Mit Recht wird in der akademischen Welt über den geldgespeisten Wettbewerb um arbeitsteilige Verbundforschungsprojekten geklagt; diese erzeugen zunächst Anträge, dann Betriebsamkeit, dann hat man (zumindest in den Geisteswissenschaften) Schwierigkeiten, das Geld rechtzeitig und sinnvoll zu verausgaben, dann gibt es Tagungsbände, und am Ende hat vielleicht der eine oder die andere „Principal Investigator“ noch Zeit und innere Sammlung genug, eine Monographie zu schreiben.
Doch es führte – wie schon bei den Pseudo-Doktoren – in die Irre zu meinen, früher sei alles besser gewesen. Auch damals scheiterte ein Projekt gelegentlich, blieb der Einsatz von Geld und Arbeit unbelohnt. Über einen solchen Fall berichtet Hellmut Flashar im Frühjahrsheft der „Zeitschrift für Ideengeschichte“ (Zettel’s Traum. Georg Picht und das Platon-Archiv, ZIG 1/2011, 94-104). Georg Picht (1913-1982), der später (1964) so wirkungsvoll die „deutsche Bildungskatastrophe“ ausrufen sollte, hatte 1946 mit 34 Jahren und ohne jede pädagogische Ausbildung die Leitung der altsprachlichen Internatsschule Birklehof in Hinterzarten übernommen. Wie viele Gleichgesinnte auch hielt der Urenkel des Olympia-Ausgräbers Ernst Curtius nach den Katastrophen von Diktatur, Krieg und Massenmord die Stunde eines neuen Humanismus für gekommen und wollte einen praktischen Beitrag leisten, obwohl er ein eher theoretischer Kopf war. Vor allem war er tief überzeugt „von der platonischen Konzeption des Lehrens und Lernens als eine den ganzen Menschen auch in seinem Ethos betreffenden inneren Aneignung im Unterschied zur sophistischen Auffassung der Wissensübermittlung als eines rein mechanischen Vorgangs“ (Flashar). Das war eine in der Tradition des Neuhumanismus stehende, gewiß nicht-totalitäre, gleichwohl zutiefst antimoderne Lesart Platons. Nach den jüngsten Enthüllungen an der Odenwaldschule mag es naheliegen, diese Variante der Platon-Verehrung ferner zu befragen, ob sie es erleichtert hat, daß einige ihrer Anhänger den verhängnisvollen Schritt von der Päd-agogik zur Pädo-philie vollzogen oder zumindest verteidigten. Doch darum geht es hier nicht. Interessant wäre zweitens, ob sich Picht damals mit Poppers Kritik an Platon als einem Feind der offenen Gesellschaft befaßt hat. Oder warum er in seinem Kollegium am Birklehof ehemalige SS-Männer, Juden und Witwen von Widerstandskämpfern versammelte (H. Schmoll, FAZ v. 6.10.2010). Doch auch das muß hier unerörtert bleiben.
1947 begründete Picht im Birklehof eine Platon-Forschungsstelle. Um eine dauerhafte, von der Schule unabhängige Finanzierung zu gewinnen, wandte er sich an Bruno Snell, der gerade daranging, eine zeitgemäße und umfassende Erschließung des altgriechischen Wortmaterials zu initiieren. Vom „Lexikon des frühgriechischen Epos“, dem wichtigsten Produkt des ganzen Unternehmens, war hier schon ausführlich die Rede. Picht gewann das Projekt eine Platon-Lexikons für sich. Die deutschsprachigen Altertumswissenschaftler waren ihm gewogen, da er 1949 die Gründungsversammlung der Mommsen-Gesellschaft (Verband der Forscher auf dem Gebiet des griechisch-römischen Altertums) in Hinterzarten unter schwierigen Bedingungen eingeladen hatte. Ab 1951 förderte die Deutsche Forschungsgemeinschaft das Platon-Archiv. Flashar liefert ein Stück Prosopographie des deutsch-geistigen Elite-Netzwerks zwischen Weimar und der Bonner Republik: Erster DFG-Präsident war der Jurist Ludwig Kaiser, mit dem Picht später in der Arbeit für die evangelische Kirche verbunden war, erster Generalsekretär Kurt Zierold, der schon in der Weimarer Republik im preußischen Kultusministerium unter Carl H. Becker gearbeitet hatte, dessen Sohn Hellmut Becker seinerseits zu den engsten Vertrauten Pichts (und Carl Friedrich von Weizsäckers) gehörte. Als wissenschaftliche Mitarbeiter – es gab zwei Stellen – wirkten u.a. der Gräzist Wolfgang Kullmann und der Philosoph Klaus Oehler, der sich später bei von Weizsäcker habilitierte, für zwei Jahre auch Flashar selbst.
Picht wollte den gesamten platonischen Wortschatz im Kontext aufbereitet sehen, besonders auch ‘kleine Wörter‘ wie kai (und) oder an (wohl), da sie in den Dialogen wichtige Träger von Stil und Bedeutungen waren. Anschaulich schildert Flashar die lexikographische Prähistorie: „Die Oxforder Platonausgabe von John Burnet lag ungebunden 150fach vor. Dazu gab es für jeden Mitarbeiter eine große Schere und Kleister. In archaischer Vorcomputertechnik wurden die einzelnen Seiten in Perikopen zu je fünf Zeilen so zerschnitten, dass das Lemma immer in der dritten Zeile stand und damit der Kontext erkennbar war. Wegen dieses Schneidevorganges nannten die Schüler die studentischen Hilfskräfte des Archivs Platotome (von temnein, schneiden, UW). Zu den Aufgaben der wissenschaftlichen Mitarbeiter gehörte es, zu überprüfen, ob oben rechts auf der Karte die 1. Person Singular oder der Nominativ (je nach Art des Wortes) durch die Hilfskräfte korrekt markiert war.
In geistesaristokratischer Manier kümmerte sich Picht um die praktische Arbeit nicht, betrat das Platon-Archiv überhaupt nur selten, selbst als dieses ab 1954 im Internatsgebäude untergebracht war. Die vierzehntägigen Sitzungen des Platon-Lesekreises, der aus Picht, den Mitarbeitern des Archivs und den Altphilologen des Internats bestand, hatten offenbar wenig Berührung mit der mechanischen Arbeit mit den Zetteln. Vielmehr interpretierte Picht die gelesenen Passagen ausführlich, auf solider philologischer Basis, wie Flashar betont, und ohne offenkundige Anlehnung an das Platon-Verständnis des Georgekreises.
1958 war die Verzettelung abgeschlossen, ca. 600.000 Karteikarten in etwa 750 Kästen lagen vor, 136.000 Mark waren verausgabt. Doch das Unternehmen war offenbar eng, zu eng an eine bestimmte persönlich-räumliche Konstellation gebunden gewesen. Flashar: „Es war nun ein Einschnitt erreicht, dem der nächste Schritt folgen sollte: die Erstellung des Lexikons. Dazu gab es keinen Plan; Picht hatte nie einen Probeartikel vorgelegt, was die DFG heute sicher einfordern würde. Er war nun schon seit 1956 nicht mehr Direktor des Birklehofs; das Platon-Archiv spielte nach 1958 auch im Bewusstsein der Schule keine Rolle mehr. Picht war inzwischen im Deutschen Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen und entwickelte bildungspolitische Aktivitäten, die mit seinen ursprünglichen Visionen nicht ganz übereinstimmten. Er wirkte in Heidelberg, zunächst als Leiter der «Forschungsstelle der evangelischen Studiengemeinschaft», dann ab 1965 als Professor auf einem neu etablierten Lehrstuhl für Philosophie an der ev.-theologischen Fakultät der Universität Heidelberg. Er blieb aber die ganze Zeit über weitgehend im Altbirkle in Hinterzarten wohnen, also in unmittelbarer Nähe des Platon-Archivs. Mit der Ausarbeitung des Lexikons wollte er aber nichts mehr zu tun haben. Am 4. September 1959 schrieb er an mich: «Stattdessen habe ich jetzt die Absicht, unter Auswertung des Materials selbst ein größeres Buch über Platon zu schreiben». Dazu ist es bekanntlich nicht gekommen.“ Die Karteikästen erfuhren indes durchaus eine sinnvolle Nutzung: Sie dienten der Modelleisenbahn von Pichts Kindern als Substruktionen für die Hügellandschaft.
Ein Plan, das Schiff wieder flottzumachen, scheiterte 1963: Während Flashar das Unternehmen auf ein pragmatisches Maß zurechtstutzen wollte, so daß es möglich erscheinen konnte, binnen fünf Jahren ein Lexikon abzuschließen, dachte Picht an sechs Mitarbeiter und 20 bis 25 Jahre Laufzeit, was im Grunde bedeutete: Sehen wir mal zu, wie lange es dann tatsächlich dauert. 1970 kam das Platon-Archiv nach Tübingen und in die Obhut des Platon-Forschers Konrad Gaiser. Doch mit dem Lexikon wurde aus verschiedenen Gründen nicht begonnen. Und heute? Flashar verweist darauf, daß es heute zwei Stellenindices zu Platon im Internet gibt. Sie leisten nicht dasselbe, was das geplante Lexikon hätte bereitstellen wollen. Gleichwohl ist die Zeit irgendwie über Picht und seine Zettel hinweggegangen: „Ein gedrucktes Platon-Lexikon wird es wohl nicht mehr geben.“
Olof Gigon, Laila Zimmermann, Platon. Lexikon der Namen und Begriff. Zürich/München 1975
Christian Schäfer, Platon-Lexikon. Begriffswörterbuch zu Platon und der platonischen Tradition. Darmstadt 2007.
Vielen Dank für den schönen...
Vielen Dank für den schönen Beitrag, und Grüße aus Bielefeld.
Die Bildungs- und...
Die Bildungs- und Hochschulreformprojekte der 60er Jahren haben im Gedächtnis des konservativen Professorats eine bulldozerbreite Spur von Entsetzen und Erbitterung hinterlassen.
Dabei wurde das meiste davon schon zu Adenauers Zeiten angeschoben, lange, lange bevor 1968/69 die Apokalypse anbrach. Rudi Dutschke kann nichts dafür, dass die Ruhruni so aussieht.
Ich arbeite mich gerade am...
Ich arbeite mich gerade am Konzept „Platonischer Mythos“ ab. Mein elektronischer Zettelkasten wird auch immer größer und größer … ich sehe zwar schon Land, aber bin noch heftig am Rudern … ich wundere mich nicht mehr, warum so viele an diesem Thema gescheitert sind. Es ist ja nicht nur das Sammeln. Man muss das ja alles iterativ zu einem Gesamtbild zusammenpuzzeln.
.
Ein neuerer und offenbar vielgelesener Autor hat sich den Platonischen Mythos um Ur-Athen und Atlantis als Ausgangspunkt (!) seiner Überlegungen zum Thema genommen. Das ist derjenige Platonische Mythos, von dem es im Dialog heißt, dass man Glück habe, da er ganz ein Logos (!) sei, und eben kein Mythos.
.
Ausgerechnet diesen Platonischen Mythos als Aufhänger für die Erklärung der Platonischen Mythen zu nehmen erinnert mich an diese Kinowerbung … wie war das noch? … „bad idea Jeans“ … beep … beep … beep … 🙂