Der zweite Untergang Pompejis dauert länger als der erste. Aber am Ende wird die Zerstörung durch Regen, Touristen und Ignoranz schwerer sein als die nach jenem 24. August 79, als Auswurf aus dem Vesuv die Stadt meterhoch verschüttete. In Zukunft wird man sich an die Dokumentationen und Rekonstruktionen aus der Zeit der Ausgrabungen halten müssen, um einen Eindruck zu gewinnen, was Pompeji einst war. Hinzu kommen virtuelle Rekonstruktionen.
Das gilt nicht allein für die Wandmalereien in den Wohnhäusern, es gilt auch für die etwa 10.000 Gelegenheitsinschriften, die sich an den Fassaden von privaten und öffentlichen Gebäuden fanden, gemalt (sog. Dipinti) oder geritzt (Graffiti). Eine reiche Auswahl aus diesem Bestand ist gerade in Reclams famoser Universalbibliothek erschienen.
Die aus dem Niederländischen übersetzte Einleitung ist sehr persönlich gehalten; der Herausgeber beschriebt seine Annäherung an das Material, von vorliegenden Anthologien bis zur Epigraphischen Datenbank Clauss/Slaby. Wissenschaftlichen Anforderungen genügt die Präsentation nur bedingt, aber die Ausgabe richtet sich ohnehin an den vielbeschworenen interessierten Laien (und natürlich Reisende). Die Anordnung folgt den dreiziffrigen Fundorten (Stadtvierte I – IX, insulae, Einzelgebäude). Der Leser kann so einen imaginären Stadtrundgang machen und findet benachbarte Inschriften auch beieinander. Leider fehlt ein thematisches Register; das Register der vielen, ganz überwiegend unbekannten Namen nützt wenig.
Aus jedem einzelnen Graffito, so der begeisterte Editor, spreche das pralle römische Leben. „Die Sammlung als Ganzes zeigt unbeabsichtigt eine Art postmodernes Chaos und Verfall. Die meisten Texte sind kurz, und fast bei allen fehlt der Kontext. Meistens haben wir keine Ahnung, wer den Text verfasst hat, es sei denn der Autor hinterließ seinen Namen. Oft ist der Adressat oder der Anlass für die Niederschrift unbekannt, abgesehen davon, dass kaum zu klären sein wird, warum der Text da steht, wo er steht.“
Die Graffiti waren für die Forschung ein wichtiger Baustein, die Häuser, Straßen und öffentlichen Anlagen im Rahmen der städtischen Lebenswelt umfassend interpretieren zu können. So werden Straßen nicht nur nach Führung und Breite und durch den Bezug auf Tore und öffentliche Gebäude – also gleichsam nach dem Grundriß – differenziert, sondern auch durch Graffiti und Hauseingänge, durch Abnutzungsspuren und Sperrung der Straßen, durch die Lage der Geschäfte und Etablissements. Im Neuen Pauly findet sich eine willkommene Karte, aus der die stark frequentierten Straßen nach der Dichte der Graffiti ablesbar sind.
Aber auch wer nur die Graffiti aufmerksam durchliest, kann erstaunliche Entdeckungen machen. So gibt es eine große Menge vollständig, unvollständig oder ungenau zitierter Verse, teilweise von so berühmten Autoren wie Ennius, Lukrez, Vergil und Ovid. Literarische Bildung oder Bruchstücke davon waren also über die Oberschicht hinaus verbreitet. Man kann anhand des Materials aber auch die Preise von männlichen und weiblichen Prostituierten vergleichen. Es läßt sich zudem erkunden, welche Buchstaben des lateinischen Alphabets gelegentlich für Schwierigkeiten sorgten. „Eine kleine Abweichung, ein hübscher Verstoß gegen die klassischen Regeln oder ein ergreifendes Zeugnis der Zuneigung oder der Frustration genügen, um ein auf den ersten Blick unpersönliches Graffito plötzlich zum Leben zu erwecken.“ Sehr hilfreich ist daher das Verzeichnis der vom ‘klassischen‘ Latein abweichenden Formen des gesprochenen Alltagslateins. Gleich die erste Inschrift deutet an, was da möglich war: ΔΙΟΝΥΣΟΣ ΟΠΤΟ ΤΗ – „Dionysos, ich will dich“, drei lateinische Worte in griechischen Buchstaben, der grammatisch korrekte Vokativ bereits durch den Nominativ ersetzt..
Antike und moderne Graffiti haben gemeinsam, daß die Verfasser den eigenen Namen hinterlassen oder den jener Person, die man liebt. Das Vergnügen daran, andere Leute Opfer von Hohn, Spott und Karikatur werden zu lassen, gehört dazu, ebenso sexuelle Kraftmeiereien. Anderes ist der römischen Welt eigen: Angaben über die Preise von Prostituierten und Sklaven, Beschwörungsformeln, die an die Passanten gerichtet sind, oder Warnungen vor betrügerischen Schankwirten. Die auf die Straßen blickenden Fassaden der Stadt scheinen in einem viel stärkeren Maße echte Kommunikationsmittel gewesen zu sein, als es die heutigen mit der Spraydose ‘gestalteten‘ Flächen sind, wo die Graffiti nur in eine Richtung funktionieren.
Weitgehend ausgeklammert sind die – meist gemalten – Wahlslogans. Ein Politiker tritt hier eher als gelangweilte Pennäler hervor: Im Atrium eines Hauses findet sich ein „Am 19. November bin ich zur Sitzung gekommen“, gefolgt von einem verballhornten Vergilzitat, das vielleicht einem übereifrigen Sitzungsleiter galt: CONTICVERE OMNES OMN(ES) INTENTIO V S – „Alle schwiegen. Alle. Aufmerksamkeit“.
Die vielen vulgär-sexuellen Kritzeleien können heute geradliniger als früher in eine angemessene Sprache übertragen werden: IC RVFVM KA(R)UM (…) DOLETE PUELLAE PEDI(CO) CVNNE SUPERBA VA – „Hier ficke ich Rufus, den lieben (…). Seid traurig, Mädchen. Arrogante Fotze, tschüss!“
Auch die Scheidung der Menschen in Freunde und Feinde erlaubte eine grobe Zuspitzung: MALIM ME AMICI FELLENT QVAM INIMICI IRRVMENT – „Besser von Freunden einen geblasen zu kriegen als von Feinden in den Mund gefickt zu werden!“
Auf die Dauer ermüdet die Ansammlung von derlei Obszönitäten. Doch zum Glück gibt es auch subtilere Texte. Nr. 108, am Eingang eines Ladens, spielt mit dem hochpoetischen Motiv des Paraklausithyron, der „Klage des verschmähten Liebhabers vor der verschlossenen Tür der Angebeteten“. Auch das militat omnis amans Ovids war dem Schreiber wohl bekannt, denn er kleidet die Macht der Frau in das Symbol der höchsten militärischen Befehlsgewalt: HIC DVO RIVALES CA(N)VNT: VNA PVELLA TENET FASCES – „Hier singen zwei Konkurrenten, / ein Mädchen hält die Rutenbündel (= hat die Macht).“
Und zum Schluß ein wunderbar ironisch-paradoxes Stück aus den Katakomben des Amphitheaters:
ADMIROR TE PARIES NON CECIDISSE – QVI TOT SCRIPTORVM TAEDIA SVSTINEAS – „Ich staune, Wand, dass du nicht zerfallen bist, / da du soviel Blödsinn von Schreibern ertragen musst!“ Wobei „Blödsinn“ die Bedeutung von taedium nicht recht trifft, meint dieses doch ‘Ekel‘ im Sinne von ‘Überdruß‘, wie bei Terenz Phormio 487 taedet iam audire eadem miliens – „Es nervt, dasselbe tausendmal zu hören!“
Dr. Norbert Gertz, Altphilologe am Ratsgymnasium in Bielefeld, hat jüngst in seinem wunderbaren Rundbrief für Freunde der Antike den ersten Vers zu einem vollständigen Hexameter ergänzt (Admiror te paries <Te> non cecidisse <ruinis>) und übersetzt versgetreu: „Ja, ich bewundre dich, Wand, noch immer nicht bist du zerbröselt, / wo du doch Blödsinn genug von so viel Schreibern hältst aus.“ Der bei Hunink durch eine Abbildung dokumentierte Textbestand gibt die Ergänzung aber nicht her. Vielleicht hat sich dieser Schreiber etwas ungenau an den metrisch korrekten (wenn auch nicht korrekt abgeteilten) Vers an der Nordwand der Basilika erinnert:
ADMIROR PARIENS TE NON CECIDISSE RVINIS (|) QVI TOT / SCRIPTORVM TAEDIA SVSTINEAS (- – – vv – – – vv – vv – – / – – – – – – vv – vv -).
Glücklich ist dieser Ort! 1000 Graffiti aus Pompeji. Lateinisch/deutsch. Ausgewählt, übersetzt und herausgegeben von Vincent Hunink. Mit 131 Abb. und einem Stadtplan. Reclam, Stuttgart 2011, 375 S., kart., € 10,80.
(Abb. o. aus dem besprochenen Buch)