falsch erwiesene Ergänzungen wurden an ausgewählten Stücken entfernt. Fendt zeigt das u.a. am Beispiel der sog. Berliner Aphrodite: Das 1892 erworbene Stück betrachtete Kekulé als „ein überaus köstliches Bruchstück der edelsten attischen Kunst“, in Stil und Qualität gleichauf mit den Elgin Marbles (die nach ihrer Verbringung nach London nicht restauriert oder ergänzt worden waren). Die Restaurierungen im klassizistischen Stil an der Statue verwarf Kekulé freilich als „aufdringlichen Ergänzungen“ und „moderne Entstellungen“. In der die Altertumswissenschaften so tief aufwühlenden Frage des 19. Jahrhunderts – Wie kann die Antike als vorbildliche Epoche zur Menschenformung im Geist des Neuhumanismus gelten, wenn sie zugleich radikal historisiert, ‘auf sich‘ und neben andere Epochen gestellt wird) – suchte er einen Brückenschlag. In seiner Rektoratsrede von 1901 sagte er: „Indem wir historisch verfahren und uns bemühen, jedes einzelne Kunstwerk ohne vorgefaßte ästhetische Meinung aus sich selbst und aus den Bedingungen, unter denen es entstanden ist, zu erklären und zu verstehen, verschließen wir uns mit nichten seiner künstlerischen Wirkung.“

Die Neuaufstellung der Skulpturensammlung 1906/7 ermöglichte eine inhaltliche und ästhetische Revision. Die hier durch Kekulé von Stradonitz durchgesetzten Prinzipien erwiesen sich als beständig und sind – mit vielen Modifikationen – noch heute gültig.

 

R. Kekulé, Über eine weibliche Gewandstatue aus der Werkstatt der Parthenongiebelfiguren, Berlin 1894

Ders., Die Vorstellungen von griechischer Kunst und ihre Wandlung im neunzehnten Jahrhundert. Rede bei Antritt des Rectorats gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität am 15. October 1901, Berlin 1901.


1 Lesermeinung

  1. franket sagt:

    Die Familie hat noch mehr...
    Die Familie hat noch mehr berühmte Leute hervorgebracht, darunter auch einen Chemiker. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, wie Thilo Sarrazin uns erst kürzlich wieder einmal aufzeigte.

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